Cyborg Verstappen

Alexander Maack
15. November 201612:24
Max Verstappen versuchte in Interlagos die Silberpfeile zu ärgern, scheiterte und überzeugte dochgetty
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SPOX-Redakteur Alexander Maack bewertet nach jedem Grand Prix die fahrerischen Leistungen der Formel-1-Piloten und stellt sein persönliches Driver-Ranking auf. Teil 17 der Saison 2016: Der Große Preis von Brasilien in Interlagos . Mit dabei: Max Verstappen und Lewis Hamilton auf ungleicher Augenhöhe und Nico Rosberg im Tarnmodus.

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Platz 1, Max Verstappen: Der Red-Bull-Teenie habe die physikalischen Gesetze neu definiert, stellte Mercedes' Motorsportdirektor Toto Wolff fest. Das war eine beinahe zu nüchterne Beschreibung der Leistung. Verstappen fuhr wie ein Cyborg. Statt Auto und Pilot fuhr eine Einheit mit Red-Bull-Sponsoring auf dem Autodromo Jose Carlos Pace, quasi ein Autopilot.

Verstappen experimentierte während der Safety-Car-Phasen mit dem Griplevel. Er probierte Sachen, die sich die anderen Piloten nicht mal unter Rennbedingungen trauten. Und er setzte es um. Den zu vorsichtigen Iceman überrumpelte der Niederländer beim Start. Den Mercedes von Rosberg schnappte sich Verstappen auf der Außenbahn in Turn 3. Dazu die atemberaubende Aufholjagd, nachdem Red Bull mit der Strategie zu risikofreudig war. Mad Max zeigte sich in Galaform!

Die beeindruckendste Szene war allerdings, als Verstappen für einen kurzen Moment die Kontrolle verlor. Im Zielknick ging ihm das Heck weg. Grosjean, Ericsson, Räikkönen, Massa - vier Piloten bauten durch dasselbe Phänomen einen Unfall und beendeten das Rennen notgedrungen. Nicht so Verstappen: Er latschte mit vollem Druck auf die Bremse. Die blockierenden Räder brachten das Auto wieder in die Spur. Intuition, Überholkunst, Schnelligkeit, Fahrzeugbeherrschung - wer bisher am Ausnahmetalent des Niederländers gezweifelt hat, sollte dringend in sich gehen.

Platz 2, Lewis Hamilton: Spielerisch leicht ließ der Weltmeister die Fahrt zu seinem ersten Sieg in Brasilien aussehen. Beim Kampf um die Pole hatte er noch Glück, dass Rosberg seine Runde nicht komplett zusammenbekam. Doch was Hamilton fabrizierte, als das Safety Car das Rennen freigab, zeigte seine Klasse.

Der dreifache Weltmeister bezeichnete seine Sonntagsfahrt als das wohl leichteste Rennen der letzten zehn Jahre. Psychospielchen. Auch Hamilton musste aufpassen nicht abzufliegen. Das machte er, leistete sich keinen kostspieligen Fehler. Als Verstappen seinen Teamkollegen überholte, drehte der Engländer seinen Gashahn auf und brachte sich mit einem Zwischensprint außer Schussweite. Seine Leistung war der Verstappens ebenbürtig und beschert ihm Platz 1 in der Gesamtwertung des Driver-Rankings der Formel-1-Saison 2016.

Platz 3, Nico Hülkenberg: Es nervt! Es ist immer wieder die gleiche, nervtötende Geschichte: Hülk liegt auf Kurs für einen unvorhergesehenen Erfolg, schon schwingt Thor den Hammer und lässt die Erde unter dem Force India des Deutschen kurz erschüttern. So auch in Sao Paulo. Mal wieder. Wie immer.

Hülkenberg hätte endlich den Sprung aufs Podium geschafft, wäre sein Reifen nicht in der ersten Runde nach der Räikkönen-SC-Phase beinahe geplatzt. Der Plattfuß war ihn ans Ende des Feldes zurück. Beim Blick auf Perez wird klar: Ohne den Defekt wäre Hülkenberg Dritter geworden. Bei freier Fahrt war der Deutsche über eine Sekunde schneller als sein mexikanischer Teamkollege.

