Nie wurde in Deutschland soviel über Fußball-Taktik diskutiert wie heute. Doch woher kommen 4-4-2 und 4-2-3-1 und ballorientierte Raumdeckung? Gemeinsam mit Sky-Kommentator und SPOX-Blogger Andreas Renner haben wir versucht, der Sache auf den Grund zu gehen. Herausgekommen ist die SPOX-Themenwoche: Die Geschichte der Fußball-Taktik in acht Teilen.
Herbert Chapman war der erste moderne Fußballtrainer. Als Spieler war der Sohn eines Minenarbeiters allerdings keine große Nummer gewesen.Chapman wechselte regelmäßig von einem unbedeutenden Klub zum nächsten. Einzig seine letzte Station als Spieler, Tottenham, versprühte so etwas wie Glamour. Allerdings nur, wenn man nicht weiß, dass Chapman dort für das Reserveteam kickte.
Schon damals war klar: Ein großer Trainer muss nicht unbedingt ein großer Spieler gewesen sein.
Die Erfindung des Konters
1907 bekam Herbert Chapman eher zufällig das Angebot, Trainer zu werden. Mit Northampton startete er schlecht, aber er ließ sich etwas einfallen: seine erste taktische Innovation.
Während die anderen Teams attackierten, was das Zeug hielt, erkannte Chapman, dass man "das Angreifen auch übertreiben" könne, und sorgte dafür, dass seine Truppe sich regelmäßig zurückfallen ließ, um den Gegner aus dessen Hälfte zu locken und so Räume für eigene Attacken zu kreieren. Heute sagt man "kontern" dazu. Am Ende gewann Northampton die Meisterschaft und schoss satte 90 Tore.
Beinahe das Ende
Der erste Weltkrieg und ein Skandal um unrechtmäßige Zahlungen an Spieler (für den der aufstrebende Coach von der FA zunächst lebenslang gesperrt wurde) hätten Chapmans Trainerkarriere beinahe frühzeitig beendet. Doch nach zweijähriger Pause begnadigte ihn der Verband und Chapman bekam einen Job als Assistenztrainer von Huddersfield Town.
Heute spielt Huddersfield in Liga 3, von 1920 bis 1952 waren die Terriers allerdings erstklassig. Nur einen Monat dauerte es, bis der eigentliche Cheftrainer Ambrose Langley sich entschied, seinen Lebensunterhalt lieber als Gastwirt zu verdienen. Was Rückschlüsse auf die Gehaltsstruktur zur damaligen Zeit zulässt. Und schon war Chapman der Chef.
Torflaute
Unterdessen steckte der Fußball in einer Krise. Aufgrund der strengen Abseitsregel gab es immer weniger Tore. Die Regel war auch wie gemalt für eine Abseitsfalle.
Weil drei Gegner bei der Ballabgabe näher am eigenen Tor sein mussten als der vorderste Angreifer, konnten zwei Mann bedenkenlos auf Abseits spielen. Schließlich stand ja noch ein anderer Verteidiger dahinter. Besonders Newcastles Verteidiger Frank Hudspeth und Bill McCracken trieben ihre Gegner so zur Verzweiflung.
Und so war die Torproduktion auf, so dachte man, unglaublich niedere 2,58 Tore pro Spiel gesunken. Zum Vergleich: Heute entspricht das in etwa dem internationalen Schnitt, die deutsche Bundesliga liegt etwas darüber.
Dixie Dean trifft 60 Mal
Damals war die FA der Meinung, einschreiten zu müssen. Und das tat sie dann auch. Der Vorschlag, eine Linie 40 Meter vor dem Tor zu ziehen, hinter der ein Stürmer nicht mehr Abseits stehen konnte, fand keine Mehrheit. Die Variante, von drei Mann vor dem ersten Angreifer auf zwei zu reduzieren, setzte sich stattdessen durch.
Im Juni 1925 trat die Regel in Kraft. In der darauf folgenden Saison stieg der Schnitt der pro Spiel erzielten Tore auf 3,69. Dixie Dean vom FC Everton erzielte in dieser Saison unglaubliche 60 Treffer. Da wird sogar ein Gerd Müller vor Neid blass.
Neue Regeln bedeuteten auch neue Strategien; der neu geschaffene Raum auf dem Feld wollte schließlich ausgefüllt werden. Verteidigen war schwerer geworden, so dass die zwei Defensivspieler im alten 2-3-5 System nicht mehr reichten.WM-System
Chapman zog seinen zentralen Mittelfeldakteur, Mittelläufer genannt, in die Abwehr zurück und füllte die Lücke im Mittelfeld mit einem weiteren, zurückgezogenen Angreifer. So wurde aus 2-3-5 ein 3-2-2-3: das WM-System. WM hat übrigens nichts mit der deutschen Abkürzung für Weltmeisterschaft zu tun, sondern mit der Positionierung der Spieler auf dem Feld. (siehe Grafik)
Nach drei Meisterschaften mit Huddersfield wechselte Chapman nach London. Sein neuer Klub war ein abstiegsbedrohter Verein namens Arsenal, der bis dahin genau gar nichts gewonnen hatte. Es war durchaus ein Wagnis, schließlich war der Vereinsvorsitzende Sir Henry Norris für seine Exzentrik berüchtigt.
