Durch die beiden Unentschieden in Hannover und Berlin ist Bayer Leverkusen zuletzt etwas außer Tritt geraten, was allerdings nicht darüber hinweg täuscht, dass das Team von Trainer Jupp Heynckes bislang eine richtig starke Saison gespielt. Nicht umsonst ist Bayer noch das einzig ungeschlagene Team der Liga.
SPOX erklärt, warum Bayer die beste Abwehr der Liga hat, wie die Heynckes-Elf gegen den Ball arbeitet, wie das Offensivspiel funktioniert und was Leverkusen anders macht als andere Teams.
Mannschaftstaktisches Verhalten
Zu Saisonbeginn agierte Bayer im Mittelfeld mit einer Raute, schnell stellte Jupp Heynckes allerdings auf die Doppelsechs um, heißt: Zwei defensive Mittelfeldspieler werden von zwei etwas offensiveren Außen flankiert.
Bei Ballbesitz des Gegners lassen sich diese beiden Akteure allerdings auf eine Linie mit den beiden Sechsern zurückfallen, so dass neben der Abwehrreihe eine zweite Viererkette entsteht - die bisweilen sogar noch von einem der beiden Stürmer unterstützt wird (Bild 1).
Im Spiel ohne Ball gibt es eine klare Maxime: Es wird extrem ballorientiert verteidigt und weniger in Räumen oder Zonen. Darin unterscheidet sich die Bayer-Taktik beispielsweise signifikant vom Auftreten des FC Bayern, der - typisch niederländisch - versucht, möglichst alle Bereiche des Platzes zu jeder Zeit zu kontrollieren.
Bayer hingegen orientiert sich dorthin, wo der Ball ist - und zwar mit der ganzen Mannschaft. Kommt der Gegner beispielsweise über den linken Flügel, verschiebt das komplette Team in diese Richtung (Bild 2 bis 5).
Die ballferne Seite wird mehr oder weniger komplett vernachlässigt, weil dort für den Moment keine unmittelbare Gefahr fürs eigene Tor besteht und die Wahrscheinlichkeit des Ballgewinns erhöht wird, je mehr eigene Akteure das Offensivspiel des Gegners stören.
Die Abstände zwischen den einzelnen Spielern bleiben während des Verschiebens gleich. Erst wenn Zugriff auf den ballführenden Spieler besteht, er also attackiert werden kann, ändern sich diese Abstände.
Ständigen Zugriff durch Raumverknappung
Das Netzwerk zieht sich dann zusammen, wird noch engmaschiger, teilweise jagen zwei, drei eigene Spieler den Gegner, der den Ball führt. Gleichzeitig rutscht die Viererkette im Block nach vorne Richtung Mittelfeld.
Durch diese Raumverknappung in Ballnähe und den ständigen Zugriff auf den ballführenden Mann hat dieser kaum Zeit und Raum für eine entscheidende Aktion, schon gar nicht für den finalen Pass in die Tiefe (Bild 8 bis 10).
Die Folge: Der direkte Ballverlust oder ein riskantes Abspiel, das nicht selten im schnellen Ballgewinn für Bayer endet - weit weg vom Leverkusener Tor.
Teil 2: Das Verhalten der Viererkette
Das Verhalten der Viererkette
Keine Frage, durch die Verpflichtung von Sami Hyypiä hat Bayer unheimlich an Qualität in der Defensive dazu gewonnen. Der Finne ist der unumstrittene Abwehrchef und verhalf zudem Nebenmann Manuel Friedrich zu einer deutlichen Leistungssteigerung. Die Außenbahnen sind in der Regel mit spielstarken Leuten (Castro, Schwaab, Kadlec) besetzt, die aufgrund ihrer Fähigkeiten auch in der Lage sind, das Spiel zu eröffnen.
Was auffällt bei Bayer: Die Viererkette agiert bei gegnerischem Ballbesitz in Leverkusens Hälfte extrem auf einer Linie (Bild 1 bis 4), was bei der mangelnden Schnelligkeit von Hyypiä und Friedrich eigentlich verwundert.
Automatismen müssen greifen
Weil Bayer im Mittelfeld allerdings aggressiv gegen den Ball verteidigt, muss die Viererkette den Raum zwischen Abwehr und Mittelfeld stets klein halten. Folglich rücken beide Innenverteidiger nach vorne, die Außen schieben hinterher.
