FC Bayern München - Hansi Flick und das Abwehr-Puzzle: Rückkehrer, Neuling und eine Zwickmühle

Dennis Melzer
09. September 202020:23
Kämpfen um einen Stammplatz im nächsten Jahr: Lucas Hernandez (l.), Niklas Süle (v.l.) und Jerome Boateng (r.).imago images / Philippe Ruiz
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Hansi Flick hat in der kommenden Saison mit Blick auf seine Viererkette die Qual der Wahl. Noch zumindest, denn schon vor dem ersten Trainingstag hat er zumindest bis voraussichtlich November eine Option weniger. Zudem könnte der ein oder andere Spieler im Sommer sogar noch gehen. SPOX und Goal werfen einen Blick auf das Abwehr-Puzzle des FC Bayern.

Die Triple-Helden sind zurück im Training, der wohlverdiente Urlaub Geschichte. Bereits am Dienstag bat Fitness-Coach Holger Broich zur Cyber-Einheit, am Freitag steht das erste Mannschaftstraining auf dem Programm.

Hansi Flick und seinem Trainerteam bleibt nicht viel Vorbereitungszeit, die Münchner eröffnen am 18. September gegen Schalke 04 die neue Saison. Dabei wird - neben Star-Neuzugang Leroy Sane - vor allem die Defensivreihe im Fokus stehen.

Der Grund: Quasi erstmals seit seiner Amtsübernahme Anfang November kann der Coach nahezu auf das komplette Abwehr-Ensemble zurückgreifen.

SPOX und Goal zeigen die zahlreichen Optionen und ordnen die Chancen der jeweiligen Protagonisten ein.

FC BAYERN MÜNCHEN - BENJAMIN PAVARD

Der französische Nationalspieler benötigte nach seinem Wechsel vom VfB Stuttgart keine großartige Anlaufzeit, um sich beim Rekordmeister zu etablieren. Ganz im Gegenteil: Pavard mauserte sich schnell zum unangefochtenen Rechtsverteidiger Nummer eins und hatte am Ende wettbewerbsübergreifend die viertmeisten Minuten aller Bayern-Spieler gesammelt.

Dass er im mannschaftsinternen Spielzeit-Ranking nicht noch weiter oben landete, lag vornehmlich daran, dass der 24-Jährige sich im Vorfeld des Champions-League-Turniers verletzte. Aufgrund einer Bandverletzung in der linken Fußwurzel musste Pavard im Achtelfinal-Rückspiel gegen Chelsea passen, auch für das Duell mit Barcelona reichte es noch nicht.

Erst einen Tag vor dem Schützenfest gegen die Blaugrana angereist, durfte Pavard immerhin im Halbfinale gegen Lyon einige Minuten mitwirken, lange wurde sogar über einen Startelf-Einsatz im Endspiel gemutmaßt. Flick, der Pavard eine "herausragende Saison" attestierte, ging das Risiko nicht ein und setzte auf Joshua Kimmich, der im Finalturnier bis dato als hochwertige "Aushilfe" fungiert hatte und im Finale dann sogar das Siegtor von Kingsley Coman vorbereitete.

In der kommenden Saison wird Pavard jedoch wieder die rechte defensive Außenbahn beackern. Zwar ist der Klub auf der Suche nach einem Konkurrenten - und hat dabei dem Vernehmen nach namhafte Spieler ins Visier genommen (Sergino Dest, Max Aarons, Hector Bellerin), wirklich konkret wurde es bislang allerdings bei keinem.

Ist Pavard fit, dürfte es für einen potenziellen Neuzugang ohnehin schwierig werden, den Weltmeister zu verdrängen. Pavard verbuchte in seiner ersten Bayern-Spielzeit ordentliche Zweikampfwerte (54,4 Prozent), blockte die meisten gegnerischen Abschlüsse (14), fing nach Thiago (82) die zweitmeisten Pässe ab (74) und trat darüber hinaus auch offensiv positiv in Erscheinung (vier Tore, sieben Vorlagen).

Pavard war auf der rechten Abwehrseite gesetzt.imago images

FC BAYERN MÜNCHEN - JEROME BOATENG

Hansi Flick hat Boateng aus sportlicher Sicht neues Leben eingehaucht. Der lange Zeit so Schweigsame und Nachdenkliche lacht wieder, albert mit den Kollegen herum und meldet sich auch medial wieder zu Wort. Vor allem, um zu erklären, wie sehr er die Arbeit seines Coaches schätzt.

