Fernando Torres und sein umstrittener Wechsel vom FC Liverpool zum FC Chelsea: Der traurige Judas

Kerry Hau
06. Mai 202011:26
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Fernando Torres brach viele Liverpooler Fan-Herzen, als er sich kurz vor dem Ende der Winter-Transferperiode 2011 dem direkten Konkurrenten Chelsea anschloss. Der damalige Premier-League-Rekordtransfer entpuppte sich als gewaltiges Missverständnis - auch, weil "El Niño" mit dem Wechsel sein eigenes Herz brach.

Wer in Madrid auf der A-42 Richtung Toledo unterwegs ist und die Ausfahrt Fuenlabrada nimmt, bekommt zwangsläufig ein Fußballstadion zu Gesicht. Weder ein besonders großes noch ein besonders schönes. Aber eines, das einem im Gedächtnis bleibt. Es ist nach Fernando Torres benannt, dem früheren spanischen Nationalstürmer.

Der FC Fuenlabrada, ein Zweitligist, trägt hierin für gewöhnlich seine Heimspiele aus. Eine spezielle Verbindung zwischen dem Klub und "El Niño", dem mit 36 Jahren nicht mehr ganz so kleinen Kind, gibt es allerdings nicht. Er wuchs zwar in der Nähe auf, spielte aber nicht einmal in der Jugend für "Fuenla". Aber er ist eben Fernando Torres. Der Junge, der es aus den tristen, von Tabakläden und Müllcontainern nur so wimmelnden Blockbauten des Madrider Vororts rausgeschafft hat. Zunächst bei Atletico, dem Arbeiterklub, berühmt in ganz Spanien. Und später, in der Premier League, berühmt auf der ganzen Welt.

Torres wird, egal in welcher spanischen Stadt er sich aufhält, als Held gefeiert. Er, der die "Furia Roja" 2008 im Wiener Ernst-Happel-Stadion über Jens Lehmann hinweg zum Europameister lupfte. Er, der den bis heute einzigen spanischen WM-Triumph 2010 in Südafrika mit einer wenn auch weniger guten Hereingabe in den Strafraum einleitete, der zum goldenen Treffer von Andres Iniesta führte. Er, der auch im EM-Finale 2012 in Kiew trotz seiner Rolle als Joker mit einem Tor und einer Vorlage zur Demütigung von Gegner Italien beitrug.

Torres: Für Titel riskierte er sogar seine Gesundheit

Torres, das könnte man nicht nur wegen seiner Verdienste im Nationaltrikot meinen, scheint in seiner Karriere alles richtig gemacht zu haben. In seinem Trophäenschrank hängt ja unter anderem noch eine goldene Champions-League-Medaille, die er 2012 dem FC Bayern abluchste. Zudem gewann er vor seinem Abschied aus Europa mit seinem Herzensklub Atletico die Europa League. Und dennoch ist "El Niño", wenn man ihn heute fragt, gar nicht so glücklich mit der Laufbahn, die er im vergangenen Jahr in Japan ausklingen ließ.

Vor allem nicht mit dem, was sich im Januar 2011 zutrug. Torres stand damals noch beim FC Liverpool unter Vertrag. War Stammspieler, Publikumsliebling, Identifikationsfigur. Aber trotzdem nachdenklich. Mit sich, denn mit dem Toreschießen klappte es damals nicht so gut, was auch den ständigen Knieproblemen geschuldet war, die er ein Jahr zuvor bewusst mit Schmerzmitteln und Bandagen kaschiert hatte, um nicht die WM-Teilnahme mit Spanien aufs Spiel zu setzen. Aber auch mit den Ansichten der Liverpooler Vereinsführung, die sich nicht mehr ganz so mit denen vereinbaren ließen, die ihn im Sommer 2007 bewogen hatten, seine Heimat gegen eine Ablösesumme von 38 Millionen Euro zu verlassen.

"Ich wäre vielleicht sogar für meine gesamte Karriere bei Atletico geblieben, aber der Verein hatte zu jener Zeit große finanzielle Probleme und konnte das Geld gut gebrauchen. Nach einem Anruf von Rafa Benitez stand für mich fest, dass Liverpool eine gute Adresse ist, um erfolgreich zu sein. Also ging ich. Ich wollte gewinnen. Mit Liverpool. Aber über die Jahre veränderten sich einige Dinge", erzählt Torres in dem 2017 erschienenen Buch Ring of Fire: Liverpool Into The 21st Century: The Players' Stories von dem englischen Sportjournalisten Simon Hughes.

Fernando Torres folgte 2007 dem Ruf von Rafa Benitez (l.) auf die Insel.imago images

Liverpool 2010/11: Hinter den Erwartungen

Tatsächlich war in Torres' vierter Saison an der Mersey nur noch wenig übrig von den glorreichen "Spanish Reds", die in England und Europa für Furore gesorgt hatten. Ohne Macher Benitez, der im Sommer 2010 nach Diskussionen mit den damaligen Klubbesitzern George Gillett und Tom Hicks hingeschmissen hatte, und ohne jahrelange Stützen wie Xabi Alonso, der bereits 2009 für 35 Millionen Euro an Real Madrid verkauft worden war, drohte sich Liverpool immer weiter von den Top Four zu entfernen.

