Der Hamburger SV steht vor dem ersten Abstieg der Vereinsgeschichte. Die Gründe für den Niedergang sind nicht neu, halten sich aber wie ein Virus im Kern des ehemals stolzen Klubs.
Vielleicht war es doch keine so gute Idee, den Hamburger Profis am Samstagnachmittag zwei Stunden Live-Fußball zu kredenzen - anstatt, wie sonst üblich, das Abschlusstraining parallel zur Anstoßzeit am darauffolgenden Tag auszurichten. Trainiert wurde also schon vormittags, zur Bundesligazeit am Samstag versammelte sich die Mannschaft zur gemeinsamen TV-Runde.
Die Konkurrenz spielte ausnahmslos für den Hamburger SV, der einen Tag später beim FC Augsburg einen entscheidenden Schritt in Richtung Klassenerhalt machen sollte - und kläglich versagte. Platz 15 und die damit verbundene Rettung ist zwei Spieltage vor Schluss schon fünf Punkte entfernt. Für den HSV geht es im Prinzip nur noch darum, sich wenigstens in die Relegation zu retten.
Nach den zuletzt gezeigten Leistungen und auf Grund der schweren Gegner in den letzten beiden Partien schwindet die Hoffnung auf den Klassenerhalt beim HSV. Die Gründe für den Hamburger Niedergang sind vielfältig. Eine Bestandsaufnahme.
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Die Zahlen
Nach der miserablen Vorrunde hat der HSV nun auch die schlechteste Rückrunde der Vereinsgeschichte gespielt. Lediglich elf Punkte stehen zu Buche. Insgesamt 27 Punkte nach 32 Spieltagen sind Hamburger Minusrekord.
Kein anderes Team aus der ersten, zweiten und dritten Liga hat diese Saison mehr Gegentore kassiert und in der Rückrunde weniger Punkte gesammelt.
Durch die drei Gegentreffer beim FCA ist der HSV nun unangefochten die Schießbude der Liga. 68 Gegentore haben die Hamburger in den bisherigen 32 Saisonspielen (2,13 im Schnitt) kassiert.
Zuletzt setzte es acht Auswärtsniederlagen in Folge bei einem Torverhältnis von 6:20. Trainer Mirko Slomka hat mit dem HSV und Hannover sogar alle seine 14 Partien in der Fremde in dieser Saison verloren.
In den Spielen gegen die Konkurrenz aus dem Tabellenkeller holte der HSV nur fünf von 18 möglichen Punkten und gewann in dieser Saison überhaupt nie zwei Spiele in Folge.
Der Trainer
Mirko Slomka ist der einzige aus dem sportlichen Bereich, der den Abstiegskampf bis zum letzten Spieltag schon einmal am eigenen Leib erfahren hat. Hannover konnte er vor vier Jahren vor dem Abstieg retten. Am HSV scheint aber auch Slomka langsam zu verzweifeln.
Die Mannschaft bietet mittlerweile die pure Fortführung des Fink-Fußballs ohne erkennbare Besserungen an. Auch Slomka vertraut denselben Spielern auf denselben Positionen, wirklich verändert hat auch er nicht viel.
Warum etwa ein Petr Jiracek nur noch Ergänzungsspieler ist, obwohl andere Spieler auf seinen Positionen im Mittelfeld oder der linken Seite in der Viererkette Woche für Woche enttäuschen oder nicht fit sind, erschließt sich kaum.
Als sich Johan Djourou unmittelbar vor dem Spiel gegen Wolfsburg verletzte, zog das gleich drei Umstellungen in der Startelf nach sich. Dabei hätte eine gereicht. Es sollte im Sinne des Trainers sein, dass sich an der Startelf, mit der die Trainingswoche geplant und zielgerichtet auf das nächste Spiel durchgeführt wird, so wenig wie möglich verändert.
Slomka ist der Verwalter der Misere, er hat keinen einzigen Transfer getätigt und muss mit dem Kader klarkommen, der ihm auf den Hof gestellt wurde. Und doch hat man sich von Slomka mehr erwartet als zwei Spieltage vor dem Ende in akuter Abstiegsgefahr zu stecken.
Die Mannschaft
Insgesamt acht verschiedene Sportdirektoren und Trainer haben am aktuellen Kader mitgebastelt. Die Unwucht ist dabei kaum übersehbar. Längere Ausfälle auf Grund von Verletzungen wie bei Dennis Diekmeier, Rafael van der Vaart, Maximilian Beister, Pierre-Michel Lasogga oder Slobodan Rajkovic kann die Mannschaft nicht auffangen.
Im Kader steht mit Diekmeier nur ein gelernter rechter Außenverteidiger, im Angriff konnte Trainer Slomka in der Rückrunde nach Beisters Kreuzbandriss und der Leihe von Artjoms Rudnevs nur zwischen Lasogga, Jacques Zoua und Mattia Maggio wählen.
Lasogga ist seit Wochen verletzt, Zoua besitzt offenbar nicht die Qualität für die Bundesliga und ist alles andere als ein Mittelstürmer. Dabei war der Kameruner noch der absolute Wunschspieler von Ex-Trainer Thorsten Fink. Und Maggio kommt mit der Empfehlung von acht Saisontoren in der Regionalliga Nord daher.
Die beiden Wintertransfers Ola John und Ouasim Bouy waren wiederum die Wunschspieler von Ex-Trainer Bert van Marwijk. Seit van Marwijk beim HSV Geschichte ist, stehen beide auch schon wieder auf dem Abstellgleis.
