Barcelona weist den Weg

SPOXAndreas Renner
20. Juli 200914:43
Champions-League-Sieger, Meister und Pokalsieger: Barcelona ist derzeit das Maß der DingeImago
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Nie wurde in Deutschland soviel über Fußball-Taktik diskutiert wie heute. Doch woher kommen 4-4-2 und 4-2-3-1 und ballorientierte Raumdeckung? Gemeinsam mit Sky-Kommentator und SPOX-Blogger Andreas Renner haben wir versucht, der Sache auf den Grund zu gehen. Herausgekommen ist die SPOX-Themenwoche: Die Geschichte der Fußball-Taktik in acht Teilen.

SPOXAuch wenn Arrigo Sacchi das Gegenteil geplant hatte: Sein Raumdeckungsfußball führte zunächst zu einer defensiven Revolution. Wie DFB-Taktikexperte Urs Siegenthaler schon zur WM 2006 in Deutschland feststellte, legten Trainer weltweit den Fokus ganz klar auf die Verteidigung.

Mittlerweile, so Siegenthaler im Interview mit SPOX, "habe in diversen Ländern und Vereinsmannschaften seit geraumer Zeit" eine Gegenbewegung begonnen.

Dass die offensive Antwort auf die Raumverknappung nicht einheitlich sein muss, sondern viele Facetten haben kann, zeigen folgende Beispiele. Frank Wormuth, Trainerausbilder beim DFB hat mit seinen diesjährigen Lehrgangsteilnehmern die Spiele der U-21-EM analysiert.

Wormuth: "Wir stellten fest, dass in den meisten Fällen die Mannschaften, die mehr Ballbesitz hatten, als Verlierer vom Platz gingen."

Kontern wie in den 20er Jahren

Dazu passt eine Erkenntnis der technischen Kommission der FIFA zur letztjährigen EM in Österreich und der Schweiz: Fast niemand spielte mehr Angriffspressing (das Attackieren des Gegners schon tief in dessen Hälfte), weil Mannschaften heute technisch so stark sind, dass sie sich aus solchen Situationen befreien können.Stattdessen zogen sich alle tief in die eigene Hälfte zurück und versuchten dort, die Räume eng zu machen. Aus dieser starken Defensive wurde nun auf Konter gesetzt. Siehe Russland, siehe die Niederlande.

Und weil es im Fußball keine ganz neuen taktischen Mittel mehr gibt, kann man diese Konterphilosophie zurückführen bis zu Herbert Chapmans Methoden bei Northampton und später Arsenal in den 20er und 30er Jahren.

Gegenentwurf: Spanien und Barcelona

Aber auch das Gegenmodell kann funktionieren, wie Spanien bei der EM oder der FC Barcelona in der abgelaufenen Saison bewiesen. Ballbesitz in der gegnerischen Hälfte und lange Ballstafetten sind zum einen eine gute Verteidigungsstrategie, weil die anderen ja wenig Gelegenheit haben, um selbst anzugreifen.

Und die technische Stärke und das sichere Passspiel der Spanier ist auch ein Mittel, eine tief stehende Abwehr zu knacken. Mit viel Laufarbeit, ständigen Rochaden und dem geschulten Blick für die Lücke, wie ihn ein Xavi oder Iniesta hat.

St. Paulis Coach Holger Stanislawski sieht darin den Weg in die Zukunft: "Die Technik wird immer wichtiger. Das, was Barcelona macht, zeigt uns, wo der Weg hingeht." Und um gegen kompakte Defensivreihen Lücken zu finden, muss sie weiter verbessert werden.

Manndeckung sorgt für Verwirrung

Wie verschieden Trainer die Aufgaben der Zukunft angehen, illustriert ein Blick auf die Bundesliga: Da gibt es Borussia Mönchengladbach, das in der Vorsaison unter Hans Meyer die Old-School-Methode der Vergangenheit hervorkramte: Manndeckung nämlich. Und das kann heute durchaus sogar wieder funktionieren. Schließlich sind mittlerweile alle Spieler der Bundesliga auf das Verschieben zum Ball gedrillt und kennen das Mann-gegen-Mann der Vergangenheit gar nicht mehr.

Deshalb kann man so durchaus kurzfristig Erfolge feiern: Weil Manndeckung heute für genau so viel Verwirrung sorgt wie die Raumdeckung in den 90ern. Allerdings hat das auch seine Grenzen, so Wehens früherer Coach Christian Hock zu SPOX: "Mit ein bisschen Arbeit im Training kann man dieses Problem schnell in den Griff bekommen."

