Der PL-Titelkampf im Frühjahr 2014: When Steve slipped on his f***ing Arse

Nino Duit
15. November 201913:00
SPOXgetty
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Vor gar nicht allzu langer Zeit war der FC Liverpool Manchester City schon einmal an der Tabellenspitze der Premier League enteilt. Doch die Saison 2013/14 bot ein herzzerreißendes Ende für die Reds und ganz besonders deren Kapitän Steven Gerrard. Eine Geschichte von Erinnerungen, Warnschildern, Rutschern, Tränen und Gesängen. Am Sonntag trifft Titelverteidiger City auf Spitzenreiter Liverpool.

Es war, als die Spieler des FC Liverpool auf fremden Plätzen noch in Norweger-Pullovern aufliefen und als das Wappen von Manchester City noch nicht rund, sondern adlerförmig war, dass Steven Gerrard einen Chant geschenkt bekam. Und das, obwohl zuvor eigentlich alles darauf hingedeutet hatte, dass er statt eines Chants die Vervollständigung seiner Karriere bekäme.

Gerrard hat in seiner Laufbahn bis dahin zwar ziemlich viel gewonnen und das meist in spektakulärster Manier - etwa den UEFA Cup (2001, mit 5:4 nach Verlängerung gegen Alaves) oder die Champions League (2005, im Elfmeterschießen nach zwischenzeitlichem 0:3-Rückstand gegen Milan) - aber der nationale Meistertitel fehlte ihm noch. Im Frühjahr 2014 stand Gerrard so knapp vor seiner abschließenden Krönung, wie nie zuvor oder danach in seiner Karriere.

Letztlich wurde es aber nichts mit dem Meistertitel und stattdessen gab es eben einen Chant: "Steve Gerrard, Gerrard. He slipped on his f***ing Arse. He gave it to Demba Ba. Steve Gerrard, Gerrard." Seitdem gesungen von gegnerischen Fans mit lediglich einer Intention: Schadenfreude. Es ist die gesangliche Untermalung eines der aufregendsten Titelkämpfe der jüngeren Premier-League-Geschichte. Für Manchester City wunderschön, für Liverpool herzzerreißend - und für Gerrard ganz besonders herzzerreißend.

Anfields Preise

Begonnen hat dieser Titelkampf zumindest aus Sicht der Anhänger beider Vereine aber weder wunderschön, noch herzzerreißend, sondern vor allem kostspielig. Knapp 2.500 Pfund wurden auf dem Schwarzmarkt für die erste Vorstellung dieses Meisterschaftsendspurts erbeten. Ein stolzer Preis für einen netten Nachmittag an der Anfield Road.

Es handelte sich aber natürlich nicht um irgendeinen netten Nachmittag, sondern einen, an dem "das bedeutendste Ligaspiel in diesem Stadion seit einem Vierteljahrhundert" ausgetragen wurde, wie der ehemalige Reds-Stürmer John Aldridge im Liverpool Echo vermerkte. Die Reds empfingen am fünftletzten Spieltag Manchester City. Mit einem Sieg könnte Liverpool an der Tabellenspitze auf sieben Punkte davonziehen und hätte trotz zwei mehr ausgetragenen Spielen die Titelentscheidung in der eigenen Hand.

Bereits in Liverpools Händen war zu diesem Zeitpunkt der Saison das Momentum. Neun Siege in Folge hatten die Reds zuvor eingefahren und das durchwegs spektakulär: 5:1 gegen Arsenal, 3:0 bei Manchester United, 4:0 gegen Tottenham. Die beiden Stürmer Luis Suarez und Daniel Sturridge hatten beide bereits über 20 Treffer erzielt, zusammengerechnet gar 49. "Wir haben Klasse, Können und Kraft, um den Titel zu holen", sagte Gerrard, "aber man wird sich nur an uns erinnern, wenn wir ihn auch tatsächlich gewinnen."

Gerrards Emotionen

Und dann kam am 13. April eben der Titelrivale Manchester City an die Anfield Road. Zwei Tage vor dem 25-jährigen Jubiläum des gleichermaßen traurigsten wie verbindendsten Tages der Liverpool Vereinsgeschichte: Hillsborough. 96 Menschen starben damals und eine große 96 prangte nun während der Schweigeminute vor dem Spiel gegen City auf dem Kop, der Fantribüne der Reds. Ein Verein stand zusammen und trauerte, unter anderem um den Cousin des Kapitäns Gerrard. Er war einer der 96.