Nach dem Derby in Bremen, als es beide Spieler trotz angespannter Personalsituation nicht in den Kader schafften, ließ Sportdirektor Oliver Kreuzer durchblicken, wie hoch die Wertschätzung für die beiden Niederländer von Beginn an war. "Von Ola John haben wir uns viel mehr erwartet. Bouy war kein Spieler, auf den wir gesetzt haben und der uns in der jetzigen Situation hilft. Der Spieler war eine Dreingabe", sagte Kreuzer damals.
Nach langen Verletzungen mussten Rene Adler oder zuletzt Milan Badelj und Marcell Jansen sofort wieder von Null auf hundert ran. Jansen zum Beispiel hatte nach sieben Wochen Pause vor dem Augsburg-Spiel nur zweimal mit der Mannschaft trainiert, wurde von Slomka aber in die Startelf berufen und war Kapitän.
Dass der Nationalspieler zwar gesund, aber längst nicht fit und auf Bundesliganiveau spieltauglich war, war kaum zu übersehen. Gleiches ist jetzt am Wochenende im Spiel gegen die Bayern mit van der Vaart geplant...
Der offensive Mittelfeldspieler Tolgay Arslan und der eigentlich auf der Acht am besten aufgehobene Milan Badelj müssen die Doppel-Sechs vor der Abwehr bilden. Tomas Rincon, auf Grund seiner Spielweise der aggressivste Spieler im Kader und eigentlich ein klassischer Sechser, spielt dagegen auf der Halbposition.
Die Zentrale im Mittelfeld ist eins der größten Probleme des HSV. Hier wechseln sich mannschafts- und gruppentaktisch Fehler in bester Regelmäßigkeit mit individuellen Verfehlungen ab. Ein planvolles Zusammenspiel in Defensive wie Offensive ist nur im Ansatz zu erkennen, die Spieler halten ihre Position nicht konsequent und damit die Mitte nicht besetzt.
Mit 40 Millionen Euro Unterhaltskosten ist Hamburgs Kader im oberen Drittel der Liga angesiedelt. Kreuzer und Klub-Chef Carl-Edgar Jarchow haben es auch im vierten Jahr in Folge nicht geschafft, die Kosten für den Kader merklich zu reduzieren. In den letzten drei Jahren musste der Klub auch deshalb ein Minus von insgesamt rund 22 Millionen Euro ausweisen.
Die Mentalität
"Man kann berechtigte Zweifel am positiven Ausgang haben", sagte Kreuzer am Anfang der Woche. Der Sportdirektor ließ sich zu einigermaßen unbedachten Äußerungen hinreißen, die die komplette Ratlosigkeit der sportlichen Führung belegten.
"Alleine können wir es nicht mehr schaffen. Wir brauchen die Unterstützung der anderen", sagte Kreuzer. "Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir extremst in die anderen Stadien gucken müssen." Das mag gefühlt richtig sein, ist aber angesichts von einem beziehungsweise zwei Punkten Vorsprung auf Nürnberg und Braunschweig ein völlig falsches Signal an die Mannschaft. Im Prinzip muss ja der HSV "nur" seine beiden Spiele gewinnen, hat es also sehr wohl selbst in der Hand.
Kreuzer hat in dieser Saison schon nahezu alles versucht, um die Mannschaft zu packen. Fast immer vergeblich. Vor dem Augsburg-Spiel appellierte er an die Ehre seiner Spieler. "Wir befinden uns auf der Zielgeraden, es sind vielleicht noch 30 Meter zu absolvieren. Jetzt muss jedem Spieler bewusst sein, was es heißt, alles aus sich rauszuholen. Sie müssen mehr als 100 Prozent geben, es geht um das große Ganze, um das Überleben des Vereins. Totale Hingabe, unglaublicher Siegeswillen, bedingungsloser Einsatz - das ist es, was ich fordere."
Es wurden Einzelgespräche geführt, ein Kurztrainingslager organisiert, Slomka holte sogar einen Bioenergetiker zu Hilfe. Geholfen hat es gar nichts, in Augsburg spielte der HSV einmal mehr wie ein Absteiger.
"Jeder Spieler hat gewusst, was auf dem Spiel steht. Das war zu wenig, das war einfach zu wenig. Ich warte schon seit Wochen auf eine Reaktion der Mannschaft. Sie hat es auf die Spitze getrieben", formulierte Kreuzer seine Enttäuschung nach der Partie. "Irgendwann ist alles an- und ausgesprochen. Am Ende des Tages ist es soweit, dass es die Jungs auf dem Platz umsetzen müssen."
Die so genannten Führungsspieler verstecken sich entweder oder sind mit der Situation schlicht überfordert. Ein gutes Beispiel ist Torhüter Adler. Dem unterlaufen nicht zufällig so viele schwere Fehler wie noch nie in seiner Karriere. Adler will unbedingt, hat aber weder in Hamburg noch in seiner Zeit davor in Leverkusen gelernt, voranzugehen und eine Mannschaft zu führen.
Selbst zwei Spieltage vor Schluss und mit dem Rücken zur Wand haben einige Spieler offenbar den Ernst der Lage immer noch nicht erkannt. "Spielerisch war es nach vorne ganz okay, hinten fallen die Tore zu einfach", erklärte Arslan nach der Augsburg-Partie lapidar. Jener Spieler, der bei den beiden ersten Gegentoren nicht wie gefordert den Halbraum gesichert und Doppeltorschütze Halil Altintop in irgendeiner Weise am Abschluss gehindert hatte.
Streng genommen führt die Mannschaft die Mentalität des gesamten Klubs nur stringent auf dem Platz fort. Es gibt seit fünf Jahren keinen echten Leistungsgedanken auf allen Ebenen. Niederlagen und Rückschläge werden schulterzuckend hingenommen, vereinzelte Siege schnell als Trendwende verkauft - dabei schürten die immer nur die latente Selbstzufriedenheit im Klub.