Unter Ernst Happel erlebte der Hamburger SV seine erfolgreichste Ära. Kein Wunder, immerhin gilt der legendäre Trainer als Begründer einer taktischen Ahnenreihe, die über die Niederlande bis FC Barcelona der Ära Pep Guardiola führt. Am 29. November hätte der gebürtige Wiener seinen 96. Geburtstag gefeiert.Dieser Artikel erschien ursprünglich am 21. Mai 2013 im Rahmen der Reihe "50 Jahre Bundesliga" auf SPOX.com
Wortkarg, zynisch, jähzornig, arrogant: Ob einer wie Ernst Happel auch im modernen Fußball noch funktionieren würde? Die plausibelste Antwort lautet wohl, dass er sich heute schlichtweg anders verhalten würde. In einer Zeit, in der Authentizität noch keine Kategorie der Selbstvermarktung war, konnte er sich seine schlechten Manieren leisten.
Heute wäre er vermutlich clever genug, das Design der medialen Öffentlichkeit zu durchschauen und sich halbwegs damit zu arrangieren. Denn wenn es etwas gab, was er mehr brauchte als seinen Wiener Grant, dann war es der Fußball.
"Ein Tag ohne Fußball ist ein verlorener Tag." Ernst Happels Selbstbeschreibung liefert mehr als die gefällige Floskel vom positiv Verrückten, wie sie heute die Lebensläufe diverser Fußballer schmückt. Sie gibt den Blick frei auf eine widersprüchliche und bisweilen auch abgründige Persönlichkeit.
Ein obsessiver Charakter, der sich die Nächte mit Cognac in der Spielbank vertreibt, oder bis zum Sendeschluss alleine vor dem Fernseher ketteraucht, weil er buchstäblich nicht abschalten kann. Ein Getriebener, dessen Besessenheit für Fußball ihn aber auch zu einem der besten Trainer der Welt und zum taktischen Vordenker ganzer Generationen machte.
Ein Schleifer der besonderen Sorte
Denn Happel galt zwar als Schleifer, doch Kondition und Disziplin waren für ihn nur notwendige Grundvoraussetzungen. Seinen eigentlichen Lustgewinn zog er aus dem Spiel. Und aus der Überlegenheit seiner Philosophie. Erst in der Suche nach dem "totalen Fußball" konnte er seinen Perfektionismus ausleben.
Bereits als Aktiver von Rapid Wien war Happel zwar einer der besten Abwehrspieler Europas. Etwas faul und ballverliebt, aber technisch überlegen und intelligent sammelte er nicht nur sechs nationale Meistertitel, sondern modernisierte damals bereits die Rolle des Verteidigers, indem er sich häufig mit in die Offensive einschaltete und mit seinem Gespür für den Raum eine Vorform des Liberos installierte. Zur echten Stilikone aber wurde er erst als Trainer.
Happels Laufbahn begann 1962, im Alter von 36 Jahren, in den Niederlanden. Und nicht wenige sehen in ihm den Beginn einer taktischen Ahnenreihe, die über Rinus Michels, Johan Cruyff, Louis van Gaal und Pep Guardiola direkt zum heutigen Fußball des FC Barcelona führt.
Die erste Station war der chronische Abstiegskandidat ADO Den Haag, den er schon in seinem ersten Jahr ins niederländische Cupfinale führte und innerhalb von sechs Jahren kontinuierlich zu einem Meisterschaftsaspiranten umformte. Eine überraschende Entwicklung, die Den Haag 1968 schließlich zum Pokalsieger machte - und Happel zu einem gefragten Mann.
Stilratgeber für die Niederlande
Denn die neuartige Spielweise, mit der seine Mannschaft die Gegner reihenweise überforderte, wurde schließlich stilbildend in den Niederlanden. Noch vor Michels führte er das später beinah sakrosankte 4-3-3-System ein. Seine Spieler verteidigten für die damalige Zeit extrem hoch und perfektionierten die bis dahin kaum praktizierte Abseitsfalle. Lange vor Cruyff sprach er vom "totalen Spiel" und stellte auf Raumdeckung um.
"Für die Manndeckung brauchst du nur elf Esel auf dem Platz", sagte Happel. Er aber verlangte nach intelligenten und laufbereiten Spielern. Denn schließlich war seine wichtigste Waffe das "Pressing", das er vermutlich als Erster im europäischen Fußball in einer organisierten Form etablierte. Als unentwegten "Kampf gegen die Ruhe" bezeichnete Happel seine neue Konzeption: "Den Gegner in dessen Hälfte zurückdrängen, ihn festnageln, am Aufbau behindern, zerschlagen, was noch gar nicht entstand; und sich dann selber entwickeln."
Wie weit er damit seiner Zeit voraus war, zeigte sich, als er nach dem Pokalsieg zu Feyenoord Rotterdam wechselte, wo er deutlich mehr individuelle Qualität im Kader hatte. Er wurde auf Anhieb Meister und holte im selben Jahr mit Feyenoord als erster niederländischer Klub den Europapokal der Landesmeister und anschließend den Weltpokal. Fünf Jahre blieb er in Rotterdam und prägte den Aufstieg der holländischen Schule mit, ehe er 1973 seinen Abschied mit den Worten nahm: "Wir haben so viel erlebt, ich muss aufhören. Mit zu viel Siegen geht die Disziplin zurück. Wir werden zu sehr Freunde. Man leidet und weint, man lacht und gewinnt zusammen. Und das darf nicht zu lang dauern."
