Benjamin Köhler im Interview über den Kampf gegen den Krebs: "Ich rief jeden Tag im Krankenhaus an und nervte die Leute"

Jochen Tittmar
25. Dezember 202110:36
Benjamin Köhler spielte lange Jahre für Eintracht Frankfurt und Union Berlin.
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Benjamin Köhler kickte neun Jahre lang für Eintracht Frankfurt und war ein gestandener Fußballprofi, als ihn 2015 als Spieler von Union Berlin im Alter von 34 Jahren aus dem Nichts die Diagnose Krebs ereilte. 13 Monate später stand Köhler für die Eisernen wieder auf dem Feld - und beendete ein Jahr später seine Karriere.

Dieser Text erschien zuerst am 25. Juni 2021 und gehört zu den beliebtesten Texten des Jahres.

Im Interview mit SPOX und Goal spricht Köhler ausführlich über den Weg bis zur Krebs-Diagnose, seinen Umgang mit der Krankheit, den Ablauf der Chemotherapie und den entscheidenden Anruf zu seiner Genesung.

Der heute 40-Jährige erzählt auch davon, wie er Inhaber eines Berliner Eiscafes wurde und weshalb er dieses wieder schließen musste.

Herr Köhler, nach Ihrem Karriereende betrieben Sie von Ende Oktober 2018 bis September 2020 zusammen mit Ihrer Frau das Eiscafe "La Luna" in der East Side Mall nahe der Mercedes-Benz-Arena in Berlin. Die naheliegendste Frage daher gleich zu Beginn: Was sind Ihre Lieblingssorten?

Benjamin Köhler: Dark Chocolate und Cookies. Zur Weihnachtszeit kam noch Zimt hinzu.

Nachdem Sie zunächst wieder öffnen durften, mussten Sie das Eiscafe wegen der Corona-Krise endgültig schließen.

Köhler: Corona hat uns den Todesstoß gegeben. Zuvor lief es okay, doch es hat letztlich nicht so funktioniert, wie ich mir das vorgestellt habe. Es begann schon nicht ideal, da der Haupteingang der East Side Mall ein Jahr lang geschlossen war. Als Corona kam, hatten wir keine Chance mehr. Das kannst du nicht überleben. Ich wollte auch nicht mit Biegen und Brechen darum kämpfen mit all diesen Anträgen und Staatshilfen, nur um mich dann gerade so über Wasser zu halten. Das wäre viel Arbeit ohne großen Ertrag gewesen. So geht es leider vielen. Ich habe keine Ahnung, wie das einige andere trotzdem offenbar irgendwie hinkriegen.

Sie sollen zunächst auch an eine Shisha-Bar gedacht haben.

Köhler: Während meiner aktiven Karriere war es mein Traum, zusammen mit einem Kumpel eine Shisha-Bar zu eröffnen. Der hat mittlerweile auch zwei. Mir hätte das auch jetzt gewiss viel Spaß gemacht, aber das spielt sich eben zumeist im Nachtleben ab und ist mit einer Familie und drei Kindern kaum vereinbar.

Wenn Ihnen nach dem Karriereende jemand gesagt hätte, dass Sie einmal hinter der Theke eines Eiscafes stehen würden, was hätten Sie entgegnet?

Köhler: Niemals! (lacht) Die Sache kam über meinen Berater und einen Freund zustande, dem eine große Eiscafe-Kette gehört. Wir haben über ein Jahr lang viele Gespräche geführt. Mir wurde das Konzept vorgestellt und ich habe lange überlegt. Ein Eiscafe war ja nicht mein Traum, sondern es ging mir um ein zweites Standbein. Also habe ich es gewagt und bin ins kalte Wasser gesprungen, denn ich musste mich ja in viele Themen hineinfuchsen. Die Gastronomie ist immer schwierig, aber ich habe es dann als minimales Risiko gesehen. Jetzt habe ich leider ein bisschen Geld in den Sand gesetzt.

Benjamin Köhler bei der Arbeit in seinem Eiscafe.imago images

Wie sah Ihre Arbeitswoche denn konkret aus?

