Brasilien scheitert schon wieder im Viertelfinale einer Weltmeisterschaft. Gegen Kroatien fliegt das Team rund um Superstar Neymar im Elfmeterschießen raus - und löst so abermals große Diskussionen aus, die gerade in Europa etwas eindimensional daherkommen.
Häme, Schadenfreude, teilweise sogar Aufatmen - so fielen die Reaktionen zahlreicher deutscher Fußball-Fans auf das Aus Brasiliens aus. Im Elfmeterschießen verloren die Südamerikaner ein Spiel, das sie niemals hätten verlieren dürfen.
Die deutsche und die brasilianische Fußballkultur könnten unterschiedlicher kaum sein. Tanz, Lockerheit und gute Laune bei Brasilien, harte Arbeit, Disziplin und Fokus bei den Deutschen. Zugegeben: Das sind Überspitzungen, teilweise auch Klischees. Und doch treffen hier stark ausgeprägte Gegensätze aufeinander.
Das macht sich auch beim Ausscheiden Brasiliens und der deutschen Perspektive auf die Geschehnisse bemerkbar. Arroganzvorwürfe und fehlende Konzentration auf das Wesentliche dominieren die Analysen hierzulande. Ganz aus der Luft gegriffen ist das nicht. Dass Brasilien mit einigen Schauspieleinlagen und dem offenbar grenzenlosen Selbstbewusstsein nicht als Sympathiefänger unterwegs war, versteht sich von selbst. Zugleich sind das Nebensächlichkeiten, die sich aus der Distanz kaum bewerten lassen.
WM 2022: Eine verlorene Generation für Brasilien
Debatten über tanzende Brasilianer führen beispielsweise am Thema vorbei. Es ist zudem eine sehr europäische Perspektive, daraus Arroganzvorwürfe zu machen. Dass Südamerikaner oder auch Afrikaner bei Toren gern tanzen, ist nicht neu. Viel spannender ist es doch, das sportliche Scheitern Brasiliens aufzuarbeiten. Warum gelingt es dieser Generation an hervorragenden Fußballern nicht, die Favoritenrolle in mindestens einen WM-Titel umzuwandeln?
Dani Alves (39), Thiago Silva (38), Alex Sandro (31), Danilo (31), Casemiro, Neymar (beide 30) - einige dieser Spieler haben ihre letzte Chance auf einen WM-Titel vertan, andere werden in vier Jahren wohl schon über ihrem Zenit sein. "Es ist noch zu früh, um dazu etwas zu sagen", erklärte Neymar bei Globo nach dem Aus gegen Kroatien über die WM 2026: "Ich kann nichts garantieren." Es ist eine Generation, die vor vielen Jahren als großes Versprechen galt. Mit ihr war die Hoffnung eng verknüpft, dass der sechste Stern auf das Trikot wandern würde.
Das wirklich bemerkenswerte ist, dass Brasilien bis auf 2014 nicht mal wirklich nah dran war - und selbst da überdeckte die Euphorie in der Heimat, dass sich das Team sehr schwergetan hat. Kontinuität auf der Trainerposition war nach dem WM-Triumph 2002 immer ein Thema bei der Seleção. Auch die Auswahl der Trainer. Teils gab es Rückholaktionen, die wenig vielversprechend und dementsprechend nicht erfolgreich waren.
Mit Tite schien man nun jemanden gefunden zu haben, der die goldene Generation zu Titeln führen kann. In 81 Partien sammelte er einen Punkteschnitt von 2,42, gewann 2019 die Copa América. Doch auch er muss sich den Vorwurf gefallen lassen, Teil der langen Liste an Verantwortlichen zu sein, die dazu beigetragen haben, dass diese talentierte Generation ihr Potenzial in den entscheidenden Momenten zu selten zeigen konnte. Dabei war er vielleicht so nah dran wie kein anderer.
gettyWM 2022: Die Rückkehr zum Joga Bonito ist fast gelungen
Joga Bonito, das schöne Spiel. Es steht für eben jene Lockerheit und jenen Freigeist, der 2002 den fünften und bisher letzten WM-Stern brachte. Das ist nun 20 Jahre her. Und in diesen 20 Jahren hat sich auch der Fußball weiterentwickelt. Vor allem im taktischen und im athletischen Bereich wurden große Fortschritte erzielt. Alles ist schneller geworden, alles ist etwas mehr auf Effizienz und Zielstrebigkeit getrimmt.
Vor allem aber sind Verteidigungsreihen besser geworden. Lange gelang es den Brasilianern nicht, das schöne Spiel in die Moderne zu transferieren. Zu sehr war alles auf Einzelaktionen getrimmt, zu wenig spielerisches Konzept war erkennbar - oder manchmal auch zu viel. Es ist ein Teil der brasilianischen Tragik, dass die Mischung bei diesem Turnier zu stimmen schien.
"Brasilien spielt wieder Samba- und keinen Schreibtischfußball", kommentierte ein euphorisierter Béla Réthy im ZDF die Show gegen Südkorea. Ein Tor war schöner als das andere. Tite schien es zu schaffen, so viel Schreibtisch wie nötig einzubringen, den herausragenden Offensivspielern aber ihre Freiheiten zu ermöglichen. Heraus kam ein attraktives und dynamisches Brasilien. Nah dran an Joga Bonito.
