Seit eineinhalb Jahren ist Bruno Labbadia ohne Trainerjob. Der ehemalige Coach des VfB Stuttgart spricht im Interview ausführlich über seine Art von Groundhopping, den permanenten Stress als Trainer, das Schwarz-Weiß-Denken im Fußball und seine Wünsche für die Zukunft.
SPOX: Herr Labbadia, am 26. August 2013 hat sich der VfB Stuttgart von Ihnen getrennt. Sie waren gerade zuletzt viel unterwegs und haben sich wieder Spiele angeschaut. Haben Sie die Zeit auch zu einer Hospitanz genutzt?
Bruno Labbadia: Nein. So etwas macht in meinen Augen am meisten Sinn während den beiden Vorbereitungsphasen, da man dann viele Trainingseinheiten auf einmal sehen kann. Ich habe das aber nach meiner 19 Jahre langen Zeit als Profi gemacht, bevor ich in den Trainerjob eingestiegen bin. Das war 2006, ich bin eine Woche lang beim FC Barcelona sowie zwei Wochen beim FC Basel unter Christian Gross zu Besuch gewesen. Jetzt habe ich mich dazu entschieden, mehrere Standorte anzuschauen, ohne dort aber zu hospitieren.
SPOX: Wo waren Sie überall?
Labbadia: Vor allem in England. Dort habe ich mir 16 von 20 Erstligisten sowie Spiele von Zweit- und Drittligisten angesehen. Ich war auch in Italien, um mir das taktische Niveau anzuschauen, das nach wie vor herausragend ist. In Spanien war ich ebenfalls und zum Schluss auch bei LA Galaxy in den USA, weil sich im amerikanischen Fußball einfach viel bewegt. Mir ging es einfach darum, die genauen Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern durch längere Vor-Ort-Beobachtungen herauszuarbeiten.
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SPOX: Beim FC Liverpool haben Sie auch das Trainingszentrum angeschaut. Wie kam es dazu?
Labbadia: Ich habe dort einen guten Kontakt, der mir das zum Glück ermöglichen konnte. Es gibt zwar in Deutschland sicherlich noch modernere Trainingszentren, aber es war dennoch sehr beeindruckend. Unglaublich auch, wie man überall den Fußball und seine Tradition atmen kann, wenn man durch das Trainingszentrum läuft. Dort passt vieles einfach wunderbar zusammen.
SPOX: Haben Sie die einzelnen Spiele als regulärer Zuschauer gesehen und wie hoch war die Schlagzahl Ihrer Besuche?
Labbadia: Ich habe mir ein paar Mal ein reguläres Ticket gekauft, meistens konnten mir aber die Vereine weiterhelfen. Ich war da teilweise wie ein Groundhopper und habe auch mal zwei Spiele an einem Tag gesehen. Da haben wir uns mittags Sampdoria gegen Lazio angesehen, mussten fünf Minuten vor Schlusspfiff aber regelrecht aus dem Stadien rennen und ins Taxi steigen, damit wir den Zug nach Bologna noch kriegen, die abends gegen Inter antraten (lacht). In England war ich mit meiner Frau und meinem Sohn, in Italien zusammen mit einem Freund. Mir ging es auch darum, im Vorfeld bereits die Atmosphäre zu schnuppern und mich ein bisschen im Stadionumfeld zu bewegen.
SPOX: Welches Erlebnis ist Ihnen am ehesten im Kopf geblieben?
Labbadia: Die Stadionbesuche in England. Dort sitzt man teilweise noch auf Holzbänken oder hat eine Säule im Blick, aber ist dafür total nah dran am Geschehen. Als ich bei Aston Villa war, bekam ich die Aufstellung von deren ältesten noch lebenden Spieler in die Hand gedrückt. Dieser Charme und die Leidenschaft der Zuschauer für den Sport gefallen mir unheimlich gut. Solange ich mich nicht selbst im Innenraum bewege, bin ich eben auch Fußball-Fan.
SPOX: Was waren die fachlich größten Erkenntnisse, die Sie mitgenommen haben?