Köhler: Ich war meist viermal im Wechsel mit meiner Frau vor Ort. Sie hat daran auch Spaß gehabt, einer von uns beiden war also immer da. Man musste gewissermaßen ständig präsent sein. Ich stand hinter der Bar, habe das Eis angerichtet oder den Kaffee gemacht, aber hauptsächlich koordiniert. Gerade zu Beginn war es hart und anstrengend, da war ich regelmäßig bis 22, 23 Uhr im Laden.

Wie sind Sie mit Dingen wie der Buchhaltung klargekommen?

Köhler: Das war alles totales Neuland für mich. Ich wurde zwar vorab eingelernt, aber ich bekam so viele Informationen, da hat der Kopf in den ersten Wochen richtig geraucht. Ich habe jeden Tag das Kassenbuch geführt, Rechnungen bezahlt, Lieferungen aufgegeben. Als die Sache dann allmählich lief, erledigte ich das meistens abends von zu Hause aus.

Wie reflektieren Sie heute einen solchen Arbeitstag im Eiscafe, wenn Sie an Ihre Zeit als Profi zurückdenken, in der Ihnen vieles abgenommen wurde?

Köhler: Als Profi wird einem nicht vieles, sondern alles abgenommen! Dass das Leben als Fußballer purer Luxus ist, war mir schon immer klar und das habe ich durch meine Krankheit auch noch einmal deutlich vor Augen geführt bekommen. Kein Fußballer sollte sich je beschweren. Man hat zwar gewisse Einschränkungen, aber führt ein gesundes, sehr gutes Leben mit viel Freizeit. Allerdings sollten die Vereine noch mehr dabei helfen, ihre Spieler für das Karriereende zu sensibilisieren und sie darauf vorzubereiten. Man häuft ein bestimmtes finanzielles Polster an, wenn man es nicht allzu sehr übertrieben hat. Ganz normale Spieler wie auch ich es war können aber nicht ihr gesamtes restliches Leben vom Ersparten bestreiten. Man will ja auch einen gewissen Standard halten. Zu viele Profis machen sich zu wenig Gedanken, was nach der Karriere kommt.

Sie selbst sind weiter am Ball geblieben. Zunächst kickten Sie zusammen mit ehemaligen Profis wie Karim Benyamina, Chinedu Ede, Michael Delura, Daniel Ziebig oder Maik Franz in der Ü32 der Spandauer Kickers.

Köhler: Und heute spielen wir fast alle in der Ü32 von Hertha BSC. Bei Spandau haben wir alle Pokale geholt und sind auch Meister geworden. Die Hertha wollte in diesem Bereich dann auch erfolgreich sein. Wir haben Gespräche geführt und dann sind wir dorthin gewechselt. Auch Dennis Aogo ist nun mit dabei. Pal Dardai spielt in der Ü40, für die ich auch auflaufen kann. Wegen Corona gab es bislang aber nur drei Spiele, die Saison wurde abgesagt.

Wie regelmäßig wird trainiert?

Köhler: Einmal die Woche, aber es gibt keine Anwesenheitspflicht. Wenn nicht genügend Leute auf die Ankündigung in unserer Chatgruppe reagieren, dann fällt's halt aus. Mir macht es viel Spaß, denn es ist kein Tempo drin. (lacht) An den Wochenenden sind die Spiele, bisher haben wir immer sehr deutlich gewonnen. Am Saisonende steht dann die deutsche Meisterschaft mit Mannschaften aus allen Staffeln in Deutschland an. Das ist ein Turnier über zwei Tage. Man spielt auch gegen ziemlich gute Dorfmannschaften. Das hat mehr Niveau als die Berlin-Liga. Wir hatten mit Spandau damals neun Spiele bis zum Titel, die jeweils 30 Minuten dauern. Da gingen einem nach und nach die Männer wegen Muskelverletzungen aus.

Es ist nicht selbstverständlich, dass Sie heute so durchs Leben gehen und Fußball spielen können. Im Februar 2015 wurde bei Ihnen als Spieler von Union Berlin ein bösartiger Tumor des Lymphsystems im Bauch diagnostiziert. Sie waren damals mit Union im Trainingslager in Spanien. Wie fing das alles an?