Ein persönliches Gespräch mit Flick vor der Winterpause habe zu seinem Verbleib geführt, verriet Boateng der Sport Bild. Der Innenverteidiger, dessen Arbeitspapier noch bis Sommer 2021 gültig ist, wurde darüber hinaus auch bezüglich seiner Zukunft deutlich: "Gespräche über meinen Vertrag hinaus gab es noch nicht. Für mich ist aber klar, dass ich den Weg unter Hansi Flick weitergehen werde."

Der 32-Jährige plant also, seinen Vertrag mindestens zu erfüllen. Selbst ein Engagement darüber hinaus sei für ihn denkbar, wie aus seinem Umfeld zu vernehmen ist. Boateng, der schon mehrfach beinahe weg war, fühlt sich wieder wohl in München. Das spiegelt sich vor allem in seinen Leistungen wider. Präsident Herbert Hainer adelte den Routinier jüngst in der Sport Bild als "Pfeiler in der Abwehr", der sich "hervorragend entwickelt" habe.

Boateng wäre gegen Schalke vermutlich Flicks erste Wahl für die halbrechte Position in der Kette gewesen. Allerdings zog sich der Weltmeister von 2014 im Champions-League-Finale gegen PSG früh einen Muskelfaserriss zu, der einen Einsatz zum Saisonauftakt unwahrscheinlich macht. Dennoch: Kehrt Boateng nach überstandener Verletzung ähnlich stark zurück, wird er sich mit Niklas Süle um die vakante Stelle duellieren.

FC BAYERN MÜNCHEN - NIKLAS SÜLE

Während Boateng sicherlich von Süles langer Abwesenheit aufgrund eines Kreuzbandrisses "profitierte", könnte der Rückkehrer nun wiederum zum Nutznießer der Boateng-Blessur avancieren. Bereits im Achtelfinal-Rückspiel gegen Chelsea ersetzte Süle seinen angeschlagenen Teamkollegen nach 63 Minuten, im Halbfinale stand für ihn erstmals wieder eine ganze Pflichtspiel-Halbzeit nach monatelanger Pause zu Buche.

Im Zuge des Boateng-Ausfalls im Finale gegen PSG trug Süle über 65 Minuten seinen Teil dazu bei, dass der FC Bayern sich zum Triple-Sieger krönte. Der ehemalige Hoffenheimer entschied in Lissabon durchschnittlich 87 Prozent seiner direkten Duelle für sich und machte insgesamt einen sehr stabilen Eindruck. Nicht unbedingt selbstverständlich, wenn man die lange Abstinenz Süles bedenkt.

Mittlerweile sieht sich der Nationalspieler auf einem guten Weg, wieder dauerhaft Fuß in Bayerns Innenverteidigung zu fassen. "Es war kein einfaches Jahr für mich", gab er zuletzt zu und schob nach: "Aber ich habe unglaublich hart an meinen Defiziten gearbeitet und viel in meinem Fitnessbereich getan. Ich bin einfach froh, dass mein Knie hält."

Süle ist langfristig das perfekte Puzzleteil für Flick, sofern er von weiteren Rückschlägen verschont bleibt. Mit 24 Jahren ist er gleichermaßen noch entwicklungsfähig, aber dennoch vor allem physisch bereits sehr gut ausgebildet. Boateng kann sicherlich noch auf hohem Niveau agieren, das hat er in der vergangenen Saison hinlänglich bewiesen. Süle hingegen ist der Mann, dem die Zukunft gehört.

FC BAYERN MÜNCHEN - DAVID ALABA

In trockenen Tüchern ist die Vertragsverlängerung des Österreichers noch nicht, obwohl die Zeichen lange darauf hin deuteten, dass Alaba dem Klub langfristig erhalten bleibt. Wie die Sport Bild am Mittwoch berichtete, werde Alaba um eine sofortige Freigabe bitten, sollten die Verhandlungen mit dem deutschen Rekordmeister scheitern. In ein letztes Vertragsjahr ohne Verlängerung wollen demnach sowohl die Bayern als auch der Österreicher nicht gehen.

"Die Situation ist nicht ganz einfach", sagte Trainer Hansi Flick, angesprochen auf die Zukunft von Alaba und den abwanderungswilligen Thiago: "Solange sie im Kader sind, plane ich mit beiden. Wie wichtig der 28-Jährige für das Konstrukt ist, untermauerte er in der vergangenen Saison mehr als eindrucksvoll. Eigentlich als Linksverteidiger gesetzt, sprang Alaba in Zeiten personellen Engpasses in die Bresche, übernahm Verantwortung und brillierte schließlich im Zentrum. "Er ist ein sehr wichtiger Spieler für uns, das Herzstück", schwärmte Flick über seinen neuen Abwehrchef. Der Übungsleiter ergänzte: "Er ist nicht nur ein Weltklassespieler, sondern auch neben dem Platz wichtig."

