Den 16. November 2002 wird Florian Thorwart wohl nie mehr vergessen: An diesem Tag feierte der damals 20-Jährige für den BVB sein Debüt in der Bundesliga - allerdings nur wenige Sekunden lang. Es sollte zugleich der letzte Einsatz des Innenverteidigers im deutschen Oberhaus gewesen sein.
Im Interview mit SPOX und GOAL spricht der heute 40-Jährige, der einst Kapitän der deutschen U18-Nationalelf war, über seine Zeit bei den BVB-Profis.
Thorwart erzählt von einem gescheiterten Trikottausch mit Liverpool-Legende Steven Gerrard, erinnert sich an sein Sekunden-Debüt für die Borussia und erklärt, weshalb er heute nichts mehr mit dem Fußball zu tun hat.
Herr Thorwart, Sie sind 1992 im Alter von zehn Jahren in die D-Jugend von Borussia Dortmund gewechselt und haben dort die Nachwuchsteams durchlaufen. In der zweiten Mannschaft des BVB, die damals in der Regionalliga und somit der dritthöchsten Spielklasse kickte, wurden Sie später ein etablierter Spieler. Wie erinnern Sie sich an den Winter 2000, als Sie erstmals bei drei Bundesligaspielen im Kader der Profis standen?
Florian Thorwart: Das war bei einem Heimspiel gegen Kaiserslautern und auswärts in Stuttgart und Rostock. Die Profis hatten zu dem Zeitpunkt mit unheimlich vielen Verletzungen zu kämpfen. Ein paar jüngere Spieler wie Timo Achenbach oder Florian Kringe wurden daher in den Kader berufen. Es war für uns natürlich sehr cool, da einmal hineinzuschnuppern. Das kam ehrlich gesagt auch ziemlich schnell und überraschend.
Wie oft hatten Sie zuvor bei den Profis trainiert?
Thorwart: Ganz genau weiß ich das nicht mehr. Es hat aber auf jeden Fall nicht sehr lange gedauert, bis ich nach dem ersten Profitraining das erste Mal auf der Bank saß. Es war aber eher unrealistisch, dass ich in diesen Partien bereits eingewechselt werde.
Ein Jahr später, im Oktober 2001, kamen die nächsten beiden Plätze im Kader dazu: in der Champions League zu Hause gegen Dynamo Kiew und auswärts beim FC Liverpool. Wie war's?
Thorwart: Das war noch einmal ein ganz anderes Gefühl. Die Atmosphäre in Liverpool war ziemlich krass. Da ging mir schon der Stift, ob man noch eingewechselt wird oder nicht. Ich weiß noch, wie ich nach dem Spiel zu Steven Gerrard ging und ihn fragte, ob wir das Trikot tauschen können. Ich fand ihn als Spieler einfach immer super. Er sagte, das dürfe er nicht. Wie ich jedoch später in der Kabine sah, hat er es doch getauscht - mit einem bekannteren unserer Spieler. Ich weiß aber nicht mehr, mit wem. Da war ihm wohl ein junger Einwechselspieler nicht gut genug. (lacht)
Trainer des BVB war Matthias Sammer. Wie sah Ihr Kontakt zu ihm aus?
Thorwart: Er war ein Trainer, der viel reflektiert hat und fast vor jedem Training noch eine kleine Sitzung abhielt. Er gab eher grundsätzlich viel Feedback, nicht nur explizit für die jungen Spieler. Er hat mich aber auch ein paar Mal zur Seite genommen und mir Tipps gegeben.
Zur Seite genommen wurden Sie auch bei Ihrem Bundesligadebüt bei einem 1:0-Heimsieg gegen den TSV 1860 München, als Sie Sekunden vor Schluss für Tomas Rosicky eingewechselt wurden. Wie erinnern Sie sich an den Ablauf?
Thorwart: Es war klar, dass es zeitlich knapp wird und nur noch einer von uns eingewechselt werden kann. Wir haben uns mit ein paar Leuten aufgewärmt. Matthias Sammer hat niemanden konkret zur Bank gewunken, sondern wir sind einfach alle dorthin gegangen. Er hat dann erneut auf uns gedeutet und nur gesagt: Zieh' dich aus. Einen Namen nannte er nicht, es wurde keiner speziell angesprochen. Ich ergriff daher die Chance, weil ich gerne eingewechselt werden wollte. (lacht) Ich tat so, als wäre ich gemeint und zog mir den Pulli aus. Das hat dann geklappt, ich durfte rein. Ich war unheimlich aufgeregt.
Sammer hat Ihnen noch ein paar Worte mit auf den Weg gegeben. Was hat er gesagt?
Thorwart: Da ging es nur um meine generelle Aufgabe und die grobe Marschrichtung. Ich sollte direkt in die Defensive gehen und nicht für Tomas Rosicky den Spielmacher geben.
Sie liefen schließlich aufs Feld und wenige Sekunden später ertönte der Abpfiff. Waren Sie überrascht, dass so schnell Schluss war?
Thorwart: Ja. Ich dachte, das geht vielleicht noch so eine Minute. Roman Weidenfeller - der in dieser Partie übrigens sein Debüt für den BVB gab - machte aber einen Abschlag, der Ball war noch nicht wieder auf dem Boden aufgekommen, und der Schiedsrichter pfiff direkt ab. Das fand ich dann schon etwas seltsam.
imago imagesWas passierte im Anschluss?
Thorwart: Michael Zorc hat mir zum Debüt gratuliert, der hatte das auf dem Schirm. Ansonsten ist dieser Mini-Einsatz wenig verwunderlich eher untergegangen.