Köhler: Als wir noch in Berlin waren, hatte ich nur sehr leichte Bauchschmerzen und dachte, ich hätte etwas Falsches gegessen. Im Trainingslager ging es dann so richtig los. Tagsüber ging es, aber am Abend, nachdem der Körper zur Ruhe kam, hatte ich richtig starke Bauchschmerzen. Ich konnte nicht mehr schlafen und war immer mehrere Stunden wach. Ich versuchte es erst einmal mit Schmerztabletten.

Wann dämmerte Ihnen, dass Sie wohl doch nicht nur etwas Falsches aßen?

Köhler: Erst relativ spät. Natürlich grübelte ich weiter, was das denn sein könnte. Ich habe mir aber natürlich nie Gedanken darüber gemacht, dass es etwas Schlimmes ist. Als es nach vier, fünf Tagen nicht besser wurde, nahm man mich aus dem Training. Es hieß, man wolle jetzt bis zu unserer Rückkehr nach Deutschland abwarten, um dort dann die dem Verein vertrauten Ärzten zu konsultieren.

Wie ging es dann weiter?

Köhler: Es wurde zunächst ein Ultraschall gemacht und festgestellt, dass meine Lymphdrüsen im Bauchbereich zu groß waren. Das könne aber mehrere Ursachen haben, sagte man mir. Anschließend hatte ich ein paar Termine in der Charite. Nach einer Computertomographie kam heraus, dass auch die Lymphdrüsen im Brustbereich zu groß sind. Es sollten noch weitere Untersuchungen gemacht und eine Gewebeprobe aus der Brust entnommen werden. Das war der Moment, an dem ich erstmals schlucken musste.

Köhlers Teamkollegen mit Genesungswünschen während des Bochum-Spiels am 7. Februar 2015.imago images

Inwiefern?

Köhler: Für die Gewebeprobe musste ich in eine Abteilung, in der auch viele Krebspatienten waren. Ich dachte: Was mache ich hier zwischen all den Krebspatienten? Meine Frau sagte: Vielleicht stehen hier halt einfach die richtigen Geräte für die Gewebeprobe. Anschließend musste ich wieder auf die Ergebnisse warten. Zwischendurch habe ich ganz normal trainiert. Die Bauchschmerzen waren zu diesem Zeitpunkt auch etwas gelindert und nicht mehr so schlimm, weil ich schon vorab Schmerztabellen einnahm.

Schließlich folgte die finale Diagnose. Wo haben Sie davon erfahren?

Köhler: Auf dem Trainingsgelände von Union. Unser Mannschaftsarzt kam in der Kabine auf mich zu und meinte, die Ergebnisse seien da. 'Okay, und was ist jetzt Sache?', fragte ich. 'Lass uns mal ins Büro gehen', antwortete er. 'Jetzt sag's mir doch einfach', erwiderte ich, aber er hat darauf bestanden. Wir sind also rüber in die Geschäftsstelle, wo schon Trainer- und Funktionsteam saßen. Da wurde mir klar: Scheiße, das ist etwas Ernstes! Und dann haben sie mir gesagt, dass ich Krebs im dritten von vier Stadien habe und sofort eine Chemotherapie machen muss.

Benjamin Köhler: Die Stationen seiner Karriere im Überblick

ZeitVereinPflichtspieleToreVorlagen
2000-2003Hertha BSC1--
2001-2002MSV Duisburg (Leihe)231-
2003-2004Rot-Weiss Essen3413-
2004-2013Eintracht Frankfurt2573335
20131. FC Kaiserslautern812
2013-20171. FC Union Berlin51610

Konnten Sie dann überhaupt einen klaren Gedanken fassen?

Köhler: Nein, es war ein riesengroßer Schock. Ich war nicht mehr aufnahmefähig und konnte mir auch keine Details der Erklärungen merken. Ich setzte mich direkt ins Auto und fuhr nach Hause. Meine Frau hat schon gewartet. Dann haben wir ein paar Tage durchgeweint. Wir waren am Boden zerstört. Man denkt ja immer: Krebs ist gleich Tod. Ich wollte dann erst einmal Urlaub machen. Die Ärzte sagten aber: Ist nicht, ich müsse die Chemo direkt beginnen - je schneller, desto besser.

Wurde Ihnen auf der Geschäftsstelle denn gesagt, wie schwer die Krankheit sei und wie die Heilungschancen stünden?

