Guy Acolatse wechselt 1963 als erster schwarzer Fußballer aus Togo nach Deutschland. Eine Geschichte über Alltagsrassismus am "Tor zur Welt".
Dieser Artikel wurde erstmals am 22. November 2018 veröffentlicht.
Hamburg Anfang der Sechzigerjahre: Eine deutsche Großstadt, die nach wie vor ihre Wunden des Zweiten Weltkrieges leckt und 1962 in Zeiten des Wiederaufbaus von einer verheerenden Sturmflut heimgesucht wird. Die beiden durch die Stadt mäandrierenden Flüsse Elbe und Alster hinterlassen eine Schneise der Verwüstung, 282 Menschen verlieren in den Wassermassen ihr Leben, Tausende sind im Anschluss an die zweite Julianenflut obdachlos. Eine Dreiviertelmilliarde D-Mark beträgt der geschätzte Sachschaden. Trümmer und Trostlosigkeit im hohen Norden, aus denen ein anderes Hamburg entsteht.
Ein Hamburg, das sich anschickt, nach der dunklen Ära des Nationalsozialismus eine weltoffene Metropole zu werden. Die Beatles starten in kleinen Nachtclubs auf der pulsierenden Reeperbahn ihre Karriere, Bürger strömen in Scharen ins Operettenhaus, schauen sich My Fair Lady an. Ein Musical, das aus den USA über den großen Teich geschwappt ist. Das "Tor zur Welt", es soll ein neues Gesicht erhalten. Nicht nur im übertragenen Sinne.
Im Frühsommer 1963 fährt ein Taxi vor dem Wilhelm-Koch-Stadion, dem heutigen Millerntor, vor. Ein junger Schwarzer hüpft heraus, blickt in unzählige verdutzter Gesichter. Ein Empfangskomitee hat sich an der Spielstätte des FC St. Pauli gesammelt, jeder möchte einen Blick auf den Neuankömmling werfen.
Acolatse: "Damals war ich der einzige Schwarze in Deutschland"
"Ich fragte Otto (Otto Westphal, zu dieser Zeit St.-Pauli-Trainer, Anm. d. Red.), ob ein Spiel stattfindet. Da waren so viele Leute", erinnert sich Guy Acolatse im Gespräch mit der Monatszeitung analyse und kritik . "Die sind deinetwegen da", entgegnet der Coach, der seinen Schützling wieder zurück in den Wagen ziehen will. "Doch ich war schon ausgestiegen."
Die neugierigen Besucher hatten von der Bild erfahren, dass der Kiezklub für ein Novum sorgen würde. Schon Wochen zuvor berichtete das Blatt über einen - für ebenjene Zeit - ungewöhnlichen Fußballtransfer. Für die Publicity hatten Vereinsverantwortliche selbst gesorgt, indem sie der Bild nähere Infos über die Ankunft Acolatses steckten.
"Der FC St. Pauli suchte eine neue Nummer zehn und Otto Westphal hat mich gefragt, ob ich Interesse habe, nach Deutschland zu kommen", sagt Acolatse: "Damals war ich der einzige Schwarze in Deutschland und der einzige Togolese, der hier Fußball gespielt hat." Der erste schwarze Profifußballer in der jungen Bundesrepublik.
Acolatse lehnte erst ab - bis Westphal kam
Doch wie kam der aufsehenerregende Wechsel eines togolesischen Jungen nach Mitteleuropa zustande? Westphal hatte zuvor das Abenteuer gewagt, die Nationalmannschaft der ehemaligen deutschen Kolonie zu betreuen, fungierte quasi als Helfer für die fußballerische Entwicklung im afrikanischen Staat am Golf von Guinea.
Dort traf der erfahrene Coach auf einen wissbegierigen Spieler, der für sein Alter bereits viel herumgekommen war. So hatte Acolatse für die Auswahl der Republik Dahomey (heute Benin, Anm. d. Red.) vorgespielt, ein Klub aus Lome holte den talentierten Kicker letztlich in die Hauptstadt Togos, wo Guy das Gymnasium besuchte.
