Von Jörg Allmeroth aus London
Seinen gestiegenen Stellenwert in der Grand-Slam-Karawane bekam Alexander Zverev am Samstagabend auch ein wenig schmerzlich zu spüren. Gern hätte sich der Shootingstar der Tenniswelt noch ein paar Szenen seines älteren Bruders Mischa live auf dem Centre Court angesehen, im prickelnden Duell mit Roger Federer, doch die lange Stafetten-Tour im Internationalen Medienzentrum ließ keine Zeit dafür. Wenn das Spiel für Zverev, den Jüngeren, vorbei ist, dann ist sein Arbeitstag noch längst nicht vorbei: Der hochgewachsene Hamburger ist in jeder Beziehung eine gefragte Figur, die nicht mehr zu übersehen ist in der Branche, erst recht nicht seit seinem ersten Achtelfinaleinzug bei einem der Grand-Slam-Turniere. "Es ist ein Meilenstein in meiner noch jungen Karriere", sagte Zverev nach seinem mühelosen Drei-Satz-Sieg gegen den österreichischen Überraschungsmann Sebastian Ofner, "aber es ist nur ein Zwischenziel. Ich will noch mehr erreichen hier." Was schwer genug wird, jetzt gegen den kanadischen Haudrauf Milos Raonic, den Vorjahres-Finalisten. Aber keineswegs unmöglich. "Ich weiß, dass ich meine Chance habe", sagt Zverev.
Tennis ist in den letzten Jahren immer älter geworden. Nie war der Prozentsatz der über 30-jährigen höher als im Hier und Jetzt. Auch alle erfahrenen großen Meister sind nun in Wimbledon noch am Start, wenn das Turnier am "Manic Monday", am verrückten Montag, noch einmal eine Beschleunigung erlebt und so richtig auf Touren kommt. Roger Federer, Novak Djokovic, Rafael Nadal, Andy Murray - sie sind alle mindestens 30 Jahre alt, sie sind die herausragenden Vertreter des Trends zum reifen Erfolgsprofi. Zverev ist der mit deutlichem Abstand Jüngste, der in der Runde der letzten 16 sein Glück versucht, er ist gerade Zwanzig geworden - als Federer 2003 zum ersten Mal Wimbledon gewann, ging er gerade in die Schule. "Dass Sascha sich so früh so stark und nachhaltig durchsetzt, auch immer mehr bei den Grand Slams, zeigt seine Ausnahmequalität", sagt der Australier Pat Cash, der vor 30 Jahren auf den grünen Feldern der Tennisträume in Londons Südwesten triumphierte.
Schon jetzt angekommen
Zverev hat in den vergangenen Monaten einen harten Lernprozess hinter sich gebracht, der nun Früchte trägt: Er hat seine Emotionen viel besser unter Kontrolle, er ist gelassener, ruhiger, selbstsicherer geworden - übrigens nicht nur auf dem Platz, sondern auch bei sonstigen Verpflichtungen als Berufsspieler, etwa im Umgang mit den Medien. Die Zeit der Patzigkeit ist vorbei, er wirkt einfach angekommen in der Erwachsenenwelt des anspruchsvollen Wanderzirkus. Nur noch gelegentlich schimmert auf dem Court seine Heißblütigkeit, der verzehrende Ehrgeiz durch - bei einem schwerwiegenden Fehler muss schon mal der Schläger dran glauben. "Wenn ich meine Gefühle total unterdrücken würde, hätte ich den Eindruck, ich wäre tot im Spiel", sagt Zverev, der in Wimbledon auch die leichte Delle überwunden hat, die der Erstrunden-Knockout bei den French Open verursachte. Damals hatte ihn die Szene schon als Mitfavoriten in Paris gehandelt, weil er gerade zuvor beim Rom-Masters seinen ersten Toptitel gewonnen hatte, noch dazu im Finale gegen Djokovic. An Klarheit hatte er es nach jenem Scheitern im Sand gegen den Spanier Verdasco nicht fehlen lassen: "Ich habe beschissen gespielt", sagte er - und ging.
In Wimbledon gehört er nun zur Gruppe der großen Jungs, die mit mächtigem Spiel aus erhabener Höhe für Power sorgen. Doch Zverev lebt nicht allein von der Dynamik und Kraft, sondern auch von seiner geschmeidigen Technik, vom guten Auge für die Situation, von seiner Intuition. "Er bringt alles mit, was es braucht, um hier erfolgreich zu sein", sagt der Engländer Tim Henman, einst der lokale Held in SW19. Gegen Raonic, den Mann mit dem sanften Heintje-Gesicht und den trommelnden Aufschlägen, steht der Hamburger vor einem wegweisenden Match. Er kann zum ersten Mal aufzeigen, dass er es mit einem der absoluten Wimbledon-Spezialisten aufnehmen kann, mit einem Spieler, dessen roboterhafte und hocheffektive Auftritte viele Kollegen in die Verzweiflung treibt.
Mehr Geduld
"Es geht darum, die wenigen Möglichkeiten entschlossen auszunutzen", sagt Zverev, "man muss Geduld und noch mal Geduld haben." Inzwischen ist er aber soweit, dieses Warten ertragen zu können. Es gehört auch zur DNA derjenigen, die Wimbledon gewonnen haben.
Zverev erlaubt es sich nicht, über den Tag hinauszublicken, über den verrückten Montag mit allen Achtelfinals. Im Idealfall winkte ihm am kommenden Mittwoch ein Rendezvous mit Maestro Roger Federer, der ihn gerade in Halle im Finale schwer abservierte. Federer schlug am Samstag Bruderherz Mischa, es wären viele, viele Rechnungen offen. "Aber es wäre töricht, darüber nachzudenken", sagt Zverev, "ich habe erst mal andere Aufgaben."