Knapp 90 Minuten und eine eingeschobene Halbzeitpause später war Gerrard von seinen Emotionen übermannt. Den Tränen nahe stand er auf dem Platz, nachdem er sein Team zu einem 3:2-Sieg gegen den ärgsten Rivalen geführt hatte. "Emotional, sehr emotional", stotterte Gerrard und sprach von den "längsten 90 Minuten, die ich je gespielt habe".

Für die Fans im Stadion, die um dabei sein zu können teilweise ihren Wohlstand aufgaben, waren es dagegen durchaus kurzweilige 90 Minuten, denn sie hatten inhaltlich einiges zu bieten. Liverpool führte dank Treffer von Raheem Sterling und Martin Skrtel früh mit 2:0 und City-Trainer Manuel Pellegrini musste seinen Schlüsselspieler Yaya Toure verletzungsbedingt auswechseln. Getuschelt wurde gar über ein vorzeitiges Saisonende des Ivorers.

City kam aber in der zweiten Halbzeit zurück. David Silva und ein Eigentor von Glen Johnson sorgten für den Ausgleich und nun verlor auch Liverpool-Trainer Brendan Rodgers mit Sturridge einen wichtigen Spieler verletzungsbedingt. Philippe Coutinho brachte die Reds aber erneut in Führung, ehe Schiedsrichter Mark Clattenburg in den Blickpunkt rückte: Erst verweigerte er City einen Handelfmeter, dann zeigte er Liverpools Jordan Henderson die Rote Karte.

Pellegrinis Prognosen

An Liverpools 3:2-Sieg änderte all das nichts mehr, an Citys Selbstvertrauen jedoch ebenso wenig. "Keiner von uns verließ das Stadion und dachte, Liverpool wäre bereits Meister", sagte Verteidiger Martin Demichelis. Lange konnten sich Citys Spieler ohnehin nicht in Selbstmitleid suhlen, denn bereits drei Tage später stand ein Nachholspiel gegen Sunderland auf dem Programm. Das Ergebnis führte jedoch zu neuen Gründen für potenzielle Suhlungen in Selbstmitleid: 2:2 gegen den Tabellenletzten.

"Ich beurteile die Saison erst, wenn sie vorbei ist", sagte Pellegrini trotzig und wagte eine kühne Prognose: "Ich bin mir sicher, dass die anderen Teams ebenfalls noch patzen werden." Zu "den anderen Teams" zählte neben Liverpool auch Chelsea. Jose Mourinhos Blues hatten noch theoretische Chancen auf den Titel, die sich aber bald marginalisierten sollten: Auch Chelsea konnte gegen Sunderland nicht gewinnen.

Rodgers Warnschilder

Theoretische Chancen auf eine sensationelle Champions-League-Qualifikation hatte zu diesem Zeitpunkt derweil Liverpools Stadtrivale Everton, doch eine Niederlage gegen Crystal Palace zerstörte die Träume der Toffees. "Ein Warnschild", nannte Rodgers das Spiel, denn auch die Reds sollten noch auf Palace treffen, am vorletzten Spieltag. Gibt es so etwas wie schlechte Omen, dann war das eines.

"Wir haben noch vier Cup-Endspiele vor uns", kündigte unterdessen Gerrard vor dem ersten Cup-Endspiel in Norwich an. Gerrard erinnerte sich im Vorfeld der Partie an sein bisheriges Karriere-Highlight: "Wir müssen Norwich so behandeln, wie wir Milan 2005 behandelt haben." Eine Drohung und eine, die ihre Wirkung nicht verfehlte. Liverpool besiegte die Canaries mit 3:2.

City gewann nach zwei Enttäuschungen hintereinander jedoch auch wieder, locker mit 3:1 gegen West Bromwich Albion. Pablo Zabaleta, Sergio Agüero, und Demichelis erzielten die Treffer. "Argentina Night", analysierte Zabaleta.

"Wir haben noch Glauben", sagte Zabaleta dann trotzig und fast noch trotziger als Pellegrini in der vorangegangenen Woche sprach, aber mit jedem absolvierten Spiel wurde der Glaube kleiner. City musste zu diesem Zeitpunkt all seine Partien gewinnen und gleichzeitig auf eine Niederlage Liverpools aus deren drei verbliebenen Spielen hoffen.

