Am Rande eines Europapokal-Spiels flüchtete Falko Götz 1983 aus der DDR und wurde Bundesliga-Profi, UEFA-Cup-Sieger und Führungsspieler bei Galatasaray. Als Trainer prägte er die Hertha der 2000er, trainierte vietnamesische Fußballer und machte eine besondere Erfahrung im Erzgebirge. Im Interview mit SPOX und GOAL blickt Götz auf seine Karriere zurück.
Der 59-Jährige ehemalige Offensivspieler spricht über den Flucht-Abend in Belgrad, den Fußball der 80er und 90er und die besondere Rolle von Erfolg im türkischen Fußball.
Heute ist er Scout bei Bayer 04 Leverkusen und erklärt, warum in Aue kein Mensch ein Bayern-Trikot trägt, warum er 2011 nach Vietnam ging und auf was sich Hertha BSC bei Felix Magath einstellen muss.
Herr Götz, entscheidend für Ihre Karriere war die Flucht aus der DDR am Rande eines Europapokalduells mit dem BFC Dynamo. Welche Erinnerungen an jenen Abend im November 1983 sind geblieben?
Falko Götz: Davon ist noch einiges präsent. Mit 21 Jahren war das ein ziemlich einschneidendes Erlebnis in meinem Leben. Am Abend wartete Partizan Belgrad, zuvor haben wir um die Mittagszeit einen Einkaufsbummel gemacht. Wir sind mit dem Bus in die Innenstadt gefahren und haben dann frei bekommen, um unser Geld auszugeben. Damals hat man Tagesspesen bekommen, nicht in D-Mark, sondern jugoslawische Dinar. Deswegen musste uns die Führung auch die Möglichkeit geben, das Geld auszugeben. Und das war die Chance zur Flucht. Gemeinsam mit Dirk Schlegel bin ich in ein Einkaufszentrum, dort haben wir einen kleinen Ausgang gesehen und sind von der Mannschaft weggelaufen. Vom Taxistand sind wir dann zur deutschen Botschaft.
Wie ging es für Sie weiter?
Götz: Von da an fing alles bei null, ja, eigentlich sogar mit Schulden an. Ich bin ohne alles rübergegangen. Ich wollte einfach weg aus der DDR. Ich wollte in der Bundesliga spielen und habe bei meiner Entwicklung zum Profi-Fußballspieler wegen meiner Westverwandtschaft Steine in den Weg gelegt bekommen. Profifußball war eh nicht möglich, und eine berufliche Perspektive ist mir trotz guter schulischer Leistungen verwehrt geblieben. Ich bin nie gefördert worden. Deswegen wollte ich in die Bundesliga und dort mein Glück suchen.
Wie haben Sie sich die Fußballwelt in der BRD vorgestellt, als Sie im Zug nach München saßen?
Götz: Das spielte in dem Moment gar keine Rolle. Ein Bild hatte ich vorher schon im Kopf, weil ich wusste, dass ich dort spielen will. Während ich im Taxi saß, und später auf der Autofahrt mit dem Botschaftsauto von Belgrad nach Zagreb, sind mir viele Sachen wegen meiner Familie und meiner Flucht durch den Kopf gegangen. Denn in dem Moment ist mir klar geworden, dass der Schritt endgültig ist. Es gab kein Zurück mehr.
In der BRD angekommen konnten Sie bei Bayer 04 Leverkusen Fuß fassen, Wegbereiter war unter anderem der damalige Manager Reiner Calmund. Wie erinnern Sie sich?
Götz: Calli kam als zweite, dritte oder vierte Person irgendwo ins Spiel. Der wichtigste Kontaktmann zum Fußball in der Bundesrepublik war eigentlich Jörg Berger, den ich noch von der DDR-Junioren-Nationalmannschaft kannte. Leverkusen war damals gerade etabliert in der Bundesliga, war aufstrebend. Es war nicht so viel Druck aus dem Umfeld und aus den Medien da. Eigentlich der perfekte Einstieg für Bundesliga-Neueinsteiger.
Fußballer werden rückblickend oft an Titeln gemessen. Sie können an dieser Stelle unter anderem einen UEFA-Cup-Triumph vorweisen - mit einem Flugkopfballtor im Final-Rückspiel gegen Espanyol Barcelona waren Sie für Leverkusen sogar aktiv dran beteiligt. Eine zufriedenstellende Bilanz?
Götz: Ja, es hat auf jeden Fall Sinn gemacht, dass ich in den Westen abgehauen bin. Denn ich glaube nicht, dass dieser Triumph damals mit einer DDR-Mannschaft, und schon gar nicht mit Dynamo Berlin, möglich gewesen wäre. Reiner Calmund als sportlicher Leiter hat mich unter seine Fittiche genommen und vor allem in dem Jahr, wo ich gesperrt war, aufgebaut.