Gut gebildet und spielerisch verheißungsvoll - das lockte bald Klubs aus Frankreich und Belgien an, die schon damals systematisch Scoutingarbeit in Afrika betrieben. Aus Angst, im unbekannten Europa Anpassungsprobleme zu haben, lehnte der offensive Mittelfeldmann dankend ab. Erst als Westphal sich seiner annahm, stimmte er einem Wechsel zu.
Acolatse: "Ich habe ein Alsterwasser bestellt"
Er sollte ein Deutschland vorfinden, das noch spießig genug war, einen Schwarzen für eine Attraktion zu halten. "Wenn ich in Hamburg unterwegs war, haben die Leute geguckt: ein Schwarzer! Aber ich fand das nicht schlimm. Wenn ich heute jemandem erzähle, dass ich schon 1963 in Deutschland war, dann werde ich gefragt: 'Oh Guy, konntest Du denn da alleine in eine Kneipe gehen?' Ja, ich bin alleine in die Kneipe gegangen und habe ein Alsterwasser bestellt. Die Leute haben geguckt", erklärt er.
Eine Mischung aus Argwohn, Neugierde und sogar Furcht. Vor allem die Bild findet Gefallen an dem Neuen. "Schwarz wie die Nacht, schnell wie eine Antilope und schussstark wie eine Elefantenbüchse", titelt die Springerpresse pathetisch und zeigt sich verwundert, dass ein Afrikaner der Handhabe einer Schreibmaschine mächtig ist. "Er kann Schreibmaschine schreiben, er kann Fußball spielen."
Sein erstes Tor für die Hamburger erzielt er Anfang August 1963 im Freundschaftsspiel in Büdelsdorf, wenige Tage darauf folgt das Pflichtspieldebüt in der damals zweitklassigen Regionalliga Nord gegen den Stadtrivalen Altona 93, das St. Pauli mit 4:1 gewinnt.
Das Hamburger Abendblatt attestiert dem trickreichen Neuzugang "viel Spielverständnis", während die Bild Acolatse bereits auf den "Weg zu Hamburgs Mann des Jahres" hievt. Westphal, Ziehvater und Übungsleiter in Personalunion, hat zunächst Bedenken, ob Guy den Schritt in den deutschen Profifußball tatsächlich packt. Immerhin habe er daheim in Togo das Fußballspielen mit Apfelsinen gelernt.
Acolatse trifft gegen den FC Bayern mit Franz Beckenbauer
Zudem sträubt sich der 21-Jährige, der damals eigentlich erst 16 ist, wie er der Welt im Jahr 2017 verriet, zunächst, Stollenschuhe anzuziehen. Seine Teamkollegen gewähren ihm Eingewöhnungszeit, letzten Endes avanciert er unter Westphal zum Stammspieler. Besonders gerne denkt Acolatse heute an die Aufstiegsrunde in die neu gegründete Bundesliga im Sommer 1964 zurück. Der Gegner heißt Bayern München. "Ich habe gegen Franz Beckenbauer gespielt. Der hat damals sein erstes Spiel für die Bayern gemacht. Das ist unvergesslich für mich", erzählt er stolz.
Beide Spiele gegen die Münchner, die sich im Laufe der Jahre zum erfolgreichsten Verein Deutschlands mausern sollten, gehen verloren. 0:4 und 1:6 heißt es aus Sicht der Paulianer. Das einzige Tor für die unterlegenen Hanseaten steuert Acolatse bei. Am Interesse der Medien und der Einwohner ändert sich trotz des verpassten Aufstieges nichts. Auch die Angst bei den Leuten vor der "schwarzen Perle" (Bild), dem Unbekannten, hält sich wacker.
