Langer Hafer und Verlust des Ballbesitz-Monopols. Dem FC Barcelona wird unter Trainer Tata Martino Stilbruch vorgeworfen. Dabei ist sich Barca im Grunde treu geblieben - und auf dem Weg, besser zu werden. Eine Analyse.
"Wir waren Sklaven des Tiki-Taka." Ein Satz mit Signalwirkung, ausgesprochen von Gerard Pique in einem Interview mit der "Gazzetta dello Sport" Mitte September.
Der FC Barcelona habe seine Spielweise überstrapaziert und sei in seinem System, das den Katalanen jahrelang weltweit Bewunderung und große Titel am Fließband einbrachte, gefangen gewesen. Es sei nötig, so Verteidiger Pique, das Spiel variabler zu machen.
Mit Tata Martino beschäftigt der FC Barcelona seit vielen Jahren wieder einen Trainer, der nicht aus dem eigenen Stall kommt. "Mit Tata haben wir mehr Optionen. Wir spielen den Ball auch mal lang oder probieren es mit einem Weitschuss, wenn wir nicht in Bedrängnis sind", sagte Pique.
Doch inwieweit hat sich das Spiel des FC Barcelona wirklich verändert? Welche Rolle nimmt Neymar ein und gibt es die Abkehr vom Tiki-Taka tatsächlich? Eine Analyse.
Der Spielaufbau
Martino hat am Ausgangssystem 4-3-3 nicht gerüttelt. Die beiden Innenverteidiger platzieren sich relativ tief in der eigenen Hälfte. Die Außenverteidiger machen im Aufbau aus drei Mittelfeldspielern fünf, wobei insbesondere Rechtsverteidiger Dani Alves zurückhaltender agiert als unter Pep Guardiola und Tito Vilanova. Im Vergleich zu Linksverteidiger Adriano positioniert sich Alves aber offensiver (siehe unten die durchschnittliche Positionierung der blauen Rückennummern 21 und 22 beim 4:1 gegen Real Sociedad).
Im Zentrum agiert ein Sechser vor der Abwehr, in der Regel Sergio Busquets. Die Spielmacher, normalerweise Xavi und Andres Iniesta, warten auf den Halbpositionen auf Anspiele. Bei eigenem Ballbesitz wechselt Barca in ein 2-5-3, wobei die Mittelfeldreihe gerne auf einer Linie agiert.
Die beiden Flügelspieler (Neymar links, Sanchez rechts, wahlweise auch Pedro über eine der beiden Seiten) verharren mitunter konsequent auf den Außenbahnen, um das Spiel möglichst breit zu machen und die gegnerischen Außenverteidiger aus dem Zentrum zu ziehen und so Messi als Angreifer in der Mitte Platz zu schaffen.
Messi nimmt sich in vorderster Front immer wieder Auszeiten. Er schleicht sich scheinbar unbeteiligt von den beiden Innenverteidigern weg, verschafft sich so aber Platz, um nach einem Anspiel zum Tempodribbling auszuholen.
Die durchschnittlichen Positionen des FC Barcelona im Spiel gegen Real Sociedad
Teil 4: Es lebe das Tiki-Taka!
Das Defensivverhalten
Ein zentraler Punkt in Martinos Philosophie ist die Präsenz seiner Spieler in der gegnerischen Hälfte. "Das Geschehen soll sich vor dem Tor unseres Gegners abspielen. Es sollen sich möglichst viele Spieler in der Hälfte unseres Kontrahenten aufhalten", sagte der Barca-Coach vor seinem Amtsantritt.
Eine Veränderung betrifft daher das Verhalten bei gegnerischem Ballbesitz: Barca geht in dieser Saison vermehrt ins Pressing, vor allem dann, wenn sich der Gegner im Aufbau für den Pass auf eine der beiden Seiten entscheidet. In diesem Fall gehen die Flügelspieler oder ein Spieler auf den Halbpositionen (z. B. Iniesta) den ballführenden Außenverteidiger an, der Rest rückt im Block nach vorne. So sollen unkontrollierte Bälle aus der gegnerischen Viererkette provoziert werden.
Auch die Rückwärtsbewegung geschieht im Kollektiv, wobei konsequent Jagd auf den Ball gemacht wird. Dadurch verlieren die Barca-Spieler mitunter den Blick für das Schließen des freien Raums. Und dann ist Barca zu knacken (siehe Rayos Angriff in der Diashow).
Barca kann aber auch anders verteidigen: kompakt und abwartend. Dann wird ein 4-1-4-1 gebildet, indem sich die Flügelspieler auf die Höhe der zentralen Mittelfeldspieler zurückziehen. Die gesamte Barca-Mannschaft verschiebt im Kollektiv ballorientiert, der Sechser hält die Abstände zur Mittelfeldkette vor ihm.
Teil 4: Es lebe das Tiki-Taka!
Neymars Rolle
Im Sommer vollzog Neymar den von vielen Experten schon länger geforderten Sprung nach Europa. Der Brasilianer konnte seinen neuen Verein frei wählen - er entschied sich für den FC Barcelona.
In den ersten beiden Ligaspielen gehörte Neymar noch nicht zur Startelf, spielte gegen Levante und Malaga jeweils eine knappe halbe Stunde, ohne großartig aufzufallen.