Würden Hyypiä und Friedrich nun tiefer stehen, ergäbe sich häufig ein Loch hinter der eigenen Doppelsechs - und das direkt in der gefährlichsten Zone zentral vor dem eigenen Tor. Dieser Spielweise liegen allerdings in sich greifende Automatismen zugrunde. Gerade wenn, wie zuletzt in Hannover (Sinkiewicz) und Berlin (Reinartz), Spieler in der Viererkette ran müssen, die die Abläufe noch nicht vollkommen verinnerlicht haben, kann es Probleme geben.
Nur in zwei Fällen brechen Hyypiä und/oder Friedrich die Linie auf: Wenn im Mittelfeld kein unmittelbarer Zugriff auf den ballführenden Spieler besteht, und wenn einer der beiden Innenverteidiger in den Bodenzweikampf bzw. ein Kopfballduell muss. Dann setzt sich der jeweils andere, meist ist das Hyypiä, ein Stück nach hinten ab, um einige Meter Puffer zu haben.
Den Bereich zentral vor dem eigenen Tor schützt Bayer extrem. Denn die Viererreihe achtet nicht nur darauf, auf einer Linie zu verteidigen, sondern auch darauf, den Abstand zwischen den einzelnen Gliedern der Kette so gering wie möglich zu halten. Häufig stehen Schwaab, Friedrich, Hyypiä und Castro im Zentrum nur zwei, drei Meter auseinander (Bild 5 bis 8).
Der Grund: Man achtet darauf, von innen nach außen verteidigen zu können. Für den Gegner ist dadurch der Pass in die Tiefe und in eine Schnittstelle der Viererkette schier unmöglich. Der Ball wandert deshalb meist nach außen. Dorthin, wo aus Bayer Sicht die wenigste Gefahr fürs eigene Tor besteht.
Die Spieleröffnung
Leverkusen hat sehr viele technisch begabte Akteure, das Bayer-Spiel ist dennoch nicht zwingend auf lange Ballbesitzzeiten ausgerichtet. Nach maximal drei, vier Querpässen in der Abwehr wandert der Ball nach vorne.
Meist eröffnet Hyypiä das Spiel, hin und wieder auch ein Außenverteidiger, so gut wie nie dagegen übernimmt der zweite Innenverteidiger diese Aufgabe. Auch der lange Ball ist dabei nicht verpönt. Zum einen, weil das eigene Tor dadurch in Bedrängnis am einfachsten und schnellsten gesichert wird.
Zum anderen, weil Bayer nach dem langen Pass durchs Zentrum aggressiv auf den zweiten Ball geht und bei Balleroberung schon in einem Bereich ist, wo man vor allem gegen starke Gegner sonst nur sehr schwer und mit viel Aufwand und Risiko hinkommen würde. Beim Auswärtsspiel in München griff Bayer daher vor allem in Halbzeit zwei immer wieder auf den langen Ball zurück.
Häufig streut Hyypiä allerdings auch einen Diagonalpass auf einen der beiden offensiven Außenbahnspieler ein. Er macht das Feld dadurch mit einer Aktion groß, für den Gegner schwer kontrollierbar und bringt die Außen so in Eins-gegen-Eins-Situationen (Bild 3 bis 5). Eine perfekte Konstellation, wenn man derart starke Dribbler wie Barnetta, Renato Augusto und Kroos auf diesen Positionen hat.
Doch die Heynckes-Elf kann es nicht nur hoch und weit. Gerne sucht Bayer mit einem flachen, druckvollen Pass einen der beiden Stürmer, der den Ball dann behaupten soll, bis weitere Spieler mit Tempo nachrücken. Häufig treibt Kießling den Ball zurück in die eigene Hälfte und zieht so einen Innenverteidiger aus der Viererkette, wodurch sich eine Lücke für einen nachstoßenden Bayern-Spieler ergibt.
Eine ebenfalls beliebte Variante im Spielaufbau: Einer der beiden Mittelfeldaußen rückt von der Außenbahn ins Zentrum ein, bietet sich als zentrale Anspielstation an und öffnet gleichzeitig die Tür für den Außenverteidiger, der von hinten anläuft (Bild 6 bis 8).
