Vor ihm liegen die riesigen Fußstapfen des legendären Papas - doch Benjamin Kirsten lebt bei Dynamo seinen eigenen Traum. Dresdens Keeper über die unglaublichen Leiden des Abstiegs, Pokalnächte gegen Borussia Dortmund und den eigenen Weg zur Dynamo-Legende.
SPOX: Herr Kirsten, Anfang März treffen Sie mit Dynamo Dresden im DFB-Pokal auf den BVB. Das letzte Spiel zwischen ihnen beiden hatte durch Fankrawalle einen faden Beigeschmack. Wie haben Sie die Dinge damals miterlebt?
Kirsten: Ich war damals verletzt und in der Reha, konnte deshalb nicht einmal vor Ort sein. Letztendlich sind wir verdient rausgeflogen und haben unsere Strafe bekommen. Das sollte man nicht mehr in der Vergangenheit kramen. Unsere Fans haben eindrucksvoll gezeigt, dass wir dieses Jahr wieder zu Recht dabei sind. Es waren Partien mit unglaublicher Stimmung.
SPOX: Freut man sich als Außenseiter auf so ein Spiel oder hofft man im Vorfeld, dass der Gegner ein leichterer wird?
Kirsten: Ehrlich gesagt ist der Pokal in den Hintergrund gerückt. Wir richten unser Augenmerk voll auf die Liga, dort haben wir eine viel wichtigere Aufgabe. Pokal-Partien sind Zusatzspiele, die man genießen muss. Ich glaube auch, dass unsere Mannschaft den Stellenwert des BVB-Spiels ganz gut einschätzen kann. Erst wenn das letzte Ligaspiel vor dem Pokal gegen Dortmund beendet ist, wird der Fokus darauf gelegt. Klar, wir sind Drittligist und Außenseiter, aber das macht doch die Attraktivität des Pokals aus, dass immer alles möglich ist.
SPOX: Wir haben die Dynamo-Fans bereits kurz angesprochen. Haben Sie denn noch Kontakt zur Fanszene? Schließlich gelten Sie als eine der Identifikationsfiguren des Vereins.
Kirsten: Schon bevor ich zu Dynamo gegangen bin, war ich sehr viel in der Fanszene aktiv. Dynamo war in unserer Familie immer ein großes Thema. Außerdem bin ich ja schon lange hier und glaube, dass auch dadurch eine tiefe Verbundenheit entstanden ist.
SPOX: Geht es dann nach der aktiven Karriere zurück in den Block?
Kirsten: Das ist ja noch weiter weg als das Dortmund-Spiel! (lacht) Aber man weiß nie. Ich habe immer klar signalisiert, wie ich zum Verein stehe. Die Zukunft ist immer eine Überraschungskette. Wenn ich sehe, was Spieler, mit denen ich zusammengespielt habe, nach dem Karriereende für einen Weg eingeschlagen haben, zeigt das eigentlich, dass es immer anders kommt, als man denkt.
SPOX: Führt die Überraschungskette auch einmal in die Bundesliga?
Kirsten: Wir haben ja schon Bundesliga gespielt. Drei Jahre in der zweiten Liga - das ist für mich Bundesliga-Fußball. Da war jede Partie ein Highlight, man hat immer gespürt, dass die Zuschauer da waren - in jedem Spiel weit über 20.000 - egal welcher Gegner kam. Wir hatten damals echt wahnsinnige Spiele, auch die Relegation hatte ihren eigenen Charakter. Bei uns ist eigentlich jedes Spiel ein Highlight, egal in welcher Liga. Wer sich das schon mal bei uns im Stadion angeguckt hat, der weiß, wovon ich rede.
SPOX: Wären Sie denn bereit, den Verein zu wechseln, um sportlich in eine höhere Liga zu kommen?
Kirsten: Ich habe schon vor der Saison gesagt, dass ich dieses Projekt hier in Dresden unbedingt mitmachen möchte. Ich habe jetzt noch ein Jahr Vertrag, was danach kommt, damit beschäftige ich mich noch nicht. Ich bin jetzt schon sieben Jahre hier, das ist eine lange Zeit. Ich bin gespannt, was die nächsten Monate passiert und wie sich das Ganze entwickelt.
SPOX: Kommen wir zu Ihrem Vater Ulf. Welchen Anteil hatte er daran, dass Sie überhaupt zum Fußball gekommen sind?
Kirsten: Es prägt natürlich, wenn man 24 Stunden am Tag mit Fußball konfrontiert wird. Auch wenn meine Eltern mir die offene Wahl gelassen haben, welchen Sport ich ausübe. Ich wollte allerdings immer Fußball spielen, das war meine Erfüllung. Ich habe mit vier Jahren bei Leverkusen angefangen und die Jugendmannschaften durchlaufen. Dort durfte ich eine überragende Fußballschule durchleben.
SPOX: Hatte Ihr Vater denn irgendeinen Einfluss auf Ihre Karriere? Beispielsweise darauf, dass Sie, wie sie bereits sagten, so früh in die Leverkusener Jugend gingen?
Kirsten: Ich hätte mich schon selbst entscheiden können, war zu dem Zeitpunkt aber absoluter Bayer-Fan. Es ist ein Privileg, dort spielen zu dürfen, das sollte sich auch jeder Jugendspieler vor Augen führen. Ich wollte immer bei Leverkusen und später auch bei Dynamo spielen. Beide Träume habe ich mir erfüllt.
