In den Tagen von Indian Wells scheint es fast so, als könne Juan Martin del Potro sein Glück selbst kaum fassen. "Es ist einfach toll, dass mein Körper bei fast 100 Prozent ist, frei vom Schmerz", meinte der 29-Jährige: "Ich danke Gott, dass ich wieder Tennis spielen kann. Es ist wie eine zweite Karriere für mich, nachdem ich vor ein paar Jahren fast aufgehört hätte. Ich habe jetzt nichts mehr zu verlieren." Es klang noch ein wenig demütiger als sonst, wenn "Delpo" mit leiser und rauer Stimme spricht.
Der 1,98-m-Hüne ist halt keiner, der große Ansagen macht. Auch nicht in den Stunden des Erfolgs. Und erst recht nicht vor dem Endspiel gegen Grand-Slam-Rekordchampion Federer am Sonntagabend ab 21.00 Uhr MEZ. Nur soviel: "Er ist der Favorit, aber ich habe in der Vergangenheit gute Matches gegen ihn gespielt", betonte del Potro vor dem "Blockbuster" in der kalifornischen Wüste, wie es die erwartungsfrohen Amerikaner formulieren.
Erfolg brachte den "Turm von Tandil ins Wanken"
Eines dieser Duelle mit dem Maestro hat die gesamte Karriere des sensiblen Riesen geprägt wie kein anderes. Im Endspiel der US Open 2009 bezwang er Federer in einem 4:06-stündigen Krimi in fünf Sätzen. Sein erster und bislang einziger Major-Titel veränderte alles. Del Potro kam mit dem Rummel nicht klar, nachdem er in der sportverrückten Heimat zum Volkshelden avancierte.
Der ohnehin introvertierte Rechtshänder zog sich immer mehr zurück, litt an Depressionen. Hinzu kamen die Handgelenk-Operationen - vier Stück zwischen 2010 und 2015. Ein Teufelskreis, der den "Turm von Tandil" heftig ins Wanken brachte. "Ich hatte traurige, dunkle Tage", erzählte del Potro einmal.
Federer schwärmt von "Delpo": "Er ist ein feiner Kerl"
Der ehemalige Weltranglistenvierte rutschte ab und kehrte nach seiner Auszeit als Nummer 1045 (Februar 2016) zurück auf die Tour. Nicht zuletzt die Liebe der Fans wirkte beim Sympathikus, der Argentinien zum Davis-Cup-Triumph 2016 führte, wie Balsam auf offene Wunden. Als "Delpo" das olympische Finale in Rio 2016 gegen den Briten Andy Murray verlor, wurde der Bruce-Springsteen-Fan als Sieger der Herzen gefeiert. Nicht nur wegen seiner Hammervorhand, die ihm den Spitznamen "Thor" einbrachte.
Auch Federer weiß um die spielerischen wie menschlichen Qualitäten des Südamerikaners. "Er ist einfach ein feiner Kerl. Es ist großartig, ihn wieder so spielen zu sehen", schwärmte der Branchenführer von der Nummer acht der Welt. Del Potros Beliebtheit verwundert nicht. Als sein Gegner Nicolas Almagro bei den French Open 2017 verletzt aufgeben musste, setzte er sich neben ihn auf die Bank, legte den Arm um den Spanier und tröstete ihn. Minutenlang. So ist er, der "Delpo".
In Indian Wells schloss sich für den frischgebackenen Acapulco-Gewinner auch ein anderer Kreis. Del Potros klarer 6:2, 6:3-Erfolg im Halbfinale gegen den ehemaligen Wimbledonfinalisten Milos Raonic (Kanada/Nr. 32) war sein insgesamt 400. Einzelsieg auf der ATP-Profitour. Damit ist er nach Guillermo Vilas erst der zweite Argentinier, der diese Schallmauer durchbrechen konnte. Ein neuerlicher Coup gegen Federer am Sonntag in Indian Wells würde aber auch diese magische Zahl in den Hintergrund rücken. Der paradiesische Tennis Garden wäre auf jeden Fall der perfekte Ort für Juan Martin del Potro, um das bislang größte Kapitel seiner zweiten Karriere zu schreiben.