Die Vorbereitung auf die WM geht in die heiße Phase. Joachim Löw steht vor einem ganzen Berg unbeantworteter Fragen. Die Tage in Südtirol sind von grundlegender Bedeutung.
Manchmal sind es die kleinen Zwischentöne, die von entscheidender Bedeutung sind. Joachim Löws Wort ist ein gefragtes Gut in diesen Tagen und im Vorfeld auf die Weltmeisterschaft in Südafrika selbstredend ein universaler Indikator für den Stand der Vorbereitungen.
Also wird viel nachgehakt und interpretiert, notiert und bewertet. Aus den unzähligen Fragmenten sticht aber ein offenkundig unscheinbarer Satz besonders hervor, den der Bundestrainer jüngst hat fallen lassen: "Wir müssen uns regelrecht reinarbeiten in dieses Turnier."
Löw und sein Trainerteam haben es wahrlich nicht leicht in diesen Tagen der Vorbereitung. Mit Michael Ballack und Rene Adler fallen zwei zentrale Figuren der Mannschaft für das Endturnier aus, der eine Kapitän, der andere die vorbestimmte Nummer eins.
Alle Mann an Bord
Dazu erschwert das Terminplan-Puzzle Löws Arbeit zusätzlich. Quasi tröpfchenweise trudelten seine Auserwählten ein, ein geregelter Arbeitsablauf war in den letzten Tagen nur bruchstückhaft möglich. Jetzt aber ist das Vorgeplänkel vorbei.
Mit den sieben Bayern-Spielern ist der vorläufige WM-Kader ab Mittwoch endlich komplett, dann kann Löw voll einsteigen in ein Unternehmen, das spätestens nach Ballacks Aus so aussichtslos erscheint wie der Gewinn eines Grand-Slam-Turniers durch einen deutschen Tennis-Profi.
Bisher war das Programm durchsetzt mit allerhand Teambuilding-Maßnahmen und Einheiten mit überschaubarem Trainingscharakter, ein beschwingter Geist sollte entstehen. Jetzt aber kommen die Spieler der besten Vereinsmannschaft Deutschlands ins beschauliche Südtirol - und mit ihnen eine ganze handvoll Führungsspieler und ein deutlich auffrischender Wind.
Khedira macht den Ballack
Die heiße Phase der Vorbereitung hat begonnen. Im Grunde wird die WM am Montag beginnen. Jetzt wird geprobt, ausprobiert, getüftelt, oder wie es Löw nennt, "der Feinschliff geholt". Und am Ende wird aussortiert. 26 Spieler umfasst der Kader, 23 davon wird der Bundestrainer am 1. Juni der FIFA als endgültigen Kader übersenden müssen.
Jetzt werden die Lösungen gefunden auf die dringlichsten Fragen, von denen es so viele gibt, dass Löw beinahe gar nicht mehr weiß, mit welcher er am besten anfangen soll. Die endgültigen Antworten darauf wird es erst in Südafrika geben. In Form von Punkten und Toren.
Immerhin lässt sich Löw schon zu ersten vagen, und manchmal auch zu sehr konkreten Andeutungen hinreißen. So steht Sami Khedira als Ballack-Ersatz nicht nur in den Startlöchern. Der Stuttgarter wird die Position des 33-Jährigen ausfüllen.
"Man kann davon ausgehen, dass Khedira der erste Anwärter für diese Position ist. Er hat großes Potenzial und ist ein Spieler, der beim VfB Stuttgart schon viel Verantwortung übertragen bekommt - und zeigt, dass er der auch gewachsen ist", sagt Löw.
Der Star ist die Mannschaft
Das heißt im Umkehrschluss auch, dass er seiner bevorzugten Formation mit zwei zentralen defensiven Mittelfeldspielern treu bleiben wird. "Unser System steht, da wird nichts geändert. Das war sowieso immer unabhängig von Personen. Die Spieler sind gezwungen, die Aufgaben in dem System wahrzunehmen."
Flexibilität ist gefragt. Die deutsche Nationalmannschaft war Jahrzehnte lang geprägt von großen Alphatieren. Jetzt muss plötzlich die Mannschaft der große Star sein. Oder besser werden. Im Findungsprozess bleiben Löw gerade gut zwei Wochen und genauso viele ernsthafte Testspiele.
Dann muss das Gerüst stehen und mit ihm die Mechanismen funktionieren. Ohne Ballack, den dominanten Spieler des letzten Jahrzehnts im Nationalteam, eine unheimlich schwere Aufgabe. Trotzdem sieht Löw im Ausfall seiner Basis auch eine große Chance.
"Es ist häufig so, dass andere nach vorne kommen, wenn ein Führungsspieler ausfällt. Solch eine Reaktion brauchen wir für die WM. Ich erwarte, dass sich andere Spieler entsprechend präsentieren. Das muss man verlangen. Es wird noch mehr Verantwortung auf einem Bastian Schweinsteiger liegen. Auch Lahm, Klose oder Mertesacker müssen über sich hinauswachsen."
Unerfahren wie noch nie
Einzelne Spieler können auch trotz einer langen und kräftezehrenden Saison noch einmal einen Höhepunkt setzen. Aber kann der Kader das in seiner Gesamtheit auch? Immerhin ist die Mannschaft in ihrer momentanen Zusammensetzung die unerfahrenste aller Zeiten.
Sieben U-21-Europameister sind dabei, dazu bis vor einem Jahr noch gänzlich unbekannte oder unspektakuläre Spieler wie Thomas Müller, Christian Träsch oder Cacau. 15 Spieler haben weniger als zehn Länderspiele absolviert. Von der WM-Mannschaft 2006 sind lediglich sieben Spieler vertreten.
"2008 war ich noch der jüngste Spieler im Kader, jetzt liege ich schon in der Mitte", sagt der Hamburger Marcell Jansen. Auch so ein Spezialfall übrigens. Jansen wäre gesetzt, muss aber wegen seiner immer noch nicht ganz auskurierten Syndesmosebandverletzung um seine Teilnahme zittern.
Entscheidende Woche
Noch in dieser Woche soll eine zwar eher nebensächliche, aber für das Mannschaftsgefüge doch wichtige Entscheidung fallen. Von den sieben Bayern-Spielern stehen drei in der Auswahl zum neuen Kapitän der Mannschaft.
"Wir sind in unserer Entscheidungsfindung bei der Torwart- und Kapitänsfrage klar", sagt Löw. Allerdings möchte er zunächst Einzelgespräche mit den betreffenden Spielern führen, bevor er es der Öffentlichkeit mitteilt. "Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger sind Kandidaten. Aber auch ein Miro Klose. Er hat die meisten Länderspiele."
Alleine hier offenbart sich aber sogleich die nächste Hürde für den Bundestrainer. Klose mag die meisten Länderspiele auf dem Buckel haben - aber er hat eben auch keinen Stammplatz.
Der deutschen Mannschaft und ihrem Trainerteam steht eine entscheidende Woche bevor. Wohl noch nie zuvor waren die letzten Tage eines Trainingslagers von so entscheidender Bedeutung für eine Mission wie dieses Mal. Die Zeit der großen Erkenntnisse ist angebrochen.