Jonas Boldt ist erst 34 Jahre alt, geht aber bereits in seine dritte Saison als Manager von Bayer Leverkusen. Im Interview spricht Boldt über das Image von Trainer Roger Schmidt, den Vertrag von Julian Brandt, das viele Geld in England und die Beschwerde von Thomas Tuchel.
SPOX: Herr Boldt, Sie gehen nun in Ihr drittes Jahr als Manager von Bayer Leverkusen. Wie fällt Ihr persönliches Zwischenfazit aus, nachdem Sie zuvor jahrelang in der Scoutingabteilung gearbeitet haben?
Jonas Boldt: Gute Frage, im Alltag beschäftigt man sich sonst gar nicht mit einer Art Rückschau. Es waren gerade für das beschauliche Leverkusen zwei spannende und turbulente Jahre. Das betrifft Transfers, aber auch die sehr schwierige sportliche Zwischenphase im Vorjahr. Am Ende haben wir beide Spielzeiten erfolgreich gestaltet. Dies bestätigt mich in der Ansicht, dass man nie hektisch werden und sich vom Populismus treiben lassen sollte - auch wenn manche Dinge sehr sensibel sind und an kleinen Facetten hängen.
SPOX: Was hat sich in diesen zwei Jahren in Ihrem Arbeitsbereich am deutlichsten verändert?
Boldt: Dass wir es etwas untypisch für uns geschafft haben, Leistungsträger zu halten. Das ist auch unser Ziel, obwohl es aufgrund der großen Konkurrenz und der Marktpreise immer schwieriger wird. Zudem haben wir nicht nur Talente geholt, sondern ein paar gestandene Spieler wie Chicharito oder Aranguiz.
SPOX: Ist ein Transfersommer als Manager deutlich stressiger als als Chefscout?
Boldt: Ja, die Verantwortung ist einfach wesentlich größer. Als Scout gibt man ein Thema irgendwann einmal ab, als Manager begleitet man es von Anfang an und muss bis zum Schluss auf sämtliche Eventualitäten vorbereitet sein. Plötzlich tauchen Anfragen wie letztes Jahr für Heung-Min Son auf, dann muss man gewappnet sein. Ich denke, dass im weiteren Verlauf des August noch viel Wirbel auf dem Transfermarkt entstehen wird.
SPOX: Nach Saisonende in der Bundesliga standen mit der EM in Frankreich, der 100. Ausgabe der Copa America sowie der U19-EM gleich drei interessante Turniere an, zudem wird nun auch bei Olympia gekickt. Wie intensiv verfolgen Sie die Spiele im Vergleich zu früheren Zeiten?
Boldt: Ich habe viel von der Copa im Fernsehen gesehen. Da das Turnier ja im Vorjahr ebenfalls stattfand, war das für mich eher ein Update. Bei der EM habe ich aufgrund der günstigen geographischen Lage einige Spiele vor Ort gesehen. Die waren vom Niveau her zwar enttäuschend, dennoch ist auch das eine Art Weiterbildung. Die U19-EM habe ich ebenfalls genau beobachtet, da diese Altersklasse für uns sehr interessant ist. Olympia werden wir auch verfolgen, möglicherweise vor Ort.
SPOX: Die Stimmung rund um Bayer Leverkusen ist derzeit sehr positiv. Trainer Roger Schmidt sieht das beste Jahr unter ihm kommen, Hertha-Coach Pal Dardai tippt Leverkusen gar als Meister. Sind das in Ihren Augen forsche Töne, wie es Dortmunds Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke nennt?
Boldt: Roger Schmidt will wie auch ich ein neues Selbstbewusstsein kreieren. Wir werden doch öffentlich kritisiert, wenn wir Fünfter werden. Man darf nicht vergessen, dass wir zuletzt im Verhältnis zu anderen Klubs immer mehr aus unseren Möglichkeiten herausgeholt haben. Genau dies muss auch der Anspruch sein, selbst wenn wir von den finanziellen Ressourcen her innerhalb der Liga gerade so auf einem Europa-League-Platz stehen. Wir registrieren, dass wir ernst genommen werden, aber es ist auch völlig egal, was andere sagen. Unser Saisonziel ist, das für uns Maximale zu erreichen - und das trauen wir uns auch zu.