Ein weiterer Beweis, dass der Wechsel zu Renault nötig ist. Hülkenberg muss endlich sein Pech abschütteln, neue Muster entwickeln. Ein Gardinenwechsel ist die einfachste Möglichkeit.

Platz 4, Carlos Sainz jr.: Dass Toro Rosso durch den Vorjahresantrieb von Ferrari behindert wird, fällt bei Regen nicht ins Gewicht. Plötzlich haben die Piloten wieder die Chance, ihr Talent auszuspielen. Genau das machte der Rallye-Weltmeistersohn. Von Startplatz 15 fuhr Sainz auf Rang 6 nach vorn, weil er den Wechsel auf Intermediates ausließ.

Die Entscheidung muss dem Spanier angerechnet werden. Bei kritischen Bedingungen fragt das Team seine Fahrer, welcher Reifen in der aktuellen Situation der richtige sei. Sainz entschied sich, weiter mit Full Wets zu fahren und sparte so im Gegensatz zu Daniil Kvyat wichtige Zeit. Er schaffte es sogar, mit den Force India mitzuhalten. Die Vorstellung am Sonntag kompensiert die teaminterne Quali-Niederlage am Samstag vollends.

Platz 5, Felipe Nasr: Zwei Punkte für Sauber. Der Lohn für die harte und schwierige Arbeit der Schweizer, die das ganze Jahr über kaum Geld für die Entwicklung ihres Autos hatten. Nasr fuhr sie ein und bewies dabei eine gute Beurteilungsgabe.

Sich mit dem Sauber gegen die Top-Teams in Kämpfe zu begeben, wäre ein aussichtsloses Unterfangen gewesen. Die Piloten ließ der Brasilianer beinahe ohne Verteidigung vorbei. Stattdessen konzentrierte er sich darauf, die Autos hinter sich zu halten, gegen die er eine Chance sah. Fernando Alonso musste sich im McLaren-Honda etwa dauerhaft hinten anstellen.

Nasr half, dass er den Wechsel auf Intermediates ausließ. So wurde er in der ersten Grün-Phase in die Top 10 gespült. Dass er das ganze Rennen über drin blieb, ist seiner kontrollierten, klugen Fahrweise zuzuschreiben. Das hat Punkte verdient.

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Platz 6, Esteban Ocon: Der Franzose sorgte dafür, dass Pascal Wehrlein noch lange an den Brasilien-GP denken wird. Allerdings nicht mit Freude. Der Deutsche verlor nicht nur den Kampf um das Force-India-Cockpit für die Saison 2017, er sah am Sonntag alt aus gegen seinen Manor-Teamkollegen.

Vom letzten Startplatz aus katapultierte Ocons Rennen ohne Boxenstopps den 20-Jährigen in die Top 10, die Reifen wechselte Manor nur während der Rennunterbrechungen. Wehrlein konnte nicht mal durch einen zusätzlichen Reifenwechsel Pace-Vorteile generieren. Ocon war pro Runde mehr als eine Sekunde schneller als der DTM-Champion des Jahres 2015 und verpasste den ersten Punkt seiner Formel-1-Laufbahn nur knapp.

Alonso war zu schnell, Ocon beeindruckte trotzdem. Erfahrung im Regen hatte der Mercedes-Junior in der Formel 1 nicht vorzuweisen. Beim Ausweichmanöver um den entgegen der Fahrtrichtung stehenden Räikkönen zeigte er einen phänomenalen Reflex. Ocons Leistung glich der von Nasr. Nur hatte er den schlechteren Startplatz.

Platz 7, Nico Rosberg: Die Leistung des WM-Führenden in Sao Paulo zu beurteilen, ist schwierig. War Rosberg chancenlos gegen Hamilton? Oder hielt er sich einfach nur zurück, um seine Titelchancen zu wahren? Verschlief er jeden Restart oder ließ er bewusst Abstand?