Hat Ihre Prägung als DDR-Sportler einzelne Entscheidungen später in der Bundesliga beeinflusst?
Götz: Sagen wir es so: Ich habe meine größte Lebensentscheidung schon in jungen Jahren getroffen. Das hat mir Selbstvertrauen für mein weiteres Leben gegeben.
Später spielten Sie unter anderem für Köln, Saarbrücken und Hertha BSC. Wie viel vom deutschen Fußball der 80er und 90er ist heute noch übrig?
Götz: Fußballspieler werden heute ganz anders wahrgenommen. Heute sind sie Idole. Sie sind Vorbilder für Generationen, die ihnen nachgefolgt sind. Die Bezahlung damals war auch deutlich anders als heute. Die Spieler bekommen heute im Monat ungefähr so viel wie wir damals in einem Jahr inklusive Prämien. Das zeigt natürlich die Attraktivität des Fußballs. Ich bin da aber frei von Neid. So hat sich der Fußball eben entwickelt. Durch die hohe Qualität der Bundesliga über Jahre hinweg sind wir zu einer Nation geworden, welche die meisten Zuschauer hat. Das ist doch super.
Sie hatten sogar die Chance, zwei Jahre bei Galatasaray zu spielen. In dieser Zeit liefen Sie in der Champions League auf, wurden zweimal türkischer Meister und Pokalsieger. Wie haben Sie die Türkei und den Fußball dort kennengelernt?
Götz: Das war gerade der Beginn einer sehr guten Zeit im türkischen Fußball. Ich habe mit Spielern wie Hakan Sükür, Tugay Kerimoglu oder Bülent Korkmaz zusammengespielt, die 2002 bei der WM mit Platz drei für den größten Erfolg der türkischen Fußballgeschichte gesorgt haben. Über den Erfolg konnten wir auch unser Privatleben genießen - denn in der Türkei ist es sehr wichtig, Erfolg zu haben. Eine Niederlage macht da in der Öffentlichkeit sehr viel aus.
Was hat Sie an der türkischen Fußball-Mentalität fasziniert?
Götz: Da war immer eine Wahnsinns-Stimmung. Die Derbys waren heiß. Leider nicht immer gewaltfrei, aber schön. Als wir Manchester United in der Champions-League-Qualifikation 1993 geschlagen haben, hat Istanbul förmlich gebrannt. Da war man so stolz auf das Team. Ich werde heute noch von Galatasaray eingeladen. In der Türkei hält man die Tradition sehr hoch.
1997 ging es mit Hertha BSC in die Bundesliga, anschließend beendeten Sie Ihre Karriere. In der Stadt, aus der Sie 14 Jahre zuvor geflüchtet waren. Spielt diese Symbolik für Sie eine Rolle?
Götz: Planen kann man so etwas nicht. Das war eine glückliche Fügung. Ich hatte damals mit Verletzungen zu kämpfen und meinen Trainerschein gemacht. Schließlich hatte ich dann auch direkt ein Angebot als Trainer im Klub vorliegen.
Falko Götz: Die Leistungsdaten seiner Profikarriere
Verein | Zeitraum | Pflichtspiele | Tore | Vorlagen |
BFC Dynamo | 1979-1983 | 46 | 14 | - |
Bayer 04 Leverkusen | 1984-1988 | 140 | 33 | - |
1. FC Köln | 1988-1992 | 161 | 34 | 4 |
Galatasaray Istanbul | 1992-1994 | 77 | 19 | 7 |
1. FC Saarbrücken | 1994-1996 | 47 | 7 | - |
Hertha BSC | 1996-1997 | 17 | - | - |
Nach zweijähriger Fußball-Abstinenz als Trainer sagten Sie 2011 mal den bemerkenswerten Satz: "Eh ich gar nix mache, gehe ich nach Vietnam" - und wurden dort Nationaltrainer. Elf Monate später war schon wieder Schluss. War die Zeit nur ein Zeitvertreib?
Götz: Ich habe den Job da absolut ernst genommen. Es hat mir großen Spaß gemacht, weit weg von Deutschland andere Mentalitäten und Lebensweisen kennenzulernen. Ich hatte in dieser Zeit einfach das Gefühl, mal was anderes machen zu müssen. Schlussendlich war die Flucht damals auch ein Meilenstein: Wäre ich nicht in die BRD gekommen, hätte ich so einen Job in Vietnam nie machen können.