Über Sevilla ging er nach Belgien, wo er den bis dahin eher mittelmäßigen FC Brügge zu drei Meistertiteln in Folge und in die europäische Spitze führte. Als niederländischer Nationaltrainer erreichte er 1978 das WM-Finale, mit Standard Lüttich gewann er den belgischen Pokal - und wechselte 1981 schließlich zum Hamburger SV.
gettyHappel formte den HSV ohne Worte
Sein Ruf als Taktikgenie eilte ihm damals schon weit voraus. Was die HSV-Spieler und Verantwortlichen von damals aber nachhaltig beeindruckte, war vor allem seine Art der Menschenführung. Günter Netzer, der ihn als Manager damals nach Norddeutschland holte, schwärmt noch heute: "Happel konnte jedem Spieler erklären, was er von ihm wollte. Viererkette, Forechecking, Abseitsfalle, das alles konnte Happel erklären. Nicht mit Worten, der hat ja nicht gesprochen, und wenn er gesprochen hat, konnte man es nicht verstehen. Aber seine Übungseinheiten waren so, dass es den Spielern in Fleisch und Blut überging."
Ein Mann der großen Worte wurde Happel also auch in Hamburg nicht. Mit der Presse sprach er am liebsten gar nicht, mit seinen Spielern nur das Nötigste. Nicht selten endeten seine Ansprachen nach nur wenigen Minuten und mit dem schlichten Hinweis: "Und vergesst's des Pressing ned!"
Trotzdem schwören damalige Spieler wie Felix Magath, Horst Hrubesch oder Thomas von Heesen noch heute, dass sie für ihren Trainer durchs Feuer gegangen wären. Und darauf legte Happel auch großen Wert: "Ein Trainer ist nur wertvoll für die Mannschaft, wenn sie ihn akzeptiert. Tun die Spieler es, hängen sie an seinen Lippen, tun sie es nicht, hängt er ihnen zum Hals raus. Man muss dabei in erster Linie Mensch sein. Man kann hart auftreten, ohne Brutalität, aber menschlich. Die Spieler müssen Respekt haben. Ein Spieler kann nur Respekt haben, wenn er überzeugt ist, dass der Trainer ein Fachmann ist und die Materie beherrscht, sonst lachen die Spieler den Trainer aus."
Wie er sich den nötigen Respekt in Hamburg verschaffte, erzählte Manni Kaltz einst in der wohl berühmtesten Anekdote über Happel: Vor der ersten Trainingseinheit stellte der damals 55-Jährige eine Getränkedose auf das Lattenkreuz, schoss sie von der 16-Meter-Linie im ersten Versuch herunter und sagte: "Nachmachen!". Nachdem alle außer Franz Beckenbauer gescheitert waren, wiederholte er das Kunststück und begann dann mit dem Konditionstraining.
Leidenschaft, Hingabe und Wille für die Perfektion
Respekt und Autorität waren wichtig für Happel, Angst allerdings sollten seine Spieler nie haben. Im Gegenteil: Häufig diskutierte er mit der Mannschaft sogar taktische Varianten und bezog sie - zumindest zum Schein - in Entscheidungen mit ein. Es kursieren sogar Gerüchte, wonach Happel einen durchaus liebenswerten Charme an den Tag legen konnte - und das nicht nur als Lebemann in den Wiener Kaffeehäusern, sondern auch als Trainer.
Freilich nur dann, wenn man seiner Linie folgte. Denn wie alle Perfektionisten erwartete er von seinem Umfeld zwar keine Perfektion - aber doch zumindest Leidenschaft, Hingabe und den Willen, sie zu erreichen. Was dagegen den Jähzorn ihn ihm weckte, war zusehen zu müssen, wie jemand sein Talent vergeudete.
Das beste Beispiel dafür lieferte in Hamburg sein Streit mit Wolfram Wuttke. Zwar beteuerte Happel, er "liebe Spieler wie Wuttke", dennoch beleidigte er seinen Stürmer mehrfach öffentlich, weil er zu wenig Durchsetzungsvermögen und Laufbereitschaft zeigte. "Was bringt mir ein Spieler, der mit dem Ball alles kann, aber ohne Ball kommt gar nichts", sagte Happel schließlich und warf Wuttke aus der Mannschaft.
Die Siege, die er bis dahin eingefahren hatte, gaben ihm ohnehin Recht. In den sechs Jahren unter Happel erlebte der HSV die erfolgreichste Ära der Vereinsgeschichte. Meister und UEFA-Cup-Finalist in der ersten Saison. Deutscher Meister auch im zweiten Jahr, getoppt von seinem größten Triumph: dem Sieg im Finale des Landesmeisterpokals gegen Juventus Turin.
Er lebte den Fußball bis zum Ende
Als DFB-Pokal-Sieger verabschiedete er sich 1987 schließlich aus Deutschland. Eine schwere Magenerkrankung hatte Happel nachdenklich gemacht: "Ich will nicht im Ausland totgehen", sagte er lapidar und kehrte zurück nach Österreich in seine Heimat.
Wenig später erhielt er die Diagnose Lungenkrebs. Zwar arbeitete er weiter als Trainer beim FC Swarovski Tirol, doch meldeten sich auch Kritiker, die behaupteten, man könne Happel auf der Trainerbank beim Sterben zusehen.
Doch Happel wäre nicht Happel, wenn er sich zurückgezogen hätte. 1991 übernahm er sogar noch die österreichische Nationalmannschaft. Doch am 14. November 1992 starb er in Innsbruck. Vier Tage später fand das Länderspiel gegen Deutschland statt. Seine berühmte Kappe lag 90 Minuten lang auf seinem Platz.