Acolatse selbst nimmt die Hysterie mit Humor. "Als ich meinen Führerschein bei der Behörde holen wollte, starrte der Beamte mich an und ich habe meine Augen weit aufgerissen und bin ganz langsam auf ihn zugegangen und habe mit den Augen gerollt. Der Mann ist immer weiter zurück gegangen, konnte aber nicht mehr weiter, weil er schon an der Wand stand. Er hat richtig Angst gehabt", sagt Guy und fährt fort: "Sein Kollege fing an zu lachen. Ich bin dann nach draußen, habe drei Kaffee geholt und diese mit ihnen getrunken. Wir haben uns angefreundet. Er hat mich dann mit zu seinen Eltern genommen. Das war vielleicht eine Überraschung. Er wollte seinen Eltern zeigen, dass er einen Schwarzen kennengelernt hat. Als die Mutter die Tür aufmachte, ist sie richtig erschrocken. Sie hat hinterher erzählt, sie hat gedacht, sie muss jetzt sterben."
Als der Sohn die Mutter aufklärt und ihr sagt, dass Acolatse bei St. Pauli spielt, ruft sie: "Oh, den wollten wir uns doch immer schon mal ansehen. Aber wir hatten ein bisschen Angst." Guy schildert ebenfalls die Vorbehalte einiger Gegenspieler, die er für sich zu nutzen weiß: "Wenn ich gespielt habe, habe ich gesagt: 'Eh, wenn Du mich anfasst, beiße ich Dich. Hey, der Neger beißt.'"
Nicht ganz so amüsant verlaufen bisweilen die Zusammentreffen mit gegnerischen Fans. Für die, so wird Guy von der Welt zitiert, ist er nicht die "schwarze Perle", sondern vielmehr ein "scheiß Neger" und eine "schwarze Sau". Auch die eigenen Anhänger reduzieren ihn bei schwächeren Spielen auf seine Hautfarbe, äußern sich herablassend. "Du schießt keine Tore. Du bekommst eine Banane, Du kleiner Affe."
Einen schweren Stand hat er, als Westphal die Braun-Weißen nach einem Jahr verlässt. Unter Neu-Trainer Otto Corps kommt Acolatse weniger zum Einsatz, weil der Coach eine andere Spielphilosophie etabliert. "Wir Togolesen haben anders Fußball gespielt, wenn wir einen Ball haben, versuchen wir, den auch erstmal zu behalten und Verteidiger auszutricksen und so", sagt er. Auch Corps packt nach einer Spielzeit die Koffer, macht Platz für Kurt Krause, der wiederum keine Verwendung für den Trickser hat.
Schlussstrich bei St. Pauli nach drei Jahren
Eine Begründung für die Ausbootung gibt er Acolatse nicht mit auf den Weg, der rückblickend nüchtern sagt: "Dann ging es irgendwie nicht mehr." Nach drei Jahren bei St. Pauli stehen 43 Spiele und sechs Tore zu Buche. Seiner Wahlheimat bleibt er im Anschluss aber treu, schließt sich dem HSV Barmbek Uhlenhorst an, für den er ebenfalls drei Jahre lang aufläuft.
1970 kehrt er ans Millerntor zurück und spielt für St. Paulis zweite Mannschaft. "Irgendwie war das wie meine Familie. Die Vorstände und auch andere haben mich oft mittags mit nach Hause zum Essen genommen und mich hinterher wieder zum Training gebracht", begründet er sein abermaliges Engagement bei Pauli.
Für noch mehr Wirbel als auf dem Fußballplatz sorgt der Junge in der berüchtigten Hamburger Bar- und Clubszene. Er freundet sich mit Gunter Sachs an, seines Zeichens Opel-Erbe und Lebemann, dreht einen Film mit der dänischen Schlagerikone Gitte Haenning. Generell kommt der Exot bei der Damenwelt hervorragend an.