Labbadia: Es geht nicht darum, etwas Unbekanntes zu entdecken. Wichtiger war mir, die Begebenheiten in den Ländern einfach mal live und in Ruhe zu sehen. Da wurde dann beispielsweise in Italien augenscheinlich, wie sehr die Mannschaften defensivtaktisch orientiert sind. Selbst der Tabellenletzte ist dort auf ein Zeichen des Trainers hin in der Lage, innerhalb kürzester Zeit von Dreier- auf Viererkette umzustellen und dennoch keinen Bruch im Spiel zu haben. Oder das Thema Raumaufteilung: In Europa ist völlig ersichtlich, dass eine Mannschaft Probleme bekommt, sobald die Abstände zwischen den einzelnen Mannschaftsteilen auch nur minimal nicht passen. In den USA stehen Offensive und Defensive dagegen deutlich weiter auseinander, so dass die Individualität viel mehr zum Tragen kommt.
SPOX: Waren diese Besuche für Sie reine Arbeit oder haben Sie dort auch Ihre Freizeit genossen?
Labbadia: Fußball ist keine Arbeit für mich in diesem Sinne. Das ist vor allem Leidenschaft. Ich habe zwar viel Zeit in diese Art von Weiterbildung investiert, es aber auch mit dem Privatem verbunden. Wir waren manchmal touristisch unterwegs, in Liverpool haben wir uns auf die Spuren der Beatles gegeben oder auch einfach mal ein schönes Abendessen zusammen genossen. Ich konnte so einige Städte, in denen ich bereits war, freier genießen und besser kennen lernen.
SPOX: Mit der Freiheit wäre es aber prompt vorbei, wenn Sie wieder einen neuen Job antreten würden. Dann prasselt sofort ungebremst die enorme Intensität dieses Berufs auf Sie ein. Ist dies grundsätzlich das größte Zugeständnis, das man machen muss?
Labbadia: Natürlich, die Zeit geht einem dann einfach flöten. Es ist die Kunst für einen arbeitenden Trainer, sich auch mal aus der sportlichen Situation herausnehmen zu können. Das gelang mir zu Beginn meiner Trainerkarriere nicht besonders gut.
SPOX: Inwiefern?
Labbadia: Ich lief mit Scheuklappen herum und atmete kaum durch, weil man eben so sehr in seinem Element ist. Die aktuelle Phase ist jetzt erst meine zweite Auszeit in diesem Geschäft nach über 30 Jahren. Es dauerte bei mir 27 Jahre - 19 als Profi und acht als Trainer - bevor ich mir mal länger als zwei Wochen Urlaub nahm. Ich wollte und konnte das damals nicht anders. Im Prinzip kann man nämlich immer arbeiten. Es ist mir aber nach den einzelnen Erfahrungen klar geworden, dass es genauso wichtig ist, auch mal ganz bewusst eine Ruhepause für einen halben Tag einzulegen. Mit der Zeit habe ich für mich funktionierende Mechanismen gefunden.
SPOX: Welche sind das?
Labbadia: Einerseits körperliche Betätigung: Ich gehe beispielsweise regelmäßig ohne Musik laufen, um einfach den Kopf frei zu bekommen. Mir hilft es aber auch sehr, mich im Kreise meiner Familie und Freunde zu bewegen. Ich bin ein Film-Freak, schaue mir gerne Thriller an oder gehe ins Kino. Mit der Serie "Shameless" habe ich meine ganze Familie angesteckt (lacht). Das sind Dinge, die sich eingespielt haben und mir die nötige Ruhe zurückbringen.
SPOX: Welche Einflüsse waren Ihnen zu Beginn Ihrer Zeit als Trainer neu?
Labbadia: Ich bin als Spieler eigentlich nie auf der Couch eingeschlafen. In meinen ersten beiden Jahren als Trainer bin ich allerdings regelmäßig um halb 11 abends eingepennt, obwohl ich ein Nacht-Mensch bin. Dieses permanente Sprechen, Zuhören, plötzlich nicht nur für dich selbst, sondern für alle möglichen Belange zuständig zu sein - das machte mich wahnsinnig müde. Ich dachte am Schluss meiner Spielerkarriere immer, ich könnte wie ein Trainer denken. Das war aber nicht annähernd der Fall. Wenn man zum Trainingsgelände fährt, warten dort jeden Tag neue Herausforderung auf einen, die nicht nur die Arbeit mit der Mannschaft betreffen. Das war anfangs schon eine enorme Umstellung, die ich in dieser Dimension nicht unbedingt erwartet hätte. Da bin ich ehrlich.