Köhler: Sicherlich, aber ich hatte daran keine Erinnerung mehr. Das wurde mir erst alles bewusst, als man mir ein paar Tage später in der Charite den genauen Ablauf erklärte. Da ich Leistungssportler und noch jung war, standen die Heilungschancen bei 80 Prozent. Ich hatte zwar keine Garantie, aber alle Voraussetzungen, um wieder gesund zu werden. Ich musste insgesamt sechs Mal alle drei Wochen zur Chemo ins Krankenhaus. Ab diesem Zeitpunkt dachte ich: Das ziehe ich jetzt durch und dann wird das schon wieder. Ich habe es wie eine schwere Verletzung genommen und wollte unbedingt wieder auf den Platz zurückkehren.

Der kanadische Eishockeyspieler Mario Lemieux war zu Beginn der Nuller-Jahre der einzige, der seine Laufbahn nach überstandenem Lymphdrüsenkrebs fortsetzte. Woher haben Sie die Überzeugung genommen, dass ausgerechnet Ihnen das auch gelingen wird?

Köhler: Keine Ahnung, das ist wohl mein Naturell. Ich lag zuvor zwar noch nicht derart, aber dennoch gerade im Fußball auch das eine oder andere Mal am Boden und habe mich immer wieder zurückgekämpft. Ich habe es mir als Ziel gesetzt, wieder Fußball zu spielen, denn ich musste ja irgendetwas Greifbares haben, woran ich mich hochziehen konnte.

Was haben die Ärzte zu diesem Vorhaben gesagt?

Köhler: Die im Krankenhaus meinten, ich werde nie wieder kicken können. Ich glaube, am Ende ist es auch Kopfsache und kommt darauf an, wie du damit umgehst.

Benjamin Köhler (rote Mütze) mit seiner Familie auf der Tribüne während des Bochum-Spiels.imago images

Einen Tag, nachdem die Diagnose publik wurde, verlängerte Union Ihren zum Saisonende auslaufenden Vertrag um ein Jahr bis 2016. Wie kam das so plötzlich zustande?

Köhler: Sie riefen mich an und sagten, der Vertrag werde verlängert, damit ich mich in Ruhe auf meine Genesung konzentrieren kann. Dann kamen sie bei mir vorbei, der Vertrag wurde mir vorgelegt und ich habe unterschrieben.

Zwei Tage später saßen Sie beim Heimspiel gegen Bochum mit Ihrer Familie auf der Tribüne, als die Partie in Anlehnung an Ihre Rückennummer in der siebten Spielminute unterbrochen wurde. Alle Union-Spieler trugen ein T-Shirt mit Ihrer Nummer und sprachen Ihnen vom Feld aus Genesungswünsche aus. Wie sehr hat Sie diese Aktion überrascht?

Köhler: Ich hatte eine ganz leichte Vorahnung, denn der Präsident rief mich zuvor an und fragte, ob ich nicht ins Stadion kommen möchte, die Jungs würden sich freuen. Ich habe gerne zugesagt, doch dass es dann zu einer solchen Aktion kommen würde, damit hatte ich nicht gerechnet.

Was hat es mit Ihnen so kurz nach der Diagnose gemacht, diese Solidarität zu spüren?

Köhler: Ich musste schwer schlucken, meine Frau und ich hatten Tränen in den Augen. Ich habe mich schwer zusammenreißen müssen, um nicht einfach nur noch loszuheulen. Das war wirklich hoch emotional. Ich habe während des Spiels eine sehr große Dankbarkeit verspürt, auch danach hat mir die gesamte Unterstützung enorm geholfen und gut getan. Ich bin der Meinung, wenn man eine solche Krankheit hat und dabei allein ist, schafft man das nicht.

Am Tag nach diesem Spiel haben Sie sich eine Glatze geschnitten.

Köhler: Ich wollte nicht dabei zusehen, wie mir nach und nach die Haare ausfallen. Ich fand diesen Fakt an sich nicht schlimm, ich hatte mir eh schon einmal eine Glatze geschnitten. Ich wollte dem schlicht zuvorkommen. Es wäre ja sowieso passiert.

Anschließend ging es mit der ersten Chemotherapie los. Was ist da genau geschehen?

