Es war ein seltenes Aufbegehren im Herzen von Wimbledon. Doch als am Dienstag auch noch der Ukrainer Alexander Dolgopolov im Match gegen Roger Federer zum Netz schritt und seine Aufgabe signalisierte, war es um die Contenance der Centre-Court-Zuschauer geschehen. Laute Buh-Rufe gellten über den berühmtesten Tennisplatz der Welt, Pfiffe ertönten, ganz gegen die gewohnte Etikette:
Die Fans fühlten sich am "Tag der Schande" (The Sun) um ihr Geld geprellt, schließlich war zuvor auch schon das Match des dreimaligen Champions Novak Djokovic nicht über die reguläre Distanz gegangen. Auch sein Gegner, der Slowake Martin Klizan, hatte offenbar angeschlagen das Handtuch geworfen. Fürs entgangene Tenniserlebnis bei den teils weitgereisten Fans gab es keinen Ersatz, für Dolgopolov und Klizan und weitere sechs mehr oder minder schwer verletzte Spieler aber den planmäßigen Lohn: 40.000 Euro für die pure Teilnahme an der ersten Runde.
Ab zum Zahlschalter
Es kann tatsächlich so einfach sein, in Wimbledon oder anderswo bei den Grand Slams gutes Geld zu verdienen: Einmal qualifiziert für die Hauptfeld-Konkurrenz, reicht theoretisch ein einziger Ballwechsel aus, um die Erstrundenprämie am Zahlschalter abzuholen. Es hat diese Farce-Matches in der Vergangenheit auch schon gegeben, Matches, die nach drei oder vier Spielen im ersten Satz abgebrochen wurden, weil einer der Spieler verletzt war.
Das Geld gab's dennoch, anders als bei einem Rückzug vor dem Match. Denn dann rückt ein anderer Spieler nach, mit dem Anspruch auf Bezahlung. Bei 40.000 Euro Verdienst etwa in Wimbledon als Hauptfeldstarter muss die Moral oder Kollegialität aber zurückstecken, schließlich ist das in etwa die Summe, die man auch als Halbfinalist bei Turnieren wie unlängst in Stuttgart bekommt.
Gleich acht Herrenprofis zogen in der Auftaktrunde dieser Internationalen Englischen Meisterschaften des Jahres 2017 zurück, es war die Einstellung eines traurigen Rekords. Und es warf ein Schlaglicht auf offensichtliche Missstände im Wanderzirkus: "Aufgabe-Orgie" titelte empört der "Daily Telegraph, von "Betrug am Zuschauer" sprach gar die Webseite des amerikanischen TV-Senders .
"Einige Spieler, die nicht ganz fit oder auch verletzt sind, kommen nur noch mit der Absicht zu einem Grand Slam, um das üppige Preisgeld in der ersten Runde zu kassieren", sagte ein europäischer Turniermanager. Bei manchen Profis sei ihm von vornherein klar gewesen", so befand Beobachter John McEnroe, "dass sie nicht in der Lage waren, ihr Match zu beenden. Das System gibt ihnen auch diesen Anreiz."
Federer fordert Reformen
Konfrontiert mit der vermeintlichen Abkassierer-Mentalität mancher Kollegen, zeigte sich Maestro Federer zunächst diplomatisch: "Viele hoffen ja auf ein Wunder. Dass die Verletzung besser wird, dass Regen kommt und das Match verlegt wird, dass der Gegner vielleicht auch nicht in Form ist", so der Schweizer, "aber es wird doch Zeit für eine Reform."
Er schlug vor, eine neue Regelung bei ATP-Turnieren auch auf Grand-Slam-Niveau einzuführen: Danach erhält ein verletzter Spieler trotz Rückzugs sein Erstrunden-Preisgeld, und der Nachrücker hat die Chance, ab der zweiten Turnierrunde auch zu verdienen. "Das ist fair, vor allem gegenüber den Fans", findet auch Djokovic, "es ist wichtig, dass sie Spiele zu sehen bekommen, die normal enden."
Doch bedenklich ist auch eine andere Lücke in der Tennis-Gesetzgebung: Denn Spieler, die sich im Einzel verletzt aus dem Turnier abmelden, können anschließend ungerührt wieder im Doppel an den Start gehen. Der Spanier Feliciano Lopez und der Serbe Viktor Troicki machten es in Wimbledon mal wieder vor, Lopez gab seine Partie gegen den Franzosen Adrian Mannarino auf und stellte sich dann doch wieder an die Seite seines Doppelpartners Marc Lopez auf den heiligen Rasen.
Das Duo verlor, aber Feliciano Lopez, der 2017er Finalist vom Stuttgarter Weissenhof, nahm noch einmal einen 7.000-Euro-Scheck mit, zusätzlich zu den 40.000 Euro im Einzel. Troicki meldete ebenfalls für Doppel, was noch bizarrer erschien: Im Einzel war er ja nur einen Satz lang unterwegs gewesen, bei der 1:6-Aufgabeniederlage gegen Florian Mayer. "Das darf so einfach nicht erlaubt sein", zürnte da der ehemalige Trainer von Englands Star Tim Henman, David Felgate.