Torres suchte daher bereits kurz nach dem WM-Triumph das Gespräch mit Geschäftsführer Christian Purslow, heute CEO von Aston Villa, und Benitez' Nachfolger Roy Hodgson, um seine Bedenken zu schildern. "Ich habe ihnen gesagt, dass es mit diesem Team schwierig wird, auf dem Level zu spielen, auf dem wir einmal waren. Mir war es wichtig, zu klären, wie es um die Zukunft des Vereins bestellt ist, weil das für Spielerverkäufe eingenommene Geld nicht nur in neue Verstärkungen investiert wurde", sagt er.

Torres fühlte sich von Liverpool "betrogen"

Purslow habe ihm jedoch nur mitteilen können, dass der Klub zum Verkauf stehe, nicht aber Topspieler - anderenfalls könnte ja ein potenzieller Käufer ins Grübeln geraten, ob er den Klub übernimmt oder nicht. "Niemand sagte zu mir: 'Wir wollen, dass du lange hier bleibst.' Die Message lautete: 'Erst verkaufen wir den Verein und dann kannst du gehen.' Ich wollte mit Liverpool erfolgreich sein, nirgendwo war ich glücklicher als dort. Aber wir waren nicht mehr gut genug und ich hatte nicht das Gefühl, dass sich daran etwas ändert."

Im Gegenteil: Mit Javier Mascherano wurde kurze Zeit später ein weiterer wichtiger Spieler an den FC Barcelona verkauft. "Ich fühlte mich betrogen", so Torres, dem schon zu jenem Zeitpunkt konkrete Anfragen anderer Klubs vorlagen.

Im Herbst sicherte sich schließlich das US-amerikanische Unternehmen New England Sports Ventures, heute als Fenway Sports Group bekannt, die gesamten Anteile der Reds und löste das Gespann Gillett-Hicks an der Spitze des 18-maligen Premier-League-Siegers ab. Purslow aber durfte noch weiter schalten und walten, bekam mit Damien Comolli sogar einen Gehilfen zur Seite gestellt. Doch auch der Franzose, zuvor bei Tottenham Hotspur am Werk, konnte Torres zunächst keine Zukunftspläne darlegen, während sich die Befürchtungen des Angreifers Schritt für Schritt bestätigten: Liverpool spielte eine Hinrunde zum Vergessen.

Die Reds waren 2011/12 weit von einer Topmannschaft entfernt.imago images

Fernando Torres: Seine Statistiken beim FC Liverpool

Pflichtspiel-Einsätze142
Tore81
Vorlagen20
Gelbe Karten22
Rote Karten0

"Es war ein Albtraum. Nicht nur für mich, sondern für alle in der Mannschaft", erinnert sich Torres. Gerade der Umgang der Bosse mit Trainer Hodgson sei "bedauernswert" gewesen. "Sie ließen ihn nicht arbeiten. Sie stellten ein neues Ärzteteam aus Australien zusammen, das alles kontrollierte und darüber entschied, wer spielen soll und wer nicht. So etwas habe ich noch nie erlebt. Es war ein Chaos."

Ein Chaos, das Anfang Januar 2011 in der Entlassung von Hodgson gipfelte. Für ihn übernahm Liverpool-Legende Kenny Dalglish die in der Liga auf Platz zwölf stehende Mannschaft - und einen immer nachdenklicheren Torres. Der war inzwischen immerhin von Comolli in die Ideen des Klubs eingeweiht worden. "Er sagte mir, die Eigentümer würden gerne junge Spieler holen und etwas Neues aufbauen. Ich dachte mir dann: Das wird Zeit brauchen. Vielleicht zwei, drei, vier oder zehn Jahre", erzählt Torres. "Ich war damals 27. Ich konnte nicht warten. Ich wollte gewinnen."

Selbst sein Kumpel Steven Gerrard, immerhin einer der Führungsspieler, habe Verständnis für seine Wechselgedanken gezeigt. Zumal sich auch Dalglish nicht wirklich für einen Verbleib von Torres einzusetzen schien. Nachdem am 22. Januar ein erstes offizielles Angebot des FC Chelsea in Liverpool eintrudelte, kam es zu einem Gespräch des Stürmers mit dem neuen Trainer.

Judas-Beschimpfungen: Torres "hätte wohl genauso reagiert"

"Ich wollte sprechen. Ohne meinen Berater, nur mit ihm. Von Angesicht zu Angesicht. Ich war mir sicher, dass er die Situation hätte umbiegen können", so Torres. Dalglish habe ihm aber nur zu verstehen gegeben, dass er ihn noch brauche - ohne Gründe dafür zu nennen, ohne ihm die Wärme zu geben, seine Wechselgedanken zu verwerfen. "Er war der einzige, der in dieser Phase noch meinte, dass er mich gerne behalten würde. Parallel verhandelte Liverpool aber mit Chelsea. Ich weiß also nicht, ob seine Worte der Wahrheit entsprachen", sagt Torres.