Köhler: Ich kam in ein Zimmer im Krankenhaus und wurde an einen Tropf gehängt. Es dauerte eineinhalb Stunden, bis die erste Dosis durch war. Dann kurze Pause und danach das nächste Ding. Gegen Abend habe ich es richtig gemerkt. Ich war total müde und bin ganz früh eingeschlafen. Am nächsten Tag bekam ich noch einmal eine Dosis und konnte anschließend nach Hause. Nur bei der ersten Chemo war ich sechs Tage lang drin, damit man sieht, wie ich es verkrafte.

Wie erging es Ihnen nach dem ersten Mal?

Köhler: Es war der Horror. Als ich nach Hause ging, war noch alles halbwegs in Ordnung. Dann jedoch bekam ich schlimmere Bauchschmerzen als vor der Diagnose. Kein Spaß: Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie solche Schmerzen. Ich dachte, ich muss jetzt sterben. Das waren unglaubliche Krämpfe. Ich habe mich nur noch gekrümmt. Ich lag im Bad oder auf dem Boden im Wohnzimmer, weil ich nicht mehr wusste, wohin mit mir.

Wie lange hielt das an?

Köhler: Eine ganze Woche. Ich bin natürlich auch kurz ins Krankenhaus gegangen, doch dort wusste man auch nicht so recht. Man gab mir eine Schmerzmittel-Infusion, was mir zwar Erleichterung verschaffte, aber am nächsten Tag ging es wieder von vorne los. Auch die Schmerzmittel, die ich schon vor der Diagnose zu Hause nahm, schmiss ich mir morgens, mittags und abends rein, doch sie halfen auch nicht. Nach einer Woche waren die Schmerzen wie von Geisterhand verschwunden - und ich hatte Schiss, dass das jetzt nach jeder Chemo so ablaufen wird. Tat es aber zum Glück nicht.

Wie lief es sonst in der Regel ab?

Köhler: Es war immer derselbe Ablauf: Ich wurde am ersten Tag abends sehr müde und als ich wieder zu Hause war, hatte ich sofort kein Hungergefühl und auch keinen Durst mehr. Man soll ja eigentlich viel essen und trinken, um die Chemo heraus zu spülen, aber ich hatte auf nichts Lust, keine Chance. Mir war zwar ein bisschen komisch, aber nie schlecht und ich musste mich auch nicht wie viele andere übergeben. Ich hatte einfach keinerlei Appetit - von ein paar seltenen Heißhungerphasen abgesehen. Nach ungefähr zehn Tagen war mein Körper wieder halbwegs gereinigt, aber dann ging es auch bald mit der nächsten Sitzung weiter.

Wie sah denn Ihr Alltag zwischen den Chemotherapien aus?

Köhler: Es hieß, ich solle zu Hause bleiben, aber ich wollte mich nicht einsperren lassen. Ich habe versucht, meinen Alltag so normal wie möglich zu gestalten. Ich war im Kino, in Restaurants und Cafes oder habe Freunde getroffen. Natürlich war ich dabei meist schlapp, aber langweilig wurde mir nicht.

Und womit haben Sie sich die Zeit vertrieben, wenn Sie in Behandlung im Krankenhaus waren?

Köhler: Ich war nicht einmal alleine, von morgens bis abends war immer jemand da. Meine Frau hatte vorab bei allen nachgefragt und eine Art Schicht-Betrieb erstellt, so dass neben ihr meine Verwandten und Freunde ein- und ausgingen. Als alle weg waren, habe ich noch ein bisschen den Fernseher angemacht und bin schnell eingeschlafen.

Wann gab es die erste ärztliche Rückmeldung, ob das alles auch anschlagen würde?

Köhler: Nach der dritten Chemo musste ich noch einmal eine Computertomographie machen. Ich wollte das schon früher haben, weil es mich ja auch interessierte, ob alles passt. Es hieß aber, meine Blutwerte seien in Ordnung und so gesund wäre es nicht, ständig in diese Röhre gesteckt zu werden. Meine Hoffnung war, dass alle Krebszellen so gut wie verschwunden sind, aber es war dann nur eine minimale Veränderung zu sehen.

Ab wann merkten Sie, dass Sie körperlich abbauen?