Wie erging es Ihnen: Konnten Sie sich freuen?
Thorwart: Klar, schließlich bekam ich eine Einsatzprämie über 1666 Euro. (lacht) Spaß beiseite: Trösten musste mich natürlich niemand, aber ein bisschen geärgert habe ich mich auf jeden Fall. Es war zwar ein Bundesligaeinsatz, aber irgendwie auch doch nicht. Es wäre schon nett gewesen, wenn ich zumindest ansatzweise in eine Richtung hätte laufen müssen.
Mit welchen Gefühlen blicken Sie heute darauf zurück?
Thorwart: Damals wie heute bin ich stolz darauf, ansonsten sind meine Gedanken aber dieselben wie gerade beschrieben. Ein paar Minuten wären eine schönere Erinnerung als nur die paar Sekunden.
Wie viele Sekunden waren es denn?
Thorwart: Ich meine, es waren vier.
Sie müssten damit Rekordhalter sein - oder wissen Sie von jemandem, der kürzer gespielt hat?
Thorwart: Nein.
Nach Ihrem Bundesligadebüt folgte in Dortmund jedoch kein weiterer Kaderplatz bei den Profis. Wieso?
Thorwart: Ich muss ganz realistisch sagen, dass ich ja nicht deshalb im Kader stand, weil ich mich besonders nah an die erste Mannschaft gespielt hätte. Das hing auch damals mit einer Verletztenmisere zusammen. Ich hatte insgesamt gesehen kein Bundesligaformat. Dazu fehlte mir etwas in körperlicher Hinsicht und auch vom Instinkt her. Ich musste mir immer alles mit Fleiß und Einsatz erarbeiten. Als ich dann gesehen habe, was die BVB-Profis für Voraussetzungen mitbrachten - davon war ich einfach zu weit entfernt.
Welcher der Dortmunder Profis beeindruckte Sie denn am meisten?
Thorwart: Es ist unmöglich, jemanden in fußballerischer Hinsicht herauszuheben, denn da waren so viele Hochkaräter dabei. Was den Charakter angeht, erinnere ich mich gerne an Jörg Heinrich, der damals ja auch schon eine tolle Karriere hatte. Er war sehr bodenständig, kein bisschen distanziert und total nett. Ein korrekter Kumpeltyp, der auch sofort auf uns junge Spieler zugegangen ist.
Gibt es eine Anekdote, die Sie im Zusammenhang mit Ihrer Zeit bei den Profis gerne erzählen?
Thorwart: Da fiele mir jetzt spontan mein erstes Mal im Trainingslager in Spanien ein. Gleich im ersten Training stieg mir nach ein paar Minuten Jan Koller mit seinen 100 Kilogramm Gewicht und Schuhgröße 50 ordentlich, aber unbeabsichtigt auf den Fuß. Da habe ich schon mit den Ohren geschlackert und gedacht: Wo bist du denn hier gelandet? (lacht) Er hat sich dann ganz lieb entschuldigt und ausgefallen bin ich deshalb auch nicht.
Sie sind nach Ihrer Debüt-Saison und elf Jahren beim BVB im Sommer 2003 zum VfB Lübeck in die 2. Liga gewechselt. Später stiegen Sie noch mit Rot-Weiss Essen in die 2. Liga auf und spielten bei der SSVg Velbert 02 und Schalke II in der Oberliga. Ab wann mussten Sie einsehen, dass das eher Ihr Niveau ist und es für ganz oben nicht reicht?
Thorwart: Ich habe das auch aufgrund der Erfahrungen bei den Profis schon relativ früh so eingeschätzt. In der Bundesliga hatte ich kaum Chancen, um zügig an ausreichend Spielpraxis zu kommen. Der Schritt in die 2. Liga war daher die logische Konsequenz. Ich wollte sehen, wie ich mich dort entwickeln kann, ob eventuell noch einmal ein Schub kommt oder ich damit einfach zufrieden bin. Das war dann auch so. Lübeck war zunächst vor allem eine gute Gelegenheit, um sportlich weiterzukommen und auch einmal etwas außerhalb von Dortmund zu sehen.
Ihre Karriere beenden mussten Sie schließlich im November 2009 mit 27 Jahren. Warum?
Thorwart: Das war notgedrungen. Die Sache bei Schalke war noch einmal ein interessantes Projekt, da ich dort als älterer Spieler ein wenig die Jüngeren anleiten sollte. Damals stand der Fußball aber nicht mehr so sehr in meinem Fokus. Meine Hüfte war für die Dauerbelastung nicht gerade geschaffen, der Verschleiß hatte sich bemerkbar gemacht. Daraus entstand ein sogenanntes Impingement-Syndrom. Durch die Belastung bildete sich zu viel Knochengewebe an Stellen, an denen es eigentlich gar nicht sein soll. Das verursachte mir schon längere Zeit Schmerzen. Es hätte sich nicht gelohnt, auf höherem Niveau weiterzumachen, nur um später eine künstliche Hüfte zu benötigen. Ich bin froh, dass ich heute noch viel Sport treiben kann.
gettyWas machen Sie heute beruflich?
Thorwart: Ich arbeite glücklich und zufrieden bei der Stadt Dortmund als Verwaltungsfachangestellter.
Haben Sie noch Bezug zum Fußball oder Kontakt zu früheren Teamkollegen?
Thorwart: So gut wie gar keinen mehr, weder noch. Ich habe den Sport unheimlich gerne gemacht, aber noch nie besonders gerne Fußball geschaut. Das war mir immer zu langweilig. Ich verfolge den BVB aber natürlich und hoffe, dass man mal wieder vor den Bayern landet.