"Die jungen Torhüter sind mutiger"

Stefan Rommel
12. Juli 201114:51
Andreas Köpke ist seit 2004 Torwarttrainer bei der deutschen NationalmannschaftGetty
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Seit 2004 ist Andreas Köpke Torwarttrainer der deutschen Nationalmannschaft. Im Interview mit SPOX sprach er über die Entwicklungen des modernen Torwartspiels, Manuel Neuers Wechsel zum FC Bayern und die aufstrebende Garde junger, deutscher Torhüter.

SPOX: Herr Köpke, auf dem Internationalen Torwart Kongress in Köln werden Neuigkeiten und Entwicklungen im Torhüterwesen besprochen und diskutiert. Ist der Begriff des Torwarts oder Torhüters überhaupt noch zulässig oder müsste man nicht schon eher...

Andreas Köpke: Sagen Sie jetzt nicht Torspieler!

SPOX: Hatte ich eigentlich vor. Also: ...vom Torspieler sprechen.

Köpke: Eigentlich kann ich das nicht mehr hören. Dann müsste man schon einen völlig neuen Begriff kreieren. Aber wer will das denn? Der Torhüter ist immer noch der Torhüter. Dessen Spielweise hat sich grundlegend verändert, die Anforderungen sind in den letzten zehn, 15 Jahren komplexer geworden. Das hat sich geändert - und dementsprechend natürlich auch das Torwarttraining, das den Erfordernissen entsprechend komplexer durchgeführt werden muss.

SPOX: Wie viele Verhaltensabläufe oder Automatismen kann man einstudieren - und wie weit verlässt sich der Torhüter immer noch auf seinen Instinkt und sein Gefühl?

Köpke: Man kann im Training viele Dinge simulieren, die sich dann aber im Spiel doch in Nuancen wieder unterscheiden. Hier bedarf es einer gewissen Erfahrung. Ein sehr wichtiger Bestandteil für uns ist die Videoanalyse. Durch das Visualisieren der Dinge lernt man ungemein viel.

SPOX: Zumeist werden da aber nur Fehler analysiert.

Köpke: Man nimmt die Dinge im Spiel bisweilen anders wahr. Dann denkt man: 'Ich stand da doch richtig.' Diese Meinung revidiert man später nach dem Studium der Aufzeichnungen sehr oft.

SPOX: Wie läuft so eine Videoanalyse ab?

Köpke: Wir lassen uns alle Gegentore unserer DFB-Torhüter zusammenschneiden und bestimmte Szenen, die wir anhand der angefertigten Torwartprofile unserer Spieler auswählen. Die Szenen - nicht nur die Gegentore - werden dann im Einzelgespräch mit dem jeweiligen Torhüter diskutiert. Das dauert rund zehn bis 15 Minuten, je nach Diskussionsgrundlage. Es geht dabei nicht darum, nur zu kritisieren. Das Hauptziel ist die Optimierung von Verhaltensweisen im Spiel.

SPOX: Zumeist negativer Verhaltensweisen...

Köpke: Wenn wir beobachten, dass sich gewisse Dinge einschleifen, dann sprechen wir den Spieler darauf an. Wir haben unsere Vorgaben. Und wenn mir Dinge auffallen, spreche ich diese auch an.

SPOX: Manchmal fordert der jeweilige Klubtrainer ziemlich andere Dinge von seinen Spielern, als sie in der Nationalmannschaft gefordert sind. Ist das immer noch ein Problem?

Köpke: Die Hauptarbeit liegt bei den Vereinen. Deshalb muss man auch den Kontakt zu den Torwarttrainern in der Liga halten. Wir haben eben bestimmte Dinge, die wichtig sind für unser Spiel und deshalb auch eingefordert werden. Aber die Zusammenarbeit mit der Liga läuft wirklich gut.

SPOX: Welche ist denn nun die beste Position für einen Torhüter, wenn sich das Spielgeschehen in der gegnerischen Hälfte abspielt und die eigene Mannschaft hoch aufrückt?

Köpke: Schauen Sie sich die Laufleistung eines Torhüters heute an. Zu meiner Zeit waren das zwei, vielleicht drei Kilometer pro Spiel. Wir haben einfach hinten gewartet. Heute legt ein Torhüter fünf bis sechs Kilometer pro Spiel zurück, weil er ständig in Bewegung ist, Sidesteps macht, nach vorne mitgeht, wenn die eigene Mannschaft angreift und sich wieder fallen lässt bei Ballverlust. Die eine ideale Position gibt es nicht. Aber 16 Meter oder ein bisschen mehr vor dem eigenen Tor bei eigenem Ballbesitz in der gegnerischen Hälfte sind normal.