Köhler: Das hat bis zur vierten, fünften Chemo gedauert. Ich war dann schon beim leichten Treppensteigen total fertig, das war unglaublich. Ich hatte auch extrem abgenommen. Meine Bauchmuskeln verschwanden komplett, die Augenbrauen und der Bart fielen aus, das Gesicht war eingefallen. Das war schon nicht so schön anzusehen. Ich habe mir oft die Mütze ins Gesicht gezogen.

Sind in dieser Zeit Gedanken an den Tod aufgekommen?

Köhler: Nein. Ich habe mir ohnehin mehr Gedanken über meine engen Mitmenschen gemacht als darüber, ob ich tatsächlich sterben könnte. Ich war mir selbst nicht mehr so wichtig. Nach meiner Genesung hatte ich ein gutes Jahr lang damit zu kämpfen, nicht darüber nachzudenken, ob wirklich wieder alles okay ist oder die Krankheit wiederkommen würde. Immer, wenn ich zum Beispiel Popcorn gegessen habe, hatte ich Bauchschmerzen. Seitdem esse ich kein Popcorn mehr. (lacht)

Drei Wochen nach Ende der letzten Chemotherapie fuhren Sie mit Union ins Trainingslager nach Österreich, um die Nähe zur Mannschaft beizubehalten. Am 23. Juli 2015 gab Union dann bekannt, dass Sie genesen seien. Wie erinnern Sie sich an diese allerletzte Untersuchung, nach der der Daumen nach oben ging?

Köhler: Nach der letzten Chemo war erst einmal wieder Warten angesagt, sechs Wochen lang. Dann folgte die letzte Computertomographie. Anschließend sollte feststehen, ob ich wieder gesund bin. Ich rief dann jeden Tag im Krankenhaus an und habe die Leute genervt. Eines frühen Morgens hatte ich es noch nicht wieder versucht, als plötzlich mein Handy klingelte und der Arzt dran war. Ich weiß es noch genau: 'Wir können Ihnen eine erfreuliche Nachricht machen. Ihre Lymphdrüsen sind wieder klein und Ihre Krebszellen nicht mehr aktiv. Sie sind geheilt.'

Wie haben Sie reagiert?

Köhler: Äußerlich offenbar ziemlich emotionslos. Meine Frau stand neben mir, als ich am Telefon war und hat mich ungeduldig angeschaut. Aus meinem Gesicht konnte sie nichts ablesen. 'Ich bin wieder gesund', sagte ich und legte auf. (lacht) Sie können sich nicht vorstellen, welch riesige Freude das war. Andererseits empfand ich es auch als ziemlich surreal, denn ich habe mich nach dieser Odyssee schon gefragt, ob das jetzt wirklich wahr ist. Ich musste diese Nachricht erst einmal ein paar Tage lang verarbeiten.

Benjamin Köhler in der Zeit während seiner Chemotherapien.imago images

Im August 2015 haben Sie das Lauftraining wieder aufgenommen, nachdem Sie sich zuvor die Zustimmung und den Aufbauplan bei einem Heidelberger Sportmediziner abholten. Im November waren Sie zurück im Mannschaftstraining. Wie waren Ihre ersten fußballerischen Eindrücke?

Köhler: Ganz verlernt hatte ich es nicht. Ich musste zwischenzeitlich auch gebremst werden, weil ich viel früher wieder anfangen und auch schnell mehr wollte. Gerade koordinative Dinge oder das Timing musste ich mir wieder antrainieren. Anfangs war es schwer, diese automatische Sicherheit wieder zu erlangen, wie ich nach einer Flanke zum Ball gehe. Laufen zu gehen war das eine, aber die Belastung auf dem Platz etwas ganz anderes. Es war schon ziemlich anstrengend.

Es dauerte bis zum 18. März 2016, ehe Sie in der 77. Minute eingewechselt im Heimspiel gegen Braunschweig Ihr Pflichtspiel-Comeback gaben und später von Ihren Mitspieler vor den Fans in die Luft geworfen wurden. Wie fühlte sich dieser Tag an?

Köhler: Auch diese 13 Minuten waren sehr kraftraubend, das hätte ich so nicht gedacht. (lacht) Ich empfand aber natürlich die pure Euphorie, denn ich war zurückgekehrt und hatte mein Ziel tatsächlich wahrgemacht. Ich wusste, dass ich das hinkriege. Da habe ich einfach meinen eigenen Kopf und glaube auch, meinen Körper am besten einschätzen zu können. Wenn ich sage, ich schaffe das, dann schaffe ich das auch!