Seit dem 3. Spieltag gehört er fest zur Stammformation und bekam lediglich am 7. Spieltag in Almeria eine Pause. In seinen fünf Ligaspielen von Beginn an sammelte Neymar stets mindestens einen Scorerpunkt. Er bereitete fünf Tore vor und traf selbst zwei Mal. Nur beim 0:0 in Osasuna ging der Brasilianer leer aus.
In der Champions League leitete Neymar beim 4:0 gegen Ajax Amsterdam Barcas dritten Treffer ein.
Seine Rolle im Barca-Ensemble ist klar definiert: Neymar besetzt beharrlich den linken Flügel (siehe unten Heatmap gegen Real Sociedad). Im Gegensatz zu seinem Pendant auf rechts, Alexis Sanchez, ist sein Aktionsradius überschaubar.
Während sich Sanchez auch in der Defensivarbeit verdient macht und Bälle in der Barca-Hälfte erobert, wartet Neymar auf dem linken Flügel auf Zuspiele aus dem Mittelfeld, um dann je nach Situation ins Tempodribbling zu gehen oder ein Dreieck zu bilden mit Iniesta und dem aufgerückten Linksverteidiger.
Zudem nutzt Neymar oft den sich bietenden Raum zwischen den gegnerischen Verteidigern für Sprints in die Tiefe (siehe Diashow).
Martino schätzt Neymar vor allem als Assistgeber. "Seine Fähigkeit, über die Seite die Mitspieler in Szene zu setzen, ist fantastisch", sagt der Coach. Martino nimmt in Kauf, dass Neymar seltener selbst zum Abschluss kommt. In acht Ligaspielen gab er 16 Torschüsse ab, bereitete aber 18 Schüsse vor.
Neymars Bewegungsbereich im Spiel gegen Real Sociedad
Teil 4: Es lebe das Tiki-Taka!
Es lebe das Tiki-Taka!
Am 21. September 2013 gelang Rayo Vallecano im Liga-Heimspiel gegen den FC Barcelona etwas, das Barcas Gegnern in 315 Spielen zuvor in Folge nicht vergönnt war: das Ballbesitz-Monopol der Katalanen zu brechen. 48 Prozent Ballbesitz für Barcelona wies die Statistik am Ende des Spiels aus. Zuletzt war Real Madrid im Mai 2008 in einem Spiel länger am Ball als Barca; damals standen die Königlichen bereits als spanischer Meister fest.
Das Ende des Tiki-Taka wurde in sämtlichen spanischen Medien beschworen. Eine Übertreibung, die den wahren Gegebenheiten nicht entspricht. Zum einen gehört Rayo Vallecano zu den Mannschaften mit dem meisten Ballbesitz in ganz Europa. In dieser Saison liegen die Madrider Vorstädter bei 63 Prozent - der zweithöchste Wert in Spanien.
Bereits in den letzten beiden Jahren kam Rayo im direkten Duell mit Barca zuhause an die 50-Prozent-Marke heran. Insofern ist der Wert vom 21. September keineswegs revolutionär.
Zum anderen handelt es sich dabei um eine absolute Ausnahme. Barcelona hat in Spanien weiterhin das Monopol auf den Ballbesitz: durchschnittlich 68 Prozent in den ersten neun Ligaspielen.
Martino hat den Ballbesitz orientierten Fußball keineswegs abgeschafft. Das würde auch seine Philosophie konterkarieren. "Meine Spieler sollten immer den Ball haben", sagte er vor Saisonbeginn.
40 Prozent mehr Torchancen
Martino hat das Tiki-Taka nicht eingestampft - er hat es modifiziert. Der FC Barcelona geht weniger verschwenderisch mit seinem Ballbesitz um und sucht stattdessen häufiger das Risiko des finalen Passes. In der letzten Saison erspielte sich Barca in der Primera Division durchschnittlich zehn Torchancen pro Spiel, in dieser Saison sind es bislang 14 - eine Steigerung von 40 Prozent.
Martinos Plan, mehr Risiko im letzten Drittel zu gehen, verursacht per se mehr Fehlpässe und eine kürzere Ballbesitzzeit als zu früheren Barca-Zeiten. "Es kann schon sein, dass wir vielleicht etwas weniger den Ball haben, aber wir produzieren dafür mehr Torchancen", sagt Andres Iniesta.
Er und Xavi bilden nach wie vor das Schaltzentrum im Mittelfeld. Einen Angriff, an dem weder Xavi noch Iniesta beteiligt ist, gibt es Barca nicht. Beide weisen in etwa die gleiche Pass-Statistik wie in der Saison 2012/13 auf. Da Iniesta der offensivere der beiden ist, bestreitet er auch deutlich mehr Zweikämpfe.
Die bisherige Saisonbilanz von Xavi und Iniesta
Martino hatte nie vor, das Spiel des FC Barcelona zu revolutionieren. Er hat lediglich nach Details gesucht, um das Spiel wieder unberechenbarer zu machen. "Meine Aufgabe war und ist es, Alternativen zu schaffen, damit wir nicht vorhersehbar sind", sagte der Coach.
Hierzu gehört auch mal ein langer Ball, wie bei Neymars Torchance nach dem Sprint in den Raum dargestellt. Die Erkenntnis der ersten Spiele unter Martino ist aber: Barca spielt grundsätzlich keinen anderen Fußball. Sie haben ihr Portfolio nur um ein paar Dinge erweitert. Alles Dinge, die den FC Barcelona wieder ein Stück besser machen sollen.