SPOX: Als Sie Ihren letzten Job beim VfB annahmen, waren Sie sofort im Abstiegskampf gefragt - das hatten Sie zuvor noch nicht. Wie sind Sie damit umgegangen?
Labbadia: Es war nicht einfach. Ich stand auch als Spieler häufiger auf der Sonnenseite und habe nicht oft gegen den Abstieg gespielt. Den VfB dann mit zwölf Punkten in der Winterpause zu übernehmen, war eine unglaublich wichtige Erfahrung und hat mich als Trainer kompletter gemacht. Man geht mit einem Heidenrespekt an eine solche Herausforderung heran, gerade bei einem Traditionsverein müssen dann sehr viele Faktoren gut laufen. Wenn ich das rückblickend betrachte, bin ich froh sagen zu können, dass ich in diesem halben Jahr zum Glück so gut wie keinen Fehler gemacht habe.
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SPOX: Sie haben mit den Stuttgartern dann 30 Punkte geholt und den Klassenerhalt geschafft, aber wie meinen Sie das genau?
Labbadia: Ich meine damit, dass ich meine Arbeit als Trainer voll einbringen konnte. Als ich in Stuttgart anfing, war ich nach über einem halben Jahr Auszeit sehr ausgeruht und voller Energie, die ich auf das Team übertragen konnte. Das erwartet eine Mannschaft auch von einem Trainer, zumal im Abstiegskampf jeder im und um den Verein Halt sucht. Niemand hat damals an die Mannschaft geglaubt, nicht einmal sie selbst. In solch einer Phase muss man mit Überzeugung und Kraft agieren können, damit sich das abfärbt. Man muss sich sowohl im positiven, als auch im negativen Fall von der Hysterie einigermaßen freimachen können. Fredi Bobic hat mir damals alles vom Leib gehalten, damit ich mich konzentriert mit dem Team arbeiten konnte - diese Konstellation hat sich ausgezahlt.
SPOX: Bobic meinte kürzlich im SPOX-Interview über seine Zeit beim VfB, dass er irgendwann nur noch im Tunnel war und seine Eigenwahrnehmung vernebelt gewesen sei. Bekommt man diese Scheuklappen, von denen Sie vorher sprachen, mit der Zeit automatisch aufgesetzt?
Labbadia: Fredi sieht jetzt natürlich auch: Stuttgart war ein echter Kraftakt, wir standen ja auch unter wirtschaftlichem Druck, mussten unseren Etat um über 20 Millionen Euro herunterfahren. Wir hatten Spieler auf der Liste, mit denen man den nächsten Schritt hätte gehen können und die wir auch bekommen hätten. Stattdessen mussten wir aber welche abgeben, die uns richtig weh getan haben. Wir waren oft gezwungen, fußballerisch einen Schritt zurück zu gehen und sind dennoch zwei Mal in Folge ins europäische Geschäft eingezogen - ohne den Verein in diese Lage zu bringen, in die er jetzt mittlerweile eigentlich geraten ist. Dass man dann im Nachhinein feststellt, dass einen dieses Paket auch persönlich zermürbt hat, ist nachvollziehbar.
SPOX: Wer hat Sie in solchen Phasen aufgefangen?
Labbadia: Man hat natürlich Vertraute um sich herum, mit denen man sich austauscht. Aber das ist schwierig, weil man im Endeffekt der alleinige Entscheidungsträger bleibt. Auch das ist ein großer Unterschied zwischen Spieler- und Trainerkarriere: Wenn du als Trainer verlierst, bist du mit der einsamste Mensch, den es in deiner Stadt gibt. Da bekommt man das Gefühl vermittelt, der Blindeste der Blinden zu sein. Wenn man aber drei, vier Spiele am Stück gewinnt, ist es umgekehrt: Dann machen sie einen zum Bürgermeister (lacht). Man muss ein sehr hohes Selbstwertgefühl in diesem Beruf haben.
SPOX: Weil er so speziell ist?