Kurz darauf durften Sie noch 15 Minuten auswärts gegen St. Pauli ran. Anschließend absolvierten Sie, nachdem im April 2016 Ihr Vertrag um ein Jahr verlängert wurde, aufgrund anhaltender Knieprobleme kein Spiel mehr. Im Sommer 2017 beendeten Sie Ihre Karriere.

Köhler: Ich hatte immer wieder mit dem Meniskus zu kämpfen, das Stechen darin kam und ging. Irgendwann wollte ich es einfach nicht mehr darauf ankommen lassen. Ich hatte mein großes Ziel erreicht und 30 Jahre lang Fußball gespielt. Da musste ich mich nicht mehr ein weiteres Mal quälen. Ich wusste schon während der Krankheit, dass es anschließend eh nicht mehr besonders lange gehen würde.

Ein Jahr nach Ihrer Genesung und vor dem Karriereende hatten Sie noch einmal einen Rückschlag, der sich am Ende glücklicherweise als harmlos erwies. Was war da geschehen?

Köhler: Wir waren mit unseren beiden Familien im Heimatdorf meiner Frau in Italien im Urlaub. In der Nacht auf meinen Geburtstag am 4. August bekam ich zunächst leichte Rückenschmerzen und wurde wach. Kurz darauf zogen sich die Schmerzen immer weiter nach vorne und es entwickelten sich auf einmal wieder zwei Stunden lang ganz extreme Bauchschmerzen. Ich krümmte mich erneut auf dem Boden, vor allen anderen lag ich auf der Terrasse herum. Als ich auf die Toilette musste, pinkelte ich sogar Blut. Das hat mich schockiert und ich dachte: Oh mein Gott, bitte nicht wieder alles von vorne! Dann kam mitten in der Nacht der Krankenwagen und ich erhielt erst einmal eine Ladung Schmerzmittel. Als ich im Krankenhaus untersucht wurde, lachte der Arzt plötzlich auf und sagte etwas, das ich natürlich nicht verstand. Die Übersetzung lautete: Das sei bloß ein Nierenstein und wäre nach einer Chemotherapie völlig normal. Ich scheine ihn auch herausgepinkelt zu haben, denn seitdem ist Ruhe.

Bevor Sie das Eiscafe eröffneten, haben Sie zwei Jahre lang Ihre Freizeit genossen. Was haben Sie in dieser Zeit gemacht?

Köhler: Alles Mögliche: Ich war oft im Urlaub, habe Freunde getroffen, war gut Essen, habe auch mal eine Shisha geraucht. Ich genoss das Gefühl, nicht mehr so angreifbar zu sein wie als Profi. Jetzt kann ich auch mal in die Bar eines Kumpels gehen und mir einen reinkippen, das interessiert nun keinen mehr. (lacht)

Benjamin Köhler am 18. März 2016 nach seinem umjubelten Comeback gegen Braunschweig.imago images

Wie geht es Ihnen heute?

Köhler: Sehr gut, ich kann absolut nicht klagen. Mittlerweile muss ich nur noch einmal im Jahr zur Kontrolluntersuchung. Je länger es her ist - und es sind schon sechs Jahre -, desto größer sind die Chancen, dass der Krebs nicht mehr zurückkommt. Ich mache mir darüber keine Gedanken mehr.

Wie wird nun Ihre Zukunft aussehen, gibt es schon neue Pläne?

Köhler: Ich mache gerade meinen Trainerschein und will das auf jeden Fall bis zur DFB-Elite-Jugend-Lizenz durchziehen. Das kann bestimmt nicht schaden, vielleicht ergibt sich ja einmal irgendetwas. Cheftrainer zu sein ist wohl nicht mein Ding, aber die Arbeit als Co-Trainer kann ich mir schon vorstellen. Zudem werde ich ein Buch über mich schreiben lassen, wir suchen derzeit noch nach einem Verlag. Das soll nicht nur eine Biografie, sondern nach meinen Erfahrungen mit der Krankheit und dem Umgang damit eine Art Motivationshilfe für Menschen werden, die ein ähnliches Schicksal haben oder andere Schwierigkeiten im Leben meistern müssen.