Die Niederlande haben zum ersten Mal seit 1998 wieder ein WM-Halbfinale erreicht. Oranje besiegte Favorit Brasilien im Viertelfinale mit 2:1 (0:1) und fügte dem fünfmaligen Weltmeister die erste Niederlage bei einem WM-Turnier außerhalb Europas seit 1950 zu, mit Ausnahme der WM 1986, als Brasilien im Elfmeterschießen gegen Frankreich verlor.
Vor 40.186 Zuschauern in Port Elizabeth sorgte Robinho für die Führung der Selecao (10.). Nach einer Flanke von Wesley Sneijder verlängerte Felipe Melo den Ball unglücklich zum 1:1 ins eigene Tor (53.). Sneijder stellte das Spiel mit einem Kopfballtor zum 2:1 vollends auf den Kopf (68.).
Nach dem Rückstand verlor dann auch noch Felipe Melo die Nerven und flog nach einem üblen Tritt gegen Arjen Robben mit Rot vom Platz (73.). Brasiliens Traum vom sechsten WM-Titel ist damit vorbei, Oranje hingegen träumt vom ersten WM-Finale seit 1978.
Die Niederlande müssen im Halbfinale allerdings auf Gregory van der Wiel und Nigel de Jong verzichten, die jeweils die zweite Gelbe Karte sahen. Alle anderen Verwarnungen werden nach dieser Runde gelöscht.
Nachbetrachtung:
So paradox es klingen mag: Oranje muss nach diesem großen Sieg erst beweisen, dass es das Zeug zum Weltmeister hat - das lehrt die Vergangenheit. Auf große Erfolge folgte meist die große Ernüchterung. Bei der EM 2008 deklassierte man Frankreich und Italien, um dann gegen Russland auszuscheiden. Bei der WM 2006 war man mit Argentinien auf Augenhöhe - und schied dann gegen Portugal aus (ebenso wie 2004). Arjen Robben war das direkt nach dem Spiel bereits bewusst: "Wichtig ist jetzt, den Fokus zu behalten. Ziel war nicht nur, das Halbfinale zu erreichen."
Die zwei Sperren dürften Trainer Bert van Marwijk dabei sehr schmerzen. Van der Wiels Ausfall kann durch Khalid Bouhlarouz noch einigermaßen kompensiert werden. Nigel de Jong durch Demy de Zeeuw zu ersetzen, bedeutet jedoch eine deutliche Schwächung der Zentrale. Im Endeffekt weiß auch Oranje nicht so genau, wie man die Selecao in die Knie zwang. 53 Minuten spielte Brasilien wie ein sicherer Halbfinalist - und verlor dann unbegreiflicherweise durch ein dummes Gegentor den Boden unter den Füßen.
Brasilien-Trainer Carlos Dunga verlangte von seinen Spielern stets Systemtreue. Das kühle Ergebnis stand über dem (schönen) Spiel. Gegen die Niederlande verloren seine Akteure aber nach einem unglücklichen Rückstand die Nerven und fanden nicht mehr ins Spiel zurück. Es wird Dungas letzte Partie als Coach der Selecao gewesen sein.
In Dunga und Felipe Melo hat Brasilien die idealen Sündenböcke bereits gefunden. Der eine, weil sein Systemfußball früh scheiterte und sein stromlinienförmiges Team nach dem Rückstand keine Geistesblitze mehr übrig hatte - zumal auch die Bank für keine neuen Impulse sorgen konnte. "Dunga ist mehr ein Feldherr, er sollte von der Nationalmannschaft wegbleiben. Das ist das Mindeste, was die Leute erwarten können", schrieb die Zeitung "O Dia" nur kurz nach dem Abpfiff auf ihrer Internetseite.
Melo hingegen war schon gegen Portugal (Revanchefoul gegen Pepe) negativ aufgefallen und hatte offenbar nicht daraus gelernt. "Er sollte seinen Urlaub besser nicht in Brasilien verbringen", war der passende Kommentar von WM-Legende Ronaldo, den dieser nach Abpfiff über seinen "Twitter"-Account in die Welt setzte.