Defensive als Grundlage

Andere Klubs kämpfen noch mit der Umstellung auf die international notwendige Defensivstrategie. Bestes Beispiel: Die Diskrepanz in der Anzahl der Gegentore bei Borussia Dortmund in den letzten beiden Bundesligaspielzeiten (siehe Themenwoche, Teil 7). Da müssen offenbar auch noch einige Trainer an ihrer Fortbildung arbeiten.

Denn wie bei den Spielern gilt: Wer die neuesten Entwicklungen verschläft, der wird durch die Ligen nach unten durchgereicht. Oder in ferne Länder geschickt. Hertha BSC Berlin unter Lucien Favre hat dagegen den ersten Schritt nach vorne gemacht.

Und dieser erste Schritt heißt: Mit solider Defensivarbeit die Grundlage schaffen, auf die man dann offensiv aufbaut. Das ist für Favre und Co. nun der nächste Schritt und die Herausforderung für die Zukunft.

Neue Wege in die Offensive

Andere wiederum wissen, dass Defensive plus Kontern ihre beste Chance ist, um in der Liga zu bleiben. Und einige wenige, wie Freiburg und Hoffenheim, haben bereits auf der Basis einer guten Grundordnung neue Wege in der Offensive gefunden.

Hoffenheims Ralf Rangnick ging die Partie gegen den FC Bayern am 33. Spieltag mit Viererkette und davor sechs offensiven Leuten an. Die "defensivsten" waren Weis und Salihovic, die bekanntlich beide eher offensiv orientiert sind. Das muss man sich erst einmal trauen. Zur Pause, beim Spielstand von 2:2, brachte er dann allerdings Defensivspieler Fabricio für Angreifer Wellington.

Freiburg spielt (nicht) wie Manchester United

SPOXAber Rangnick gehört ja auch zu den Gründervätern des deutschen Raumdeckungsfußballs. Entwicklungen, die in anderen Klubs noch nicht abgeschlossen sind, hat Rangnick schon vor zehn Jahren hinter sich gelassen.

Er selbst sagt, dass er früher extrem häufig Defensivstrategien trainieren ließ, inzwischen aber 75 Prozent des Trainings auf die Offensive verwendet, weil der kreative, offensive Part schwieriger ist.

Und weil er nach genau den Lösungen sucht, die Siegenthaler vor drei Jahren gefordert hat. Auch das wird ein Teil der Lösung sein: Trainer lassen wieder mehr Offensive trainieren und deshalb werden ihre Mannschaften sich in diesem Bereich verbessern.

Freiburg spielt (nicht) wie Manchester United

Der SC Freiburg, der unter Volker Finke in den 90er Jahren selbst Pionierarbeit leistete, baut im Angriff auf die Dauerrochade. Und liegt damit auch international ganz weit vorne. Vier Offensivkräfte, die permanent die Positionen tauschen, keine Unterscheidung zwischen offensivem Mittelfeld und Sturm mehr, das kennt man sonst nur von internationalen Spitzenteams wie Manchester United oder dem FC Barcelona.

In Deutschland macht das sonst keiner. "Und ich hoffe, dass das auch noch eine Weile so bleibt", lacht SC-Trainer Robin Dutt, der aber Vergleiche mit Topteams sogleich reflexartig von sich weist. "Sagen Sie nicht, wir spielen wie Manchester United. Sonst heißt es gleich, der ist größenwahnsinnig."

Sacchi, Löw, Wehen-Wiesbaden

Tja, in Deutschland muss man offenbar immer den Eindruck vermitteln, nicht zu schlau zu sein. Sonst wird man, wie einst Rangnick, als Professor verspottet. Aber die Wahrheit ist: Freiburg spielt (und spielte auch unter Volker Finke schon) offensiv so flexibel wie Manchester United es in den letzten beiden Spielzeiten auch gemacht hat.

Genauso steht fest: Zweitligaabsteiger SV Wehen-Wiesbaden hat mit dem gleichen System wie die deutsche Nationalmannschaft gespielt: Nämlich mit dem Sacchi 4-4-2 aus den späten 80ern. Dummerweise waren die Spieler nicht ganz so gut wie die von Jogi Löw.