Und doch wird niemand darüber sprechen, wie gut Brasilien eigentlich war. Es ist eben wieder nur das Viertelfinale. Offenbar hat auch Tite es nicht geschafft, die letzten Prozentpunkte herauszukitzeln, die es für einen Triumph gebraucht hätte.
WM 2022: Neymar und der Druck des Unvollendeten
Eng verknüpft wird dieses Scheitern auch mit Neymar. Ein Spieler, der mit so viel Talent gesegnet ist wie sonst nur Lionel Messi. Sportlich kann sich der Superstar von Paris Saint-Germain wenig vorwerfen. Gegen Kroatien erzielte er sogar den Führungstreffer. Und doch ist Neymar ein möglicher Ansatz, um dem fast schon chronischen Scheitern Brasiliens auf den Grund zu gehen. Weil er eine Kunstfigur ist.
Bereits in jungen Jahren wurde er als Supertalent in der Heimat gefeiert, verehrt, nahezu vergöttert. An ihn wurden offensiv und ohne Rücksicht Erwartungen formuliert, die für einen jungen Spieler nicht gesund sein können. Ballon d'Or, Ronaldinho-Erbe, Gesicht einer Generation und, na klar, der sechste WM-Titel für Brasilien.
Wie enorm die Erwartungshaltung und der Druck im eigenen Land sind, wurde bei der WM 2014 eindrucksvoll zur Schau gestellt. Die Spieler sind mit einem unsichtbaren Rucksack durch die Gegend gelaufen, der mehrere Kilo schwer war. Neymar allerdings schien gleich fünf dieser Rucksäcke zu tragen.
Sportlich kann er damit umgehen. Das hat er im Verlauf seiner Karriere mehrfach bewiesen. Neymar scheint seine Kunstfigur auf dem Platz nutzen zu können, um sich vom enormen Druck abzukapseln, der als Unvollendeter auf ihm lastet. Ob der Kult um ihn seiner Persönlichkeitsentwicklung zuträglich war, ist wiederum streitbar. Gerade weil er sich oft in seine Kunstfigur flüchtet, wirkt er wohl so exzentrisch und unnahbar auf viele.
Der springende Punkt in Bezug auf die brasilianische Nationalmannschaft ist, dass der Grat zwischen positiven Emotionen und nur schwer zu kanalisierendem Druck sehr schmal ist. Während sich viele bei dieser WM mal wieder beeindruckt zeigen von der südamerikanischen Leidenschaft, die beinahe religiöse Züge annimmt, kann das auch negative Auswirkungen haben. Vielleicht spielt auch das eine Rolle, wenn Brasilien in Momenten wie dem Elfmeterschießen gegen Kroatien die Nerven versagen. Und womöglich ist das ein in der europäischen Perspektive zu oft ignorierter Punkt, wenn ihnen Arroganz oder Überheblichkeit vorgeworfen wird.
gettyWM 2022: Brasilien scheitert an sich selbst - und starken Kroaten
Fußballerisch hat Brasilien das stärkste Turnier seit vielen Jahren gespielt. Auch gegen Kroatien hatten sie genug Chancen, das Halbfinalticket zu buchen. Bereits vor dem Tor von Neymar gab es zahlreiche gute Angriffe, die entweder zu unpräzise ausgespielt oder leichtfertig vergeben wurden.
21 zu neun Abschlüsse, elf zu einem Schuss aufs Tor - aber eben jeweils ein Tor. Brasilien fand in Kroatien seinen Meister. Das Team von Zlatko Dalic hat bei diesem Turnier zwei Grundqualitäten, die der Seleção fehlten: Abgezocktheit und Effizienz. Abgezockt sind sie auf allen Ebenen. Mit ihrer Defensivstärke auf der einen und dem guten Ballbesitzspiel auf der anderen Seite haben sie Brasilien stellenweise die Lust am Spiel genommen.
Kroatien schafft es zwar oft nicht, die eigenen Kombinationen zum Abschluss zu bringen, aber sie lassen sich eben auch kaum unter Druck setzen. Das Mittelfeld behauptet sich selbst unter Druck in den meisten Situationen. 88 Prozent der Pässe kamen gegen Brasilien an. Ein herausragender Wert.
Wenn dann vorn wenige Chancen für die Tore reichen, ist man automatisch das, was in Deutschland gern "Turniermannschaft" genannt wird. Und tatsächlich ist an der deutschen Perspektive auf Brasilien nicht alles falsch. Mehr Fokus, mehr Disziplin und auch etwas mehr Demut hätten ihnen wohl nicht geschadet. Brasilien stolpert wieder über sich selbst. Und doch sollte man in der Lage sein, das Ergebnis vom Spielverlauf zu trennen. Brasilien war auf einem sehr guten Weg. Weniger Schreibtisch und mehr Samba würde vielen Nationen guttun. Auch Deutschland.
WM 2022: Die Viertelfinals am Samstag
Datum | Spiel |
10. Dezember, 16 Uhr | Marokko vs. Portugal |
10. Dezember, 20 Uhr | England vs. Frankreich |