Tatsächlich machte Alaba, der jahrelang als verlässlicher Außenverteidiger galt, nicht nur sportlich, sondern auch hinsichtlich seiner Persönlichkeit im vergangenen Jahr einen riesigen Schritt nach vorne, stieg zum Anführer empor. Über 300 Balleroberungen, eine positive Zweikampfbilanz von 57 Prozent und eine Passquote jenseits der 90 Prozent (90,48, nur Thiago war mit 90,63 Prozent noch passsischerer) sprechen eine deutliche Sprache.

Alaba ist auf der halblinken Position gesetzt, er genießt das vollumfängliche Vertrauen seines Trainers und der Mannschaft. "David ist seit zwölf Jahren bei uns und passt wie die Faust aufs Auge zum FC Bayern", sagte Karl-Heinz Rummenigge nach dem Triple-Erfolg. Eine realistische Einschätzung - der Status der Vereinslegende ist ihm schon jetzt gewiss.

FC BAYERN MÜNCHEN - ALPHONSO DAVIES

Der märchenhafte Aufstieg des Alphonso Davies fand in Lissabon mit dem Champions-League-Sieg seinen zwischenzeitlichen und quasi kaum noch zu toppenden Höhepunkt. Unvergessen bleibt sein Solo im Viertelfinale gegen den FC Barcelona, als er Nelson Semedo auf der linken Seite narrte und zur Krönung des Ganzen Joshua Kimmich bediente, der nur noch zum zwischenzeitlichen 5:2 einschieben musste.

Nur eine von etlichen Szenen, die sinnbildlich für die Entwicklung des jungen Kanadiers seit Anfang November stand. Davies, der 2019 als gelernte Offensivkraft aus Vancouver an die Isar gewechselt war, etablierte sich in nahezu beispielloser Art und Weise binnen kürzester Zeit als Linksverteidiger und sorgte dabei ganz besonders mit seiner unnachahmlichen Sprintstärke für frustrierte Gesichter bei seinen Gegenspielern.

Auch die Zahlen aus Davies' erster echten Profi-Saison bei den Bayern stützen die These, dass die Münchner sich mit dem Youngster einen potenziellen Weltklassespieler geangelt haben. Nur Thiago (60,69) weist in puncto Zweikampfbilanz von allen regelmäßig eingesetzten Akteuren einen besseren Wert auf als Davies (58,64), ähnlich sieht es in der Statistik Balleroberungen aus: Auch hier hatte einzig der Spanier in der vergangenen Saison die Nase vor dem Shootingstar (345 zu 318).

Es gibt keinerlei Gründe für Flick, nicht auch in der kommenden Spielzeit auf Davies zu setzen. Die Sprint-Koryphäe (mit 36,51 km/h schnellster Bundesligaspieler seit Erfassung detaillierter Daten) ist die erste Wahl auf der linken Abwehrseite.

Davies und Hernandez auf dem Trainingsplatz mit Trainer Flick.imago images / Sven Simon

FC BAYERN MÜNCHEN - LUCAS HERNANDEZ

Der Franzose hätte sich sein erstes Jahr in der bayrischen Landeshauptstadt sicherlich anders vorgestellt. Anstelle des Stammspieler-Status kam Hernandez lediglich die Rolle des Edelreservisten zu. Das hing einerseits damit zusammen, dass der Neuzugang von Atletico Madrid immer wieder von Verletzungen zurückgeworfen wurde, andererseits lieferten seine Konkurrenten schlicht und einfach zu beeindruckend ab.

Als linker Innenverteidiger hat sich Alaba den Status des Unantastbaren erspielt, Hernandez' zweite mögliche Position auf der defensiven Außenbahn beansprucht Davies - und die Option, mit zwei linksfüßigen Spielern im Zentrum zu agieren, widerstrebt Flick. Sprich: Sollten die Bayern nicht von einer Verletzungsflut in der Defensive heimgesucht werden, bleibt Hernandez ein kostspieliger Ersatzmann.

Aufgrund des engmaschigen Spielplans, in dessen Zuge einigen Spielern mehr Ruhepausen verordnet werden könnten, darf sich der Rekordtransfer immerhin Hoffnungen auf mehr Einsatzminuten machen. Dennoch hat Hernandez sicherlich einen anderen Anspruch, der 24-Jähriger steckt in einer Zwickmühle.