Null bis vier Stürmer

Zurück zu Freiburg: Diese Dauerrochaden kreieren ein System, das man, je nach Geschmack, 4-6-0 (also ohne echte Stürmer) oder auch 4-2-4, das aktuell Roma-Coach Luciano Spalletti in den Testspielen probt, nennen kann. Und prompt sind wir wieder in der Historie gelandet: 4-2-4, das haben Ungarn und Brasilianer schon in den 50ern gespielt. Und genau deshalb muss man sich mit der Fußball-Geschichte befassen, wenn man Lösungen für die Zukunft finden will.

Die Grundelemente sind nämlich alle schon da, es kommt nun darauf an, wie man sie kombiniert. Die Frage 4-6-0 oder 4-2-4 ist ohnehin akademisch. Muss man Mannschaften überhaupt noch in Abwehr, Mittelfeld und Sturm aufteilen?

Oder sollte man es wie Finke in Freiburg halten, der sagte: "Ich mache mir nur noch Gedanken, ob ich mit vier oder fünf Offensiven spiele." Bei dieser Rechnung zählt man die defensiven Mittelfeldspieler eben zum Defensivblock.

Renaissance des Voetbal total

Oder man sieht die Sache so: Die Stürmer und offensiven Mittelfeldspieler sind ohnehin offensiv orientiert. Die defensiven Mittelfeldspieler rücken vor und verwerten die flachen Hereingaben in den Rücken der Abwehr, die Außenverteidiger helfen, offensiv die Flügelpositionen doppelt zu besetzen und die Innenverteidiger machen die Kopfballtore bei Standards. Wie es Dutt sagt: "Bei uns hat jeder eine Offensivaufgabe."

Und auch das ist ja nun keine Fußballrevolution. Sondern nur die konsequente Umsetzung des holländischen Voetbal Total aus den 70ern.

Präzision ist das A und O

Barcelonas Passorgien, die Kontertaktik, mit der die deutsche U 21 Europameister wurde oder das 4-2-4, all das sind Lösungsmöglichkeiten für die Zukunft.

Eins trifft jedoch immer zu: Das Tempo muss stimmen, bei Passfolgen sollten höchstens zwei Ballberührungen nötig sein, alles muss so präzise wie möglich sein. Und dafür braucht man gute Spieler. An Barcelonas aktueller Mannschaft muss sich jedenfalls kein Trainer orientieren, der Akteure im Team hat, die den Ball nicht sauber stoppen können.

Holger Stanislawski vom FC St. Pauli stellt sich zum Beispiel vor, mit einem langen Diagonalschlag von hinten das Mittelfeld schnell zu überbrücken. Aber er weiß auch: "Die Lücke, in die der lange Ball kommen muss, ist nur drei bis fünf Meter groß. Und da braucht man einen Spieler, der diesen Pass technisch sauber spielen kann und einen, der ihn genauso technisch sauber annehmen kann."

Weil im ballorientierten Verschieben der nächste Gegenspieler immer in der Nähe lauert, wird keine Unsauberkeit verziehen. Und diese langen Bälle sind selbst auf Bundesliganiveau höchst anspruchsvoll.

Jugendarbeit trägt Früchte

Weil die Anforderungen immer höher werden, muss an der Detailarbeit mit den Spielern gefeilt werden. Dass die veränderte Jugendarbeit im DFB unter Matthias Sammer Früchte trägt, zeigen die drei Nachwuchstitel, die der DFB im letzten Jahr geholt hat.

Das technische und taktische Niveau beim Nachwuchs ist so hoch wie nie zuvor. Und trotzdem kann und muss daran weiter gefeilt werden, genau wie bei den Profis. Die Spieler immer besser zu machen, ist seit Klinsmann zwar nur noch die Pointe eines Witzes, aber Individualförderung im technischen Bereich ist auch im bezahlten Fußball möglich (und nötig).

Konservative Kräfte vs. Fortschritt

SPOXIn der taktischen Ausbildung gibt es noch viele Möglichkeiten. Warum sollte es in der Zukunft keine Spezialtrainer für Angriff und Abwehr geben? Und einen, der die Standardsituationen coacht? Aus denen in der internationalen Spitze fast 50 Prozent aller Tore entstehen. "Die Spezialisierung der Trainer, das wird kommen", ist sich Wolfgang Frank ganz sicher. In anderen Sportarten ist sie längst Standard.

Natürlich müssen all diese Trainer auch ausgebildet werden. Und zwar möglichst gut. Ein Projekt, an dem Sammer und Wormuth bereits arbeiten. Und es nicht leicht haben. In einem Land, in dem viele noch glauben, dass ein Trainer seinen Spielern eigentlich gar nichts beibringt.