Zuvor waren Sie eine ähnlich kurze Zeit in Kiel. Später in Aue, Saarbrücken und Frankfurt ging es nie so richtig lange. Hat es für Sie als Trainer einfach nicht mehr funktioniert?
Götz: Es ist in meinem Leben eben nicht immer alles nach oben gegangen. Zumindest ging es nie ganz nach unten. Sie erwähnten Aue: Ich habe selten bei einem so herzlichen Verein wie im Erzgebirge gearbeitet. In Aue sind Malocher zuhause. Den Menschen dort tut es doppelt weh, wenn man Leute gut bezahlt und sie keine Leistung bringen. Deswegen erwarten sie, dass du dich voll reinhaust. Im Stadtzentrum von Aue läuft kein Mensch mit Bayern- oder Dortmund-Trikot rum. Die haben alle das Aue-Trikot an. Das ist eine sehr stolze Gegend, wo sehr stolze Menschen leben. Man darf eine Trainer-Karriere nicht an der Qualität der Vereine oder materiellen Dingen messen. Für mich war einfach die Zeit In den Vereinen wichtig.
Angefangen hat Ihre Trainer-Karriere bekanntlich sehr erfolgreich bei Hertha BSC. Sie waren Trainer der Amateure, Nachwuchskoordinator und saßen 2002 und später von 2004 bis 2007 sogar als Cheftrainer bei den Profis auf der Bank. Wie haben Sie den Klub kennengelernt?
Götz: Wir waren damals noch sehr weit weg vom Big City Club. (lacht) Nach sehr langer Durststrecke sind wir 1997 endlich in die Bundesliga zurückgekehrt. In den ersten Jahren ging es darum, in der Liga zu bleiben, danach war man relativ stabil und fast immer international dabei. Dadurch hatte man auch immer Zugriff auf Topspieler. Inklusive einer guten Nachwuchsarbeit. Bei Hertha wurden sehr gute Spieler ausgebildet, die später dann auch eine große Rolle in der Bundesliga gespielt haben.
Als ehemaliger Spieler, Trainer und Nachwuchskoordinator haben Sie tiefe Einblicke in den Verein bekommen. Welches Potential hat dieser Klub?
Götz: Ich weiß nicht, wie man es heute macht. Damals ging es darum, eine Verbindung zwischen Topstars, die eine Hauptstadt braucht, wie Marcelinho, Pantelic oder Arne Friedrich, aber natürlich auch Identifikations-Spielern aus Berlin zu schaffen. Wir hatten in den Jahrgängen 1986 bis 1990 zehn, zwölf potenzielle Bundesligaspieler, die sich teilweise dann auch durchgesetzt haben. Da waren Thorben Marx, Malik Fathi, Sofian Chahed, Sejad Salihovic, aber auch Alex Madlung, Ashkan Dejagah, die Boateng-Brüder oder Patrick Ebert dabei. Schade, dass diese Talente dann aber selten in Berlin geblieben sind. Sie haben anderswo groß Karriere gemacht.
Ist Hertha BSC heute von diesem Weg abgekommen?
Götz: Es gibt noch immer Talente, aber die Ansprüche sind gestiegen. Man sieht sich eher als Klub, der um die internationalen Plätze kämpfen will. Sie haben es mit einem sehr hochwertigen Kader bisher nicht geschafft, die Mannschaft als Team zum Funktionieren zu bringen. Zu was sie in der Lage sind, zeigt allein der vergangene Spieltag. Denn im Vorbeigehen schlägst du Hoffenheim auch nicht 3:0.
Was wäre diesem Kader denn zuzutrauen gewesen?
Götz: Die Namen und die Vita der Spieler sind gut, aber der Kader funktioniert nicht als Team. Die Gründe dafür kann ich nicht nennen, dafür bin ich zu weit weg von Berlin.
Nach dem Einstieg von Investor Lars Windhorst 2019 träumte man in Berlin vom "Big City Club". Drei Jahre später ist davon nicht viel zu sehen. Sie sind Fan des Klubs: Machen Sie sich Sorgen?
Götz: Ich bin seit Kindheit Fan von Hertha BSC, das habe ich auch nicht abgelegt und gebe das auch öffentlich gern zu. Ich würde mir als Fan sehr wünschen, dass der öffentliche Auftritt positiver wird, denn das ist einem Hauptstadtklub nicht würdig. Gremien sollten hinter verschlossenen Türen tagen und ihre Probleme dort austragen. In der Öffentlichkeit werden solche Probleme nicht gelöst. Hertha muss diese Dinge intern lösen. Das sehen die Beteiligten eigentlich genauso, zumindest die, die ich noch aus meiner Zeit kenne.