In einer Zeit, in der Ablösesummen von 3000 Pfund Standard waren, verbot er seinen Trainern, mehr als 1000 Pfund für einen Akteur auszugeben. Und es gab eine Regel, dass Neuzugänge nicht kleiner sein durften als 1,70 Meter. Als Chapmans Vorgänger den nur 1,55 Meter großen Hugh Moffat verpflichtete, wurde der vom Vorsitzenden sofort weiterverkauft, ohne auch nur einmal für Arsenal gespielt zu haben.
Arsenal räumt unter Chapman Titel ab
Als Chapman den Job 1925 übernahm, ließ er sich von Norris als erstes zusichern, dass ähnlicher Unsinn für ihn nicht gelten würde. Und dann machte er seinem Boss klar, dass es durchaus fünf Jahre dauern könne, bis der Verein den ersten Titel einfahre.Die Umstellung auf sein WM-System geschah in mehreren Schritten. Zunächst kümmerte sich Chapman mit einem dritten Verteidiger um die Defensive.
Nach wackligem Start fand sich Arsenal immer besser zurecht und belegte am Ende hinter Chapmans Ex-Klub Huddersfield Platz zwei in der Liga. Klingt heute unglaublich, aber: Platz zwei war in der Saison 1925/1926 die beste Endplatzierung, die je ein Klub aus London erreicht hatte (Abschlusstabelle 1925/26).
Mann gegen Mann
Klar, dass Chapmans Umstellungen auf dem Feld zu neuen Aufgaben für seine Spieler führten. Der in die Abwehr gezogene Mittelfeldmann kümmerte sich nun um den zentralen Stürmer, die beiden anderen Verteidiger um die Flügelspieler.Die beiden defensiveren Mittelfeldspieler (genannt Außenläufer) waren für den Spielaufbau zuständig und mussten sich zudem um gegnerische Stürmer kümmern.
Denn davon gab es schließlich bei den meisten Teams noch fünf. Und während vorher alle Mannschaften im Raum verteidigt hatten, so spielten Arsenals Verteidiger nun Mann gegen Mann.
Die ersten Titel
Doch zunächst war das WM-System vor allem defensiver als seine Vorläufer, was Chapman so rechtfertigte: "Man braucht den Ball, um anzugreifen. Was ist also falsch daran, zurückzukommen und ihn sich zu holen?"
Und nach Ballgewinn sollte es zügig nach vorne gehen. Nichts anderes predigt etwa Joachim Löw heute der deutschen Nationalmannschaft. Genau nach den prophezeiten fünf Jahren holte Chapmans Team dann Arsenals ersten Titel überhaupt: Den FA-Cup 1930 (siehe Grafik). 1931 und 1933 folgten die ersten beiden Meistertitel der Klubgeschichte.
Weiße Ärmel, weißer Ball
Doch taktische Innovationen waren Arsenals Coach nicht genug. Chapman dachte über den Spielfeldrand hinaus und sorgte dafür, dass die dem Highbury Stadion nächstgelegene U-Bahn-Station von "Gillespie Road" in "Arsenal" umbenannt wurde. Kostenlose Werbung, bitte sehr!
Das ursprünglich ganz rote Arsenaltrikot bekam unter Chapman weiße Ärmel verpasst, weil weiß für die Mitspieler aus den Augenwinkeln besser zu sehen war. Den Ball ließ Chapman ebenfalls weiß bemalen, um den Zuschauern das Verfolgen des Spiels zu erleichtern.
Zudem wollte er Rückennummern einführen, damit die Zuschauer die Spieler besser erkennen konnten und schlug vor, Spiele unter Flutlicht zu veranstalten.
Das war der konservativen FA dann aber doch zu abenteuerlich. Außerdem erfand Arsenals Coach die Magnettafel, die ihm die Taktikbesprechungen mit seinem Team erleichterte. Ähnliche Sitzungen waren zuvor ebenfalls unbekannt gewesen.
Herberger mit Chapmans System
Und Chapman erkannte frühzeitig das Potential, das internationale Wettbewerbe haben könnten. Die Umsetzung dieser Idee erlebte Arsenals Coach allerdings nicht mehr. Im Jahr 1934 starb er im Alter von 61 Jahren überraschend an den Folgen einer Lungenentzündung.
Geholt hatte er sich die Krankheit auf dem Fußballplatz. Sein WM-System aber lebte weiter. Als Sepp Herberger 20 Jahre nach Chapmans Tod sein Team zum Weltmeisterschaftsfinale 1954 gegen Ungarn auf das Feld schickte, da spielte Deutschland mit dem WM-System.
Im dritten Teil der Themenwoche am Mittwoch geht es unter anderem darum, mit welchem Kniff Herberger die übermächtigen Ungarn bekämpfte. SPOX sprach dazu mit Herbergers taktischer Geheimwaffe...