Gerrards Rutscher

Und dann kam am 27. April eben der FC Chelsea an die Anfield Road. Citys Anhänger spazierten gerade in Süd-London vor dem Auswärtsspiel gegen Crystal Palace gemütlich Richtung Selhurst Park und freuten sich über die Wundergenesung und überraschende Startelf-Rückkehr von Toure, als spontane Jubelstürme losbrachen. Demba Ba hatte knapp 300 Kilometer nördlich, in Liverpool ein Tor für Chelsea erzielt.

Mamadou Sakho kam knapp vor der Halbzeitpause auf der linken Abwehrseite an den Ball. Er leitete ihn flach in die Mitte, Gerrard hatte sich dort leicht zurückfallen lassen, wie er es so oft tat. Mit der rechten Innenseite wollte er den Ball annehmen, doch der Ball wollte sich nicht annehmen lassen. Er rutschte an Gerrards Sohle vorbei Richtung Chelsea-Stürmer Ba. Panisch drehte sich Gerrard, während Anfield in panische Stille, ja Angst fiel. Als stünde er nicht auf englischem Rasen, sondern arktischem Eis rutschte Gerrard aus. Er rappelte sich wieder auf und eilte Ba mit Verzweiflung in den Augen hinterher. Doch er eilte zu langsam, Ba erzielte das 0:1. Schicksalsbesiegelnde Sekunden.

Als Willian Ende der zweiten Halbzeit Chelseas Führung verdoppelte, jubelten Citys Fans bereits im Auswärtsblock des Selhurst Park und fieberten einem Spiel entgegen, das ihre Mannschaft letztlich 2:0 gewinnen sollte. Einige Tage später besiegte City auch noch sein Liverpool-Trauma und gewann wenige Meter von der Anfield Road entfernt im Goodison Park bei Everton und von den dunkel- und hellblauen Rängen schallte es erstmals: "Steve Gerrard, Gerrard. He slipped on his f***ing Arse. He gave it to Demba Ba. Steve Gerrard, Gerrard."

Suarez' Tränen

Hätten Liverpool und City ihre restlichen Spiele gewonnen, wären sie am Saisonende punktgleich gewesen. Es hätte also die Tordifferenz entschieden und die sprach zu diesem Zeitpunkt mit neun Treffern Vorsprung für City. So reisten nun Liverpools Fans nach Süd-London, gingen die gleichen Wege Richtung Selhurst Park, auf denen wenige Tage zuvor Citys Anhänger Chelseas Ba feierten, und hofften auf ein Schützenfest. "Wenn es ein Team gibt, das das schaffen kann, dann sind es wir", sagte Rodgers: "Wir sind kein 1:0-Team!"

Nach 55 Minuten führte Liverpool mit 3:0. Nach 78. Minuten stand es immer noch 3:0, nach 88 Minuten 3:3 und beim Abpfiff brach Suarez in Tränen aus. Gerrard nahm seinen Teamkollegen in die Arme und tröstete ihn, obwohl es wohl niemanden im Selhurst Park gab, der mehr Trost gebraucht hätte als Gerrard selbst. Liverpool hatte den Titel verspielt. Der Sieg gegen Newcastle am abschließenden Spieltag änderte nichts mehr daran, denn auch City gewann seine beiden verbliebenen Spiele gegen Aston Villa und West Ham.

"Große Teams dürfen sich nicht mit einem Titel zufrieden geben. Wir feiern heute, morgen, am Montag und am Dienstag und dann beginnen wir, uns auf die neue Saison vorzubereiten", sagte City-Trainer Pellegrini nüchtern, nachdem er die Trophäe in die Luft gereckt hatte, während Liverpool in Ungläubigkeit und Trauer versank.

Die Reds warten weiterhin seit 1990 auf einen Meistertitel und Gerrards Karriere blieb die Vollendung verwehrt. Ein Jahr später verließ er Liverpool und als Trost für den verpassten Titel von 2014 gab es nichts als hehre Anerkennung und Selbstmitleid aus dem eigenen Lager und einen bitterbösen Chant aus allen anderen Lagern.