Labbadia: Ja. Man lernt aber auch schnell diese Intensität und Vielfältigkeit zu schätzen, weil sie den Beruf außergewöhnlich und spannend macht. Wenn man sich all diese Mechanismen vergegenwärtigt und trotz des Auf und Ab eine innere Ruhe ausstrahlt, die man sich durch die verschiedenen Erfahrungen aneignet, dann ist der Trainerjob eine enorm schöne Herausforderung. Man muss wissen, dass all dies dazugehört, darf es nicht persönlich nehmen und sollte es so gewichten, dass man daran nicht kaputt geht. Ich bin jede Sekunde sehr gerne und engagiert Trainer. Es ist letztlich einfach ein Prozess, den man durchläuft.
SPOX: Sie haben in Stuttgart eine Wutrede gehalten, weil sich viele Dinge aufgetürmt hatten. Ging Ihnen die öffentliche Meinung da zu sehr auf die Nerven?
Labbadia: Ich wäre der Letzte, der behaupten würde, die Presse sei an allem Schuld. Erst durch das Medienaufkommen hat der Fußball diesen Stellenwert bekommen, den er nun hat. Ich hätte es früher nicht für möglich gehalten, dass dieser Sport mal so groß wird. Deshalb verdient man in diesem Geschäft gutes Geld und ist überall bekannt. Man muss aber auch einen Preis dafür zahlen und die Schattenseiten aushalten können. Das gelang mir in diesem einen Fall für ein paar Minuten nicht mehr (lacht).
SPOX: Es wurde in Ihren Augen alles zu viel zu pessimistisch und unrealistisch gesehen.
Labbadia: Ja. Dieser Ausbruch war nicht geplant. Mir hat es einfach gereicht, es hatte sich einiges angesammelt. Damals wurden Dinge verbreitet, die sich aus der Sichtweise des Berichtenden vielleicht so wie beschrieben darstellen. Das mag ja gerne sein. Aber sie waren dennoch schlicht falsch. Manche Themen lassen sich öffentlich auch nicht widerlegen, weil man eventuell Gefahr läuft, jemandem ans Bein zu pinkeln. Es ist eine Zwickmühle, da man eben nicht immer das sagen kann, was man denkt. Da ist es dann aber aus mir herausgeplatzt. Ich gehe davon aus, dass mir das künftig nicht mehr allzu oft passieren wird.
SPOX: Wenn arbeitslose Trainer wieder einen Job annehmen, hört man von vielen, dass man beim neuen Verein Talente fördern und langfristig etwas aufbauen möchte. Ist das in diesem oszillierenden Beruf nicht nur bloßes Wunschdenken?
Labbadia: So etwas werden Sie von mir auch nicht hören, da es Langfristigkeit im Fußball nicht mehr gibt. Eine Entlassung ist nicht das Problem. Dass das heute auch aufgrund des veränderten Trainermarkts schneller passiert als früher, gehört mittlerweile einfach dazu. Was ich mir von einem Verein wünsche ist eine enge, vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den handelnden Personen, die sich zudem von den äußeren Faktoren einigermaßen freimachen können. Ich möchte, dass offen und ehrlich miteinander umgegangen wird, bei Erfolg und Misserfolg. Schauen Sie sich den Zusammenhalt bei Borussia Dortmund an - so muss es sein.
SPOX: Sie sind jetzt seit eineinhalb Jahren ohne Job. Wie lange darf die Pause zwischen zwei Stationen denn maximal sein?
Labbadia: Das ist sicherlich individuell verschieden. Ich erlaube mir momentan ehrlich gesagt noch den Luxus, Dinge abzusagen. Andere würden vielleicht eher zusagen. Ich habe bisher Vereinen abgesagt, bei denen mir das Gesamtpaket nicht zugesagt hat. Andererseits gab es auch schon Angebote, die ich angenommen hätte, es aus verschiedenen Gründen aber am Ende doch nicht funktioniert hat. Das ist normal und macht mich nicht verrückt. Ich gehe da einfach nach meinem Bauchgefühl und das tun die Vereine manchmal auch. Es ist mir dabei aber auch vollkommen bewusst, dass irgendwann einmal der Punkt eintreten könnte, an dem ich sage: jetzt sollte ich dann doch auch wieder einsteigen. Wir werden sehen, was mit mir passiert. Noch habe ich die innere Ruhe.
SPOX: Könnten Sie denn morgen sofort wieder irgendwo anfangen?
Labbadia: Klar. Ich habe richtig Bock zu arbeiten - weil ich auch im Kopf dazu bereit bin.
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