Reaktionen:
Trainer Bert van Marwijk (Niederlande): "Wir hätten in der ersten Halbzeit 0:3 zurückliegen können. Da hatten wir viel Glück. Nach 20 Minuten haben wir uns gefunden. In der zweiten Halbzeit haben wir dann gezeigt, dass wir mental sehr stark sind. Wir haben die Initiative übernommen. In der ersten Halbzeit waren wir zu vorsichtig. Unsere Mission ist es, Weltmeister zu werden. Das habe ich schon vor zwei Jahren gesagt. Heute Abend wird gefeiert. Ab morgen konzentrieren wir uns dann voll auf das nächste Spiel."
Wesley Sneijder (Niederlande): "Das ist unglaublich. Wir mussten am Ende alles geben. In der zweiten Halbzeit haben wir viel Druck gemacht. Ich habe zweimal getroffen - das ist fantastisch. Beim Kopfballtor stand ich völlig frei. Das war wohl mein erstes Tor mit dem Kopf. Wir stehen unter den letzten Vier. Jetzt müssen wir unsere einzigartige Chance nutzen."
Arjen Robben (Niederlande): "Das war ein schönes Spiel für die Zuschauer. In den ersten 20 Minuten haben wir nicht unseren eigenen Fußball gespielt. Danach waren wir sehr gut und haben verdient gewonnen. Wichtig ist jetzt, den Fokus zu behalten. Ziel war nicht nur, das Halbfinale zu erreichen. Wir müssen das Vertrauen haben, dass wir noch weiter kommen können."
Mark van Bommel (Niederlande): "Das war ein Sieg der Leidenschaft, kein schöner Fußball, sondern harter Kampf. In der ersten Halbzeit waren wir immer einen Schritt zu spät, in der zweiten Hälfte haben wir den Ball laufen lassen. Das 1:1 war ziemlich glücklich, dann haben wir das Spiel kontrolliert. Am Ende waren wir alle nahe am Krampf. Wir haben gekämpft wie die Löwen. Das war ein historisches Viertelfinale."
Carlos Dunga (Trainer Brasilien): "Wir wussten, dass es sehr schwer wird. In der ersten Hälfte haben wir das Spiel gemacht. Im zweiten Durchgang konnten wir das Niveau und die Konzentration nicht halten. Wir haben unser großes Ziel, Weltmeister zu werden, nicht erreicht. Nach den Resultaten der letzten vier Jahre und der Verfassung der Spieler hätten wir mehr erreichen müssen. Ich wusste von Beginn meiner Arbeit an, dass es vier Jahre sein werden."
Julio Cesar (Brasilien): "Keiner hat dieses Ergebnis erwartet. Die Gruppe war voller Selbstvertrauen. Im Fußball passieren solche Dinge. Das ist aber nicht das Ende der Welt. Die Niederlande haben sich den Sieg im zweiten Durchgang verdient. Es bleibt eine große Traurigkeit zurück."
Der SPOX-Spielfilm:
Vor dem Anpfiff: Mathijsen muss bei Oranje kurzfristig nach dem Aufwärmen mit einer Knieverletzung passen, für ihn spielt der 35-jährige Ooijer. Ansonsten keine Änderung im Vergleich zum 2:1 im Achtelfinale gegen die Slowakei.
Bei Brasilien ist Felipe Melo (Sprunggelenk) wieder fit und ersetzt den gelbgesperrten Ramires. Elano fehlt weiter mit einer Schienbeinverletzung.
10., 0:1, Robinho: Felipe Melo schickt den Ball vom Anstoßpunkt einfach zwischen den beiden Innenverteidigern durch. Robinho läuft von links ein und trifft aus 16 Metern direkt. Robben lief als einziger hinterher. Robinhos zweites Tor.
12.: Kuyt schießt von halblinks aufs kurze Eck. Julio Cesar taucht ab und pariert.
25.: Dani Alves narrt Kuyt rechts am Sechzehner, flankt in die Mitte. Juan jagt den Ball mit voller Wucht über den Kasten.
31.: Robinho vernascht de Jong und van der Wiel und bedient Luis Fabiano, der mit der Hacke auf Kaka ablegt. Kaka lässt den Ball zwischen den Füßen tanzen und dreht den Ball dann aus 20 Metern in Richtung rechtes Kreuzeck. Stekelenburg kratzt das Ding mit den Fingernägeln aus dem Winkel. Überragend, von allen Beteiligten.