Und dass Ergebnisse die einzigen Kriterien sind, an denen man die Arbeit eines Trainers messen kann. Siegenthaler glaubt jedenfalls, dass die Zukunft für uns noch viele Überraschungen parat hält: "Die Trainerausbildung muss gegeben sein, dann ist alles machbar."

Konservative Kräfte

Die Sache hat aber einen Haken, glaubt Wormuth: "Ein Trainer hat bei uns nicht das Standing wie in anderen Ländern." Er erlebt immer wieder, dass Trainer ihre Vorstellungen nicht umsetzen, weil sie Angst vor der öffentlichen Reaktion haben. Leverkusens meuternde Spieler bei Labbadias Laufwegetraining (siehe Teil 7) sind nur ein Beispiel.

Kaiserslauterns Ex-Coach Milan Sasic erzählte mal, dass er im Training gerne mit seinen Spielern Basketball spielen würde: "Da könnte man die Koordination trainieren, das Verteidigen im Raum und auch Möglichkeiten, sich auf engstem Raum Lücken zu schaffen." Und warum tat er es nicht? Sasic: "Haben Sie eine Ahnung, was am nächsten Tag in der Zeitung stehen würde?"

Tja, die konservativen Kräfte in Deutschland sind eben immer noch sehr stark. In den Medien und vor allem in den Vereinen selbst, wo viele Altstars alles für unnötig erklären, was sie aus ihrer aktiven Zeit nicht kennen. Das Neue wird erst einmal abgelehnt und die einfachsten Lösungen sind immer die Besten.

In Zukunft wird diese Denkweise jedoch immer weniger erfolgreich sein, das Rad der Zeit kann man nicht zurückdrehen. Intensiveres Training wird kommen. Es bedeutet auch mehr Zeit auf dem Platz für die Spieler (und Trainer). Auch die Videoanalyse wird immer wichtiger werden. Weil man den Spielern so vor Augen führen kann, was sie falsch machen.

Mentaltraining unverzichtbar

Zur Verbesserung der Spieler gehört auch ein Mentaltraining. "Wichtig ist es, dass sich Spieler gedanklich mit dem Fußball befassen", sagt Wolfgang Frank. Das Visualisieren von bestimmten Situationen vor dem Spiel hilft, die Handlungsschnelligkeit auf dem Platz zu verbessern. Im US-Sport ist das längst Standard.

Wer Situationen gedanklich durchgespielt hat, der kann sie in der Realität besser lösen. Funktioniert übrigens auch im richtigen Leben, nicht nur im Sport.

Die Frage aller Fragen

Bleibt zum Schluss noch eine Frage, die seit Anbeginn der Zeit (siehe Teil 1) durch die Fußballwelt geistert: Was ist denn nun wichtiger, die bessere Taktik oder bessere Spieler zu haben? Wer alle acht Teile dieser Themenwoche gelesen hat, wird hoffentlich zustimmen: Mit einer guten Organisation kann man Defizite in der individuellen Qualität der Spieler bis zu einem gewissen Grad ausgleichen.

Trotzdem wird aber ein Fünftligist auch mit guter Taktik Probleme haben, den FC Bayern zu besiegen. Und deshalb lautet die Antwort auch: Am besten man hat beides. Gute Spieler und eine gute Organisation. Wer international ganz vorne mit dabei sein will, hat anders keine Chance.

10 Verteidiger oder Libero

Der Fußball der Zukunft wird also vielfältig bleiben. Und sich weiterentwickeln. Wichtig ist, sich eins vor Augen zu führen: Keiner weiß alles über Fußball. Nicht Ihr, nicht ich und auch nicht Franz Beckenbauer. Und wenn es tatsächlich jemand schaffen sollte, morgen alles über Fußball zu wissen, dann ist er am Tag danach schon nicht mehr auf dem neuesten Stand. Der Sport verändert sich permanent und jeder Beteiligte, der nicht dauernd die neuesten Entwicklungen interessiert verfolgt, ist schon bald von der Realität überholt worden.

Urs Siegenthaler war beim Confed-Cup und beobachtete die möglichen Gegner des DFB bei der kommenden WM. Seine Erkenntnis: "Irak spielte mit zehn Mann in der Defensive gegen Spanien. Ägypten spielte hier mit einem Libero. Also mein Fazit: Alles ist möglich." Freuen wir uns darauf.

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