Wenige Tage später, am Deadline Day, ging der zu diesem Zeitpunkt teuerste Transfer der englischen Fußballgeschichte über die Bühne. "El Niño", die gefeierte Ikone der Reds, wurde ein Blue und versetzte die Liverpooler Anhänger in eine Schockstarre, die kurz darauf zu einer Welle der Wut ausartete. Torres wurde als Judas beschimpft, im Internet kursierten Videos von brennenden Trikots mit der Nummer 9. "Ich hätte wohl genauso reagiert, wenn alles wirklich so gewesen wäre, wie es in den Medien berichtet wurde", sagt der Herzensbrecher.

Er sei als "Verräter" hingestellt worden, der auf eine sofortige Freigabe gedrängt habe. "Aber so war es nicht", betont Torres. Aus dem Verein seien gezielt solche Informationen an die Öffentlichkeit gedrungen, um ihn in ein schlechtes Licht zu rücken.

Die Fans des FC Liverpool machten Fernando Torres nach dessen Abschied die Hölle heiß.imago images

Torres traurig: "Liverpool brauchte einen Sündenbock"

"Ich weiß bis heute nicht, wer es war. Aber ich konnte nach all diesen Berichten, die in den Medien auftauchten, nur noch wenigen Leuten im Verein trauen. Sie brauchten einen Sündenbock, weil sie eigene Fehler im Hinblick auf die Kaderplanung nicht zugeben wollten. Wie gesagt: Ich kam nach Liverpool, um zu gewinnen. Als ich den Verein verließ, war kein einziges Stück von dieser Gewinner-Kultur mehr übrig."

58,5 Millionen Euro zahlten die Blues für Torres. Ein aberwitziger Betrag, allein wegen der Knieprobleme und der Torausbeute (neun Premier-League-Treffer bis zum Transfer an die Stamford Bridge) des Angreifers. "Wir waren schockiert, dass wir so viel für ihn bekommen haben. Fernando war 18 Monate lang der beste Stürmer der Welt, in dem Jahr vor seinem Wechsel aber ein Schatten seiner selbst", so der damalige Liverpool-Kapitän Jamie Carragher.

Knapp 40 der Torres-Millionen reinvestierten die Reds direkt wieder, indem sie den aufstrebenden englischen Stürmer Andy Carroll von Newcastle United an die Anfield Road zerrten. Alles ging so schnell, dass der alles andere als wechselwillige Carroll selbst mehr oder weniger über die Medien von seinem Transfer erfuhr. Und Torres saß derweil schon in einem Helikopter, der ihn nach London bringen sollte. "Ich war im ersten Moment weder glücklich noch verärgert, eher leer", so Torres. "Dann flogen wir, und als es dunkel wurde und ich hinunter auf die Stadt Liverpool blickte, wurde ich traurig. Ich war so lange so glücklich dort unten, so glücklich."

Torres bei Chelsea: Zahlen sagen nicht alles

Der Rest ist Geschichte. Im negativen Sinne. Während Carroll bei den Reds auf ganzer Linie scheiterte und 2012 zu West Ham weiterzog, wurde Torres in London nie der, der er einst in Liverpool war - obwohl er als Blue mehr leistete als die nackten Zahlen (er brauchte wettbewerbsübergreifend für sein erstes Tor 903 Spielminuten und erzielte in 110 Premier-League-Spielen gerade einmal 20 Tore) es vermuten lassen. Er knipste dem FC Barcelona im Champions-League-Halbfinale 2012 mit seinem Solo-Lauf kurz vor Schluss das Licht aus und holte auch die Ecke im "Finale Dahoam" gegen die Bayern heraus, die Didier Drogba zum zwischenzeitlichen 1:1 verwertete. Torres traf überdies im Europa-League-Finale ein Jahr später gegen Benfica, das Chelsea mit 2:1 für sich entschied.

Und doch sind Trophäen auch nur Gegenstände. Die Wertschätzung der Fans, die er in Anfield erhalten hatte, wurde ihm an der Bridge nie zuteil. Die Pässe, mit denen ihn Gerrard gefüttert hatte, spielte ihm kein Kollege in Blau zu. "Bei Chelsea hat es nicht gepasst. Ich habe es vermisst, mit Stevie in Liverpool zu spielen. Die ganze Atmosphäre, die den Verein umgab, auch wie wir als Team für- und miteinander gekämpft haben ... All das war magisch", wird Torres in dem Buch von Simon Hughes zitiert. Er habe über die Jahre daher realisiert, "dass ein Champions-League-Sieg nichts daran ändert, wie man sich Tag für Tag fühlt. Jeder Tag ist anders, jeder Tag ist neu. Ich glaube heute nicht mehr, dass Titel wichtiger sind als glücklich zu sein."

Über Steven Gerrard (l.) sagt Fernando Torres: imago images

Die Profi-Stationen von Fernando Torres

Atletico Madrid (Spanien)2001 - 2007
FC Liverpool (England)2007 - 2011
FC Chelsea (England)2011 - 2014
AC Mailand (Italien)2014 - 2015
Atletico Madrid (Spanien)2015 - 2018
Sagan Tosu (Japan)2018 - 2019