53., 1:1, Sneijder: Sneijder kloppt eine Flanke aus dem Halbfeld an den Fünfer. Julio Cesar und Felipe Melo rauschen am Fünfer zusammen. Der Keeper fliegt vorbei, über Melos "Scheitel" rutscht der Ball ins Tor.
68., 2:1, Sneijder: Ecke Robben von rechts. Kuyt verlängert, und der winzige Sneijder steht im Fünfer völlig frei und köpft die Kugel links oben rein. Sein drittes Tor.
73., Rot für Felipe Melo: Melo bringt Robben erst zu Fall und steigt ihm dann ganz fies aufs Bein. Glatt Rot.
85.: Kaka hat den Ausgleich auf dem Fuß, wird aber im letzten Moment von Ooijer geblockt.
Fazit: Zwei völlig unterschiedliche Halbzeiten. Brasilien bis zur Pause mit der besten WM-Leistung, fiel nach dem 1:2 dann komplett auseinander. Erinnerte ein wenig an Deutschland gegen Bulgarien bei der WM 1994.
Der Star des Spiels: Wesley Sneijder (SPOX-Note 2). War im ersten Durchgang bei Gilberto Silva und Felipe Melo vollkommen abgemeldet. Einziger Fingerzeig: Ein starker Diagonalball über 60 Meter auf van Persie. Nach der Pause dann wie ausgewechselt: Schlug erst die Flanke, die Melo ins eigene Tor verlängerte und hielt dann bei nur 1,70 m Körpergröße im entscheidenden Moment die Stirn hin.
Auch für die SPOX-User war Wesley Sneijder der "Man of the Match"
Die Gurke des Spiels: Felipe Melo (SPOX-Note 6). Spielerisch war das in der ersten Halbzeit erste Sahne. Melo half immer wieder hinten links gegen Robben aus und hatte den Laden defensiv im Griff, dazu der Zuckerpass zum 1:0. Dann aber fabrizierte er in Koproduktion mit Julio Cesar das 1:1 und verlor nach dem 1:2 im Zweikampf mit Robben schlichtweg die Nerven. Er war damit der entscheidende Mann des Spiels - zum Nachteil der Selecao. Wenig trösten dürfte ihn der Umstand, dass die FIFA ihn als Eigentorschützen aus der Statistik nahm und das 1:1 Sneijder gutschrieb.
Die Pfeife des Spiels: Yuichi Nishimura (Japan). Pfiff anfangs etwas kleinlich und hatte viel Redebedarf. Lag insgesamt aber meistens richtig. Sein Team lag mit der Abseitsentscheidung gegen Dani Alves (8.) ebenso richtig wie bei van der Wiels Schwalbe (47.). Bei de Jongs Grätsche gegen Kaka hätte man Elfmeter geben können (25.). Bei Melos Tritt gegen Robben gab es indes keine zwei Meinungen.
Analyse: Beide Teams begannen ohne großes Abtasten. Brasilien lauerte von der ersten Minute an eiskalt auf Fehler der Niederländer. Den ersten von van der Wiel hätten Dani Alves und Robinho beinahe schon zur Führung genutzt (8.), zwei Minuten später stand es nach dem zweiten Stellungsfehler der Oranje-Abwehr dann schon 1:0.
Die Selecao hatte damit schnell das, was sie haben wollte: Die Niederländer mussten fortan das Spiel machen, Brasilien konnte frühzeitig aus der starken Defensive heraus kontern und hätte im ersten Durchgang durchaus noch weitere Treffer erzielen können.
Der Ausgleich der Niederländer fiel aus dem Nichts und wurde durch Julio Cesars Blackout begünstig. Plötzlich war das Spiel der Selecao wie abgeschnitten. Berauscht vom glücklichen Ausgleich übernahm Oranje die Initiative und suchte immer wieder Robben auf der rechten Seite, den Bastos nicht in den Griff bekam.
Brasilien verlor den Faden, Juan gab leichtfertig einen Eckball her - daraus resultierte das 2:1, das den Spielverlauf auf den Kopf stellte. Statt sich danach wieder auf die eigenen Stärken zu besinnen, verlor Brasilien (in Person von Felipe Melo) endgültig den Kopf und rannte blindwütig ins WM-Aus. Am Ende siegte nicht die bessere, sondern die cleverere Mannschaft.
Niederlande - Brasilien: Fakten zum Spiel