Rosberg schien am Sonntag nicht auf Angriff gepolt. Er schien sich mit einer Zielankunft zufriedenzugeben. Nicht umsonst ließ er Verstappen kampflos auf der Außenbahn vorbeizischen. Die Zurückhaltung, verständlich. Was wäre passiert, wäre es zu einer Kollision mit Hamilton gekommen, bei der nur der Deutsche ausgefallen wäre? Der dreifache Weltmeister hätte plötzlich alle Trümpfe auf seiner Seite gehabt.

Der gebürtige Wiesbadener tat gut daran, nicht mit der Brechstange die vorzeitige Entscheidung zu erzwingen. Er braucht keinen Sieg mehr. Er fährt einfach kontrolliert ins Ziel. Das ist intelligent. Zumal Rosberg im Trockenen nicht wirklich langsamer war. Hätte er alle Sektorenbestzeiten zusammengefügt, er wäre vor Hamilton auf der Pole gestanden.

Platz 8, Daniel Ricciardo: Dass der Australier an diesem Wochenende gegen Verstappen nicht ankam, ist ihm nicht vorzuwerfen. Sein Teamkollege wäre jedem im Feld wohl davongefahren. Auch der Reifenwechsel bei geschlossener Boxengasse ist Ricciardo nicht anzukreiden. Der Wechsel auf Intermediates? Ein riskanter Versuch, Mercedes auf dem falschen Fuß zu erwischen.

Nein, falsch gemacht hat Ricciardo nichts. Es fehlte nur das letzte Quäntchen. In den letzten Runden wurde der Australier nicht nur von Verstappen überholt, er kam auch nicht hinterher. Während der Niederländer mal eben auf Platz 3 vorsprintete, beendete Ricciardo das Rennen als Achter. Ein durchschnittliches Wochenende. Aber: Ricciardo brachte den Red Bull heil über die Linie.

Platz 9, Fernando Alonso: Kamerakind Fernando zeigte nach dem Jobwechsel am Freitag an den beiden Folgetagen eine gute Leistung. Sein einziger Fehler: der Dreher beim letzten Restart. Alonso lag zuvor an Position 8, er arbeitete sich aber entschieden wieder nach vorn.

Der 10. Platz im Endklassement war eine gute Schadensbegrenzung einer schnellen Fahrt unter schwierigen Bedingungen. Alonso hatte weit weniger Probleme mit dem Auto als Teamkollege Jenson Button. Während der Engländer weder Intermediates noch Full Wets auf Temperatur bekam, fuhr Alonso unbeirrt auf Punktekurs.

Das ist seine größte Stärke: Der zweifache Weltmeister ist nicht abhängig von Eigenschaften des Autos oder den Rahmenbedingungen. Alonso passt seinen Fahrstil instinktiv so an, dass er in jeder Situation perfekte Leistungen abrufen kann.

Platz 10, Sergio Perez: Der Mexikaner wurde für sein Rennen gefeiert, das ihn beinahe zum dritten Mal in dieser Saison aufs Podium gebracht hätte. Er fuhr gut, aber er fuhr nicht sehr gut. Hülkenberg war an diesem Wochenende deutlich schneller. Auch für Perez gilt: Er brachte sein Auto dank kontrollierter Fahrt in einem Stück über die Linie. Das reicht bei diesem Brasilien-GP für einen Punkt, wenn man es fehlerfrei, ohne Dreher und Einschläge, sowie zügig erledigt.

Härtefall, Sebastian Vettel: Der Heppenheimer holte im Verlauf des Rennens auf und brachte am Ende den Ferrari auf dem Rang ins Ziel, von dem er gestartet war: Fünfter. Doch war mehr drin. Vettels Fehler im Qualifying ließen ihn das Duell gegen Kimi Räikkönen verlieren, zudem drehte er sich zu Beginn des Rennens. Hinter Perez hätte der Brasilien-GP für ihn nicht enden dürfen.

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