Ein möglicher Wechsel, über den aufgrund der wenig zufriedenstellenden Situation immer wieder spekuliert wurde, steht jedoch nicht zur Debatte. Die Verantwortlichen beim FC Bayern wollen Hernandez Zeit geben, setzen Vertrauen in den Defensivspezialisten, der sich mit über den Kopf gestülptem Henkelpott jüngst als Feierbiest entpuppte. Dass sich in absehbarer Zeit etwas Grundlegendes an seiner einigermaßen misslichen Lage ändert, ist allerdings aktuell unrealistisch.

FC BAYERN MÜNCHEN - TANGUY NIANZOU

Mit Tanguy Nianzou sicherte sich der FC Bayern (ablösefrei) einen echten Rohdiamanten des europäischen Fußballs, Sportvorstand Hasan Salihamidzic bezeichnete den 18-Jährigen gar als einen der "besten Spieler Europas im Jahrgang 2002".

Während sich die Münchner die Hände ob des Deals rieben, kam bei Nianzous Ausbilderverein Paris Saint-Germain Unmut auf. Trainer Thomas Tuchel konnte die Entscheidung des U-Nationalspielers nicht nachvollziehen, immerhin hätte ihm doch in der französischen Hauptstadt "eine große Zukunft" bevorgestanden.

Nianzou kam für die PSG-Profis in der vergangenen Saison 13-Mal zum Einsatz, wurde von Tuchel wahlweise als Innenverteidiger oder im defensiven Mittelfeld aufgeboten. Nianzou besticht neben seiner Flexibilität vor allem mit großer Qualität in der Spieleröffnung, ist technisch beschlagen und kopfballstark. Eigenschaften, die laut Brazzo "perfekt in das Anforderungsprofil unserer Mannschaft" passen.

Außerdem weiß der 1,94-Mann auch vor des Gegners Tor zu gefallen. Im Liga-Spiel gegen Amiens steuerte Nianzou einen Doppelpack bei, im Halbfinale des Ligapokals hatte er gegen Stade Reims einige Wochen zuvor sein erstes Tor für die erste Mannschaft erzielt. Er wolle "vorankommen", gab Nianzou im Rahmen seiner Vorstellung an der Säbener Straße zu Protokoll, deshalb sei der FC Bayern "die richtige Wahl."

Noch vor Start der Vorbereitung gab es für Nianzou allerdings einen Rückschlag. Im Training der französischen U20-Nationalmannschaft verletzte er sich am Oberschenkel und wird sechs bis acht Wochen fehlen.

Dennoch: Die Vergangenheit hat besonders in Davies' Fall gezeigt, wie schnell es manchmal gehen kann. Nianzou dürfte nach seiner Rückkehr von der Verletzung jedoch langsam aufgebaut werden, aufgrund des nahenden Abschiedes Thiagos und des derzeitigen Überangebots in der Viererkette kommt er auch als Mittelfeld-Backup für Leon Goretzka, Corentin Tolisso und Joshua Kimmich infrage.

FC BAYERN MÜNCHEN - JOSHUA KIMMICH

Flick sieht Kimmich - ähnlich wie Bundestrainer Joachim Löw - im defensiven Mittelfeld. Dementsprechend absolvierte der Nationalspieler zwischen November und August nahezu alle Pflichtspiele auf seiner favorisierten Position (mit Ausnahme der Bundesliga-Partien gegen Mönchengladbach (RV), Freiburg (RV) und Paderborn (IV)).

Kimmich überzeugte als Sechser vollumfänglich, musste wegen der Verletzung Pavards allerdings im Champions-League-Turnier auf seiner "alten" Position einspringen. Verlernt hat der 24-Jährige indes nichts, alleine in Lissabon sammelte er als Rechtsverteidiger satte fünf Scorerpunkte.

Dennoch: In der kommenden Saison wird der gebürtige Rottweiler im Mittelfeld gebraucht - und dürfte nur bei einem möglichen personellen Engpass zurückbeordert werden.

Martinez steht wohl vor einer Rückkehr nach Bilbao.imago images

FC BAYERN MÜNCHEN - JAVI MARTINEZ

Der Vollständigkeit halber: Martinez, der in der vergangenen Saison nur noch selten Berücksichtigung fand (24 Pflichtspieleinsätze), ist zwar in der Lage, als Innenverteidiger aufzulaufen, jedoch wird seine Bayern-Zeit nach acht Jahren im Sommer enden.

Der Spanier wird aller Voraussicht nach zu seinem ehemaligen Arbeitgeber Athletic Club nach Bilbao zurückkehren.