Seite 1: "Ich habe mir beide Träume erfüllt"
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SPOX: Wie groß war der Ansporn, in seine Fußstapfen zu treten?
Kirsten: Seine Fußstapfen sind natürlich riesig. Was er geschafft hat, ist unerreichbar. Es wird niemals eine Art Stürmertyp wie ihn geben, der so brutal genetzt hat, der so einen unglaublichen Ehrgeiz an den Tag gelegt hat. Das sind alles klasse Tugenden. Er hat außerdem eine Persönlichkeit, mit der er sich in ganz Deutschland Respekt erarbeitet hat. Ich habe es immer betont: Wenn ich es erreichen sollte, dass mir die Leute ähnlichen Respekt zollen wie ihm - nicht nur sportlich gesehen, sondern besonders charakterlich - dann hätte ich schon viel erreicht.
SPOX: Gibt es da Parallele, was Einstellung und Mentalität angeht?
Kirsten: Bezüglich der Einstellung sind wir glaube ich ziemlich gleich. Es gibt auch Dinge, die er mir fußballerisch vererbt hat. Wenn im Spiel mal ein Torhüter übrig ist und ich ins Feld gehe, weiß ich immer, wie ich laufen muss. Dabei habe ich gar nicht die Kondition, um zu laufen wie ein Feldspieler (lacht). Leute, die uns beide kennen, sehen da schon gewisse Parallelen. Aber wir sind trotzdem völlig verschiedene Fußballtypen - alleine schon weil ich Handschuhe anhabe.
SPOX: Ein ganz anderes Thema: Nach dem Abstieg Dynamos letzte Saison verfassten Sie einen sehr emotionalen Facebook-Post. Was veranlasste Sie dazu, diesen zu veröffentlichen?
Kirsten: Wenn man die ganze Saison gegen den Abstieg kämpft und selbst an einen Punkt kommt, an dem man auch an sich selbst zweifelt, wenn man sich fragt: "Warum konnte man da nicht gewinnen? Warum da nicht unentschieden spielen?" Diese sechs Punkte, die uns gefehlt haben, haben wir über die ganze Saison liegen gelassen. Und dann sitzt man da, fährt nach Hause und macht sich Gedanken, wie unfassbar das alles ist. Es ist eine der größten Schanden, die man über sich ergehen lassen muss.
SPOX: Was haben Sie dann unternommen?
Kirsten: Ich habe mich eine Woche nicht rausgetraut. Ich war völlig am Boden. Da ging es mir wie tausenden Fans. Das hat mich eben dazu bewegt, ein paar Dinge aufzuschreiben und anzusprechen, auch damit die Fans eben merken, dass sie nicht alleine mit ihrer Trauer sind. Ich wollte einfach einen Teil zurückgeben für diese Unterstützung, die wir das ganze Jahr gekriegt haben. Wir haben bis zur letzten Minute versucht, alles zu geben. Einen Tag danach habe ich mich gefühlt, als wäre ich vom Bus überrollt worden.
SPOX: Für Sie persönlich lief die Saison damals auch nicht ganz ideal. Sie wurden für sechs Spiele auf die Bank gesetzt...
Kirsten: Als Torwart gibt es eben nur eine Position. Ich habe das akzeptiert und immer weiter gemacht, bin an Leistungsgrenzen gegangen, an die man eigentlich nicht gehen kann. Ich habe den Platz dann wegen einer Verletzung zurückgekriegt, es ist aber nicht so, dass ich mir das nicht erarbeitet hätte. Ich wollte niemandem eine Plattform geben, um zu sagen: "Der lässt sich hängen." Ich war natürlich etwas angeschlagen, habe viele Leute nicht mehr an mich rangelassen - auch weil ich es nicht ganz gerecht fand, was passiert ist. Aber das ist die Vergangenheit. Jetzt gibt es ein neues Projekt, bei dem ich stolz bin, ein Teil davon zu sein.
SPOX: In einem früheren SPOX-Interview bezeichneten Sie sich als "Schreikind". Gehören Sie auch heute noch zu den lauteren Spielern in der Mannschaft?
Kirsten: Es gibt ja zwei Seiten: Auf dem Platz und in der Kabine. Ich versuche, in der Kabine immer offen zu sein und auch ein bisschen Spaß zu haben, damit Lockerheit da ist. Auf dem Feld versuche ich sehr fokussiert zu sein. Das sind eben die zwei Paar Schuhe. Zu Hause bin ich auch eher relativ ruhig.
SPOX: Sie deuteten damals zwei große Ziele an: Spielen, bis Sie 37 Jahre alt sind und Rekordspieler bei Dynamo zu werden. Ist das noch realistisch?
Kirsten: (lacht) Kurz vor dem Interview habe ich mal nachgeschaut und gesehen, dass der Rekord bei über 800 Spielen liegt. Das habe ich mal so grob überschlagen... das könnte schon sehr, sehr eng werden (lacht). Aber Spaß bei Seite: Man steckt sich ja immer irgendwelche Ziele. Diese sollten auch erreichbar, gleichzeitig aber auch schwierig sein, sonst verliert man den Ehrgeiz.
SPOX: Also sind zwei andere Aussagen, die Sie damals äußerten, realistischer: "Kirsten unterschreibt Rentenvertrag" und "Dynamo steigt in die zweite Liga auf"?
Kirsten: (lacht) Das ist gut möglich!