Teil 4: Das Verhalten der Stürmer
Das Verhalten der Stürmer
Der eigentliche Torjäger, Patrick Helmes, fiel fast die komplette Vorrunde aus - und dennoch hat Bayer den treffsichersten Stürmer der Liga in seinen Reihen. Stefan Kießling war bereits zwölf Mal erfolgreich und damit schon jetzt so oft, wie in der vergangenen Saison in 34 Partien.
Durch Nebenmann Eren Derdiyok hat sich Kießlings Aufgabengebiet geändert. Der Schweizer arbeitet deutlich fleißiger nach hinten als Helmes das tat und nimmt Kießling so viel Arbeit ab. Zudem weicht Derdiyok immer wieder auf die Flügel aus und überlässt Kießling den Platz im Sturmzentrum.
Doch der deutsche Nationalspieler lebt nach wie vor von seiner Einsatzfreude und seinem läuferischen Vermögen, ist ständig in Bewegung. Wenn Derdiyok vorne bleibt, stopft Kießling im Mittelfeld Löcher. Einer von beiden arbeitet in der Regel nach hinten.
Wenn es nach vorne geht, dann meist mit hoher Geschwindigkeit. Bei einem schnellen Ballgewinn im Mittelfeld nehmen Derdiyok wie auch Kießling sofort Tempo auf und kreuzen ihre Laufwege (Bild 1 und 2).
Dadurch, dass die gegnerischen Innenverteidiger im Raum verteidigen, werden diese durch das Kreuzen gezwungen, die beiden Bayer-Stürmer zu übergeben, was Kießling und Derdiyok einen minimalen Vorsprung und ein höheres Ausgangstempo fürs Laufduell verschafft (Bild 3 und 4).
Stürmer starten vom gleichen Punkt
Was auffällt: Häufig starten die beiden Angreifer vom gleichen Punkt aus oder bewegen sich in dieselbe Richtung. Was auf den ersten Blick nach fehlender Abstimmung aussieht, macht Bayer ganz bewusst.
Gegen eine im Raum verteidigende Viererreihe kann man auf diese Weise Überzahl erzeugen und das schwächste Glied dieser Kette besonders unter Druck setzen. Der Gegner wird gezwungen, diesen Spieler zu unterstützen, rückt hinterher, öffnet so aber Räume für Bayer-Spieler, die mit Tempo aus der zweiten Reihe kommen und nur schwer aufgenommen werden können (Bild 5 bis 7).
Die Besonderheiten
Kaum ein Team in der Liga strahlt derart große Gefahr bei Standards aus wie die Mannschaft von Jupp Heynckes. Zum einen liegt das sicher daran, dass man zahlreiche kopfballstarke Spieler in seinen Reihen hat. Auf der anderen Seite trägt auch die Art und Weise, wie Bayer diese Situationen ausspielt, dazu bei.
Im Gegensatz zu vielen anderen Bundesligisten zieht Leverkusen Freistöße aus dem Halbfeld nicht mit Zug aufs Tor. Vielmehr platziert man die hohen Bälle ganz gezielt weg vom Gehäuse und sucht die kopfballstarken Hyypiä und Friedrich (Bild 1 bis 4).
Beide warten meist außerhalb des Strafraums auf den Flugball und gehen mit Anlauf ins Kopfballduell, während ihre Gegenspieler mehr oder weniger aus dem Stand dagegen halten müssen (Bild 4).
Eine weitere Besonderheit Bayers: das Pressing. Im letzten Jahr versuchte man unter Bruno Labbadia noch, den Gegner von Beginn an nahezu über die komplette Spieldauer schon in dessen Hälfte unter Druck zu setzen.
Davon ist Heynckes abgewichen, auch um Kräfte zu sparen. Noch immer ist das Pressing allerdings in Leverkusens Repertoire vorhanden. Meist betreiben dabei zunächst nur die beiden Angreifer Forechecking (Bild 5 und 6), testen den Gegner quasi an. Bei Aussicht auf Erfolg rutscht die komplette Mannschaft dann aggressiv hinterher und arbeitet gegen den Ball - bisweilen auch bis an den gegnerischen Sechzehner (Bild 7 bis 12).
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