In der Vereinsführung kommt es immer wieder zu Krach. Investor Lars Windhorst forderte kürzlich den Rücktritt von Präsident Werner Gegenbauer.
Götz: Ich finde es ungewöhnlich, dass sich ein Investor in Vereinspolitik einmischt. Das ist nicht förderlich für die öffentliche Darstellung des Vereins.
Das sieht auch Herthas ehemaliger Kapitän Axel Kruse so, den Sie noch aus gemeinsamen Zeiten kennen. Er kritisierte Windhorst daraufhin scharf.Sie dürften ihn noch aus gemeinsamen Tagen kennen.
Götz: Axel war immer als Mann offener Worte bekannt und äußert seine Emotionen sehr klar, wie auch dieses Mal. Im Wortlaut war das sicher sehr überzogen. Axel ist eigentlich ein sehr verträglicher Typ. Wir kennen uns gut, haben in gemeinsamer Karriere viel Spaß miteinander gehabt.
Um zumindest den Klassenerhalt zu sichern, wurde "Retter" Felix Magath installiert. Sie kennen sich schon seit vielen Jahren. Ist er der richtige Mann zu diesem Zeitpunkt?
Götz: Der Verein befindet sich in akuter Abstiegsgefahr. Da müssen die letzten Register gezogen werden. Er ist der Mann, vor dem die Spieler auf jeden Fall Respekt haben werden. Ich kenne ihn als Spieler, als Trainer-Kollegen, wir haben viele Trainer-Sitzungen und Gespräche miteinander verbracht. Er war als Spieler ein ganz Großer. Er hat alle Schlachten geschlagen, die man als Fußballer schlagen kann. Seine Fußballerfahrung reicht aus, dem ein oder anderen Spieler ein paar Prozente mehr zu geben. Er fordert Ureigenschaften, die im Profifußball notwendig sind. Wenn jetzt der ein oder andere Spieler denkt, dass er nach wie vor nur mit Auge Fußball spielen kann, wird er von Felix Magath eines Besseren belehrt. Da bin ich mir sicher.
Wären Sie für einen Trainer-Posten bei Hertha BSC verfügbar?
Götz: Nein. Diese Geschichte ist für mich vorbei. Als Scout macht es mir großen Spaß, das Team von Bayer Leverkusen weiterzuentwickeln. Wir wollen jedes Jahr um den Einzug in die Champions League spielen, das gehört zu unserem Leistungsanspruch. Ich bin Teil eines tollen Teams, das in ganz Europa unterwegs ist und immer wieder versucht, unsere Mannschaft zu verstärken. Mir macht es Spaß, unserem heutigen Team zuzusehen, das den Fans große Befriedigung geben dürfte.
Am Samstag werden Sie 60 Jahre alt, wie blicken Sie auf ihre Zeit im Fußball zurück?
Götz: Ich bin seit fast 40 Jahren im Profifußball in verschiedensten Aufgaben dabei. Dass sich dieser Kreis von den Anfängen nach meiner Flucht bis zum Scouting heute in Leverkusen geschlossen hat, darüber freue ich mich bis heute. Ich habe nach wie vor viel Spaß am Fußball und hoffe, dass das noch weiter so bleibt.
Abschließende Frage: Waren Sie eigentlich nach Ihrer Flucht jemals wieder in Belgrad?
Götz: Ja. Es gibt einen Dokumentarfilm, zu dem wir extra rübergefahren sind. Da sind wir die gesamte Flucht noch einmal nachgefahren. Ich habe viele Spiele in Belgrad und den ehemals jugoslawischen Ländern gehabt. Dieser 3. November 1983 hat meinen bis dahin geglaubten Lebensweg entscheidend verändert. Glücklicherweise zum Positiven.
Falko Götz: Die Leistungsdaten seiner Trainerkarriere
Verein | Zeitraum | Pflichtspiele | Siege | Niederlagen |
Hertha BSC Amateure | 1997-2000 | 92 | 48 | 29 |
Hertha BSC | 2002 | 13 | 9 | 3 |
1860 München | 2003-2004 | 41 | 12 | 20 |
Hertha BSC | 2004-2007 | 121 | 47 | 35 |
Holstein Kiel | 2009 | 25 | 11 | 7 |
Vietnam | 2011 | 5 | 3 | 2 |
Erzgebirge Aue | 2013-2014 | 43 | 13 | 22 |
1. FC Saarbrücken | 2015-2016 | 21 | 11 | 5 |
FSV Frankfurt | 2016 | 5 | 1 | 4 |
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