"Oft wurde ich in Bars oder Tanzclubs angesprochen, ob ich mal mit auf die Toilette kommen und ihnen meinen Penis zeigen könnte", lacht Acolatse. Im Villenviertel Pöseldorf entdeckt er eine Eisdiele, die fortan zu einer Art Stammcafe avanciert. Er geht mit Mitspielern hin, oder eben mit seinen häufig wechselnden Frauenbekanntschaften.
Acolatse und die Frauengeschichten
Acht Monate lang ist er mit der griechischen Sängerin Vicky Leandros liiert. Beim Gedanken an die Beziehung mit der erfolgreichen Künstlerin füllen sich seine Augen mit Tränen. Die Beziehung zerbricht, weil Vickys Vater sich ihm gegenüber "leicht rassistisch" verhalten habe. Mit der Treue hält es Acolatse selber nicht so genau. Vor seiner Liaison mit Leandros heiratet er zwar Elke, eine Hamburgerin, mit der er 1965 einen Sohn bekommt. Es bleibt - wegen seiner Affären - aber ein kurzweiliger Bund fürs Leben.
"Wenn ich mit einer Frau ausging, kam irgendwann ein Kellner mit einem Zettel. Darauf stand: 'Na, hast Du es schön?' Elke saß dann irgendwo weiter hinten und beobachtete uns. Keine Ahnung, wie sie mich immer gefunden hat." Um den Frauen abzuschwören, wie er sagt, lässt Acolatse sich auf dem Land, genauer gesagt in Bergedorf, nieder. Seine freiwillig auferlegte Sex-Abstinenz bleibt allerdings offenbar nur von kurzer Dauer.
Er lernt die Tochter eines Pariser Rechtanwaltes kennen, die in Hamburg Jura studiert. Eine Liebschaft, die sein Leben nachhaltig verändern sollte. "Sie war 21 Jahre jünger, verrückt nach Fußballspielern und zwei Jahre später schwanger. Ich sagte: 'Wenn es ein Mädchen ist, gehe ich mit Dir zurück nach Paris.'"
Kurz nach der Geburt seiner Tochter, 1980, macht Acolatse sein Versprechen wahr und geht mit seiner Frau in die französische Hauptstadt, nach Saint-Denis. Dort trainiert er die dritte Mannschaft von PSG und arbeitet hauptberuflich bei Ford.
Heute lebt Acolatse von 800 Euro im Monat
Mittlerweile ist Guy Rentner, lebt von knapp 800 Euro im Monat, wovon die Hälfte für die Miete draufgeht. Er wohnt gemeinsam mit seiner Tochter, die wie ihre vor Jahren verstorbene Mutter ebenfalls Jura studiert, nach wie vor im Pariser Vorort, unweit des Stade de France. Ehrenamtlich trainiert er Kinder aus prekären Verhältnissen, jeden Mittwoch spielt er mit ihnen auf einem kleinen Kunstrasenplatz.
In St. Denis, seinem Viertel, kennt ihn jeder. Acolatse ist gut gelitten. Auch, weil er sich für die einsetzt, die finanziell noch mehr darben müssen als er selbst. Klagen über seine knappe Pension liegt ihm daher fern: "Ich bin gesund, schlafe gut und bin mittlerweile dreifacher Großvater", sagt er der Welt.
An sein zweites Zuhause, Hamburg, denkt er noch immer gerne zurück. "Deutschland war mein erstes Land. Dort bin ich zum Mann geworden. Und Hamburg ist meine Heimat." Wenn er heute zurückkehrt in die Hafenstadt, wird er nicht mehr gefragt, ob die Farbe wohl abgehe, wenn man an seinem Unterarm kratzt.
Auch als kleiner Affe muss er sich nicht mehr titulieren lassen. Ein Schwarzer in Deutschlands Fußballkosmos: früher undenkbar, damals eine Attraktion, heute glücklicherweise Usus - auch, wenn der Rassismus seine hässliche Fratze heute bisweilen noch offener zeigt als im Hamburg der Sechzigerjahre.