SPOX: Der Torhüter bleibt wie ein Linienrichter immer auf Ballhöhe - sowohl vertikal als auch horizontal?

Köpke: So in etwa. Der Torhüter macht die Bewegung des Balles mit. Egal, wo der sich gerade befindet. Hier kommt es auf eine gute Beinarbeit an. Weil man als Torhüter nie abschalten darf.

SPOX: Jeder Torhüter hat eine angeborene Angst, sein Tor zu verlassen - schließlich soll er es ja bewachen. Sind gerade die vielen nachrückenden jungen Torhüter in der Bundesliga in dieser Disziplin weniger ängstlich, weil sie in ihrer Ausbildung geradezu dazu ermutigt wurden?

Köpke: Die jungen Torhüter trauen sich das eher zu, sie sind mutiger. Es reicht nicht mehr, nur den Fünfmeterraum zu beherrschen. Am besten hat man heute den gesamten Sechzehnmeterraum im Griff. Besonders auf den psychologischen Aspekt wird da in der Ausbildung wert gelegt. Die stehen mit einer Sicherheit da hinten drin, die einen staunen lässt. Natürlich gab es auch in der letzten Saison immer mal wieder Szenen, da sagt man: 'Den hätte er halten können' oder 'Da muss er raus'. Aber so richtig gravierende, krasse Sachen sind bei den Jungen nicht dabei gewesen. Zumindest nicht mehr als bei anderen Torhütern.

SPOX: Wer ist der größte Feind des Torhüters?

Köpke: Der Ball.

SPOX: Das macht Sinn. Aber sind die immer schneller agierenden Angreifer oder der immense Druck nicht auch eine immerwährende Gefahr?

Köpke: Das ist nichts im Vergleich zur Beschaffenheit der Bälle. Diese Flatterdinger... Spieler wie Bastian Schweinsteiger trainieren das immer: Den Ball beim Schuss abrutschen lassen, damit er noch mehr flattert in der Luft. Wenn ein knallharter Schuss kommt und ein Torwart den relativ locker festhält, ist das heutzutage schon fast etwas Besonderes. Alle anderen Bälle sind unheimlich schwer zu kontrollieren. Deshalb sage ich immer: 'Man kann nicht jeden Ball festhalten. Also wehr' ihn zur Seite ab - und bloß nicht nach vorne!' Das üben wir speziell auch im Training. Nach drei Wochen Training weiß der Spieler, wie er sich mit dem Ball arrangieren muss. Und wenn dann mal ein bisschen gejammert wird, weil der Torhüter einen Ball nicht festgehalten hat: Damit muss man leben.

Seite 2: Andreas Köpke über die junge Garde der deutschen Torhüter

SPOX: Sind die schönsten Paraden die, die der Zuschauer gar nicht erkennt? Wenn ein Torhüter dem Gegner zum Beispiel durch geschicktes Stellungsspiel den gefährlichen Pass in die Tiefe nicht erlaubt?

Köpke: Es gab letzte Saison eine tolle Szene von Manuel Neuer im Spiel bei Borussia Dortmund: Der BVB hatte Einwurf, der Ball fliegt am Sechzehnereck in den Strafraum. Der Stürmer stand mit dem Rücken zum Tor und wollte den Ball stoppen. Aber Manuel ist vorher schon losgelaufen, fing den Ball ab und leitet mit einem seiner weiten Abwürfe sofort den Konter ein. Er hat in der Szene hervorragend antizipiert und auch ein bisschen spekuliert. So etwas fällt nicht vielen auf, die meisten erkennen die Szene nicht - ich fand sie überragend. Eine super Szene.

SPOX: Aber auch gefährlich, weil er spekulieren musste.

Köpke: Das ist sein Spiel, das natürlich auch Risiken birgt. Wenn man zehn Mal so einen Ball abfängt und beim elften Mal zu spät kommt, dann ist es so, dann muss man damit auch leben.

SPOX: Bleiben die gezielten, weiten Abwürfe von Manuel Neuer eine Art Alleinstellungsmerkmal?