SPOX: In der Vorsaison gab es viel Auf und Ab, erst der beeindruckende Schlussspurt sicherte Platz drei.
Boldt: Die letzte Saison ist ein gutes Beispiel: Wir hatten Pech mit Verletzungen und haben auch Fehler gemacht, konnten uns aber in der entscheidenden Phase steigern und sind verdient Dritter geworden. Selbst wenn wir ein paar Fehler weniger gemacht hätten, wären wir Dritter geworden, weil die Bayern und Dortmund sehr gut gearbeitet haben. Ob wir dann mit drei oder 18 Punkten Rückstand auf Platz zwei einlaufen, ändert zunächst am Tabellenplatz nichts. Es ändert aber etwas an der Herangehensweise, da man immer mehr in die Richtung Perfektionismus arbeiten will. Zudem kann es bei so einem Abstand auch mal sein, dass einer unserer Konkurrenten mehr Punkte haben kann als wir. Am Ende halte ich es aber für sinnvoller, auf uns schauen.
SPOX: Während der schwierigen Phase, die Sie ansprachen, fokussierte sich sehr viel auf den Trainer. Roger Schmidt musste sich teils harsche Kritik gefallen lassen - ebenso wie zu Saisonbeginn Alexander Zorniger in Stuttgart. Ist es für Sie nur Zufall, dass beide einen recht ähnlichen Fußball, der häufig als extrem bezeichnet wird, spielen lassen?
Boldt: Das hat nichts mit der Art des Fußballs, sondern mit dem Bild eines Menschen zu tun. Wer den Medien wohlgesonnen ist, kommt immer besser weg. Es gibt andere Trainer, die sich gut verkaufen können, branchenintern aber einen zweifelhaften Ruf genießen. Roger hat sicherlich ein paar Fehler gemacht, das weiß er auch. Er hat daraus gelernt. Jeder, der ihn näher kennt, merkt das auch. spox
SPOX: Dennoch scheint es diese auf Pressing und Umschaltverhalten ausgelegte Spielidee schwer zu haben, öffentlich Akzeptanz zu erfahren.
Boldt: Wir sind nicht nur Pressing, wir werden viel zu sehr auf dieses eine Thema heruntergebrochen. Dabei haben wir im zweiten Jahr unter Roger versucht, das Spiel mit Ball zu verbessern. Es wird aber schwierig, wenn dann solche Stützen wie Spahic, Castro, Reinartz, Son oder Rolfes wegbrechen und entscheidende Spieler wie Toprak, Bender oder Aranguiz verletzt während der Saison nach und nach ausfallen. Am Ende haben wir ganz anders gespielt als im ersten Jahr, aber das sehen die meisten Leute nicht, weil sie sich damit in der Tiefe nicht beschäftigen. Das ist alles sehr dogmatisch, man steckt schnell in der Schublade.
SPOX: Schmidt sorgte in dieser Phase für ein Novum, weil er einem Verweis auf die Tribüne nicht Folge leistete. Konsequenz war ein Innenraumverbot über drei Spiele. Wie hat er diesen Trubel in Ihren Augen reflektiert, war ihm das auch irgendwo peinlich?
Boldt: Mit Sicherheit, wer findet so etwas schon angenehm? Das hat damals leider einfach etwas ins negative Bild gepasst. Er hat gemerkt, dass es ein bisschen überzogen war.
SPOX: Sie sind in Leverkusen der Mann für die Personalien, lassen Sie uns ein paar durchgehen: Innenverteidiger Aleksandar Dragovic von Dynamo Kiew. Bayer will den Spieler, der Spieler will zu Bayer - woran hakt's?
Boldt: Es ist schwer kalkulierbar. Wir sind nach wie vor an ihm interessiert und er will zu uns. Alles weitere wird man sehen.