Köpke: Es gibt auch andere Torhüter, die das versuchen und die nicht viel kürzer werfen als er. Das muss natürlich auch mit der Spielausrichtung zusammenpassen. Vor der Zeit von Felix Magath auf Schalke waren diese weiten Abwürfe von Manuel noch viel häufiger zu sehen, weil Schalke so spielen wollte. Dabei sind die Präzision und der Zug, mit dem der Ball geworfen wird, beeindruckend. Die Bälle fliegen dem Stürmer nicht im hohen Bogen zu, sondern beschreiben eine relativ flache Flugbahn. So lässt sich das Zuspiel leichter verarbeiten. Diese Abwürfe sind Manuels Markenzeichen.

SPOX: Wird das vermehrt auch eins von vielen Stilmitteln im Nationalteam sein?

Köpke: Wir versuchen ja schon schnellstmöglich umzuschalten um möglichst die entstandenen Freiräume zu nutzen. Der weite Abwurf wird ab und an praktiziert. Aber man muss da schon auch dosiert mit arbeiten. Nur weit abzuwerfen, weil es die Zuschauer gerne sehen, bringt auch nichts. Und man muss vorher ja auch erstmal den geeigneten Empfänger finden, der so in den Raum startet, dass sich daraus ein erfolgreicher Angriff entwickeln kann.

SPOX: Stellen Sie die Nationaltorhüter beim Spielaufbau auch ganz speziell auf die Grundformation und Spielausrichtung des Gegners ein?

Köpke: Wir richten uns da nach Stärke-und-Schwächen-Analysen über den jeweiligen Gegner. Zu viel Risiko bringt nichts. Es ist immer situationsbedingt, der Torwart muss selbst erkennen und abschätzen, wann die Möglichkeit gegeben ist, auch mal einen Pass ins Mittelfeld zu spielen, ohne ein zu hohes Risiko einzugehen. Wenn der Gegner auch den Torwart früh unter Druck setzt, ist es natürlich schwieriger einen gezielten Pass zu spielen.

SPOX: Der enorme Fundus an jungen deutschen Torhütern ist für Sie als Bundestorwarttrainer sicherlich eine schöne Sache. Vielleicht aber auch ein komisches Gefühl, weil Sie genau wissen, dass nur drei nominiert werden dürfen und der eine oder andere Spitzentorhüter vielleicht nie den Weg ins Nationalteam finden wird?

Köpke: Im Moment gibt es überhaupt keinen Grund, an unseren drei Torhütern zu zweifeln oder etwas zu verändern. Wir sind mit ihnen sehr zufrieden. Das ist ein Fakt. Sie sind auch noch jung, im besten Alter. Deshalb gibt es keine Gedankenspiele in eine andere Richtung. Aber: Es kann schnell viel passieren und deshalb müssen wir auch gewappnet sein.

SPOX: Das heißt?

Köpke: Unsere Torhüter habe ich schon oft genug gesehen. Deshalb werde ich in der kommenden Saison verstärkt die Spieler beobachten, die für den Fall der Fälle geeignet wären.

SPOX: Welchen Torhüter haben Sie da speziell im Blick?

Köpke: Es sind die, die jetzt schon eine tolle Saison gespielt haben. Oliver Baumann, Kevin Trapp, Marc-Andre ter Stegen, der nach ein paar Spielen schon die Relegation gemeistert hat. Mehr Druck kann man nicht haben! Auch Ron-Robert Zieler, der die komplette Rückrunde gespielt hat. Man muss aber auch sehen, dass alle diese Spieler erst sehr wenige Bundesligaeinsätze hinter sich haben. Deshalb tue ich mich immer schwer damit, sie sofort mit der Nationalmannschaft in Verbindung zu bringen. Damit tut man den Spielern auch keinen Gefallen. Denn hoch kommt man durch gewisse Umstände oft sehr schnell, aber diese Leistungen müssen auf diesem hohen Niveau auch konstant abgerufen werden. Insgesamt haben wir - sehr traditionell in Deutschland - auf der Position keine Probleme.

SPOX: Welche Erwartungen haben Sie an Manuel Neuer bei den Bayern?

Köpke: Für uns hat sich ja nichts geändert durch den Wechsel.

SPOX: Für den Spieler schon.

Köpke: Ein neuer, größerer Verein, mehr Aufmerksamkeit. Aber Manuel geht mit diesen Dingen souverän um. Auch mit der Plakat-Aktion. Er steckt das alles so souverän weg. Vielleicht bringt ihn die Zeit bei den Bayern noch ein bisschen weiter nach vorne. Aber er wird seinen Weg so oder so weitergehen, dafür ist er zu ehrgeizig. Er will Titel gewinnen, das treibt ihn an. Uns kann das nur zugute kommen.

Das DFB-Team in der EM-Qualifikation