SPOX: Julian Brandt besitzt riesiges Potenzial, spielt nun bei Olympia und wurde auch schon für die A-Nationalelf nominiert. Eigentlich ist das ein Spieler, den sich langfristig gesehen ein Verein wie Bayern München nicht entgehen lassen kann - und dort sitzt mit Michael Reschke ja mittlerweile Ihr Vorgänger.
Boldt: Julians Entwicklung vor allem im letzten halben Jahr ist sehr positiv und wir hoffen, dass er sie nun bestätigt. Er hat schon einiges angedeutet. Reschke hat einmal gesagt, er ärgere sich am meisten über Julians Vertrag, den er damals mit ihm gemacht hat. Damit hat er alles gesagt. Nämlich was er als Verantwortlicher von Bayern München von ihm hält und dass es aktuell schwer wäre, ihn zu bekommen.
SPOX: Bayer hat neben Reschke auch dessen rechte Hand Marco Neppe an die Bayern verloren. Wie viel Leverkusener Wissen ist da nach München mitgenommen worden?
Boldt: Sicherlich genügend, aber ich freue mich für Michael Reschke, dass er diese Möglichkeit bekommen hat. Zudem ist es mir deutlich lieber, dass er die momentan beste Mannschaft besser macht, als wenn er bei einem unser direkten Konkurrenten arbeiten würde. Arturo Vidal, Kingsley Coman, Douglas Costa - das sind alles Themen, die wir schon zu Leverkusener Zeiten rauf und runter diskutiert haben. Unser Chefscout Laurent Busser hat uns beispielsweise Coman immer wieder vehement ans Herz gelegt und Reschke hat damals noch für Bayer 04 mit ihm verhandelt. Vidal war bekanntlich lange bei uns und Costa haben wir schon zu seinen U20-Zeiten in Leverkusen thematisiert.
SPOX: Wieso haben diese Transfers letztlich nicht geklappt?
Boldt: Coman hat dann Juventus Turin zugesagt, bei Costa hat es zum damaligen Zeitpunkt aus verschiedenen Gründen nicht gepasst.
SPOX: Neppe war derjenige, der Bayern-Neuzugang Renato Sanches entdeckte. Hatte Leverkusen ihn auch auf dem Zettel?
Boldt: Natürlich, aber es war klar, dass wir solch einen Spieler von Benfica nicht mehr bekommen würden. Das zeigt sich ja an der Ablöse, die die Bayern jetzt für ihn gezahlt haben. Dass Marco diese Qualität hat, deutete er bereits bei uns an. Sein Weggang war sportlich wie menschlich sehr schade für uns. Marco hat eine unglaubliche Wissbegierde, den nötigen Fleiß und die Belastbarkeit für diesen Job. Dazu kann er Spieler sehr gut einschätzen und hat vor allem das Verständnis für die Komplexität einer Kaderzusammenstellung. Ihm traue ich in Zukunft einiges zu.
SPOX: Apropos Fleiß: Den haben Sie im Vorjahr beim Last-Minute-Transfer von Chicharito auch bewiesen. Sie sagten, dass Sie die Befürchtung hatten, für verrückt erklärt zu werden. Nennen Sie doch bitte einmal ein paar Bausteine, die einen solch überraschenden Wechsel letztlich vervollständigen?
Boldt: Als ich damals intern mit diesem Namen angekommen bin, haben mich viele verwundert angeguckt. Nach dem Motto: Jetzt bleib' mal auf dem Boden. Das war irgendwo auch verständlich, denn andere Vereine können viel mehr für ihn bezahlen als wir. Irgendwann hat man also diese Idee und nimmt Kontakt zu seinem Berater auf. Es war dann letztlich eine Frage des Zeitpunkts.
SPOX: Wie meinen Sie das?
Boldt: Wir haben ihn am letzten Tag der Transferperiode verpflichtet, irgendwann musste er sich entscheiden. Ich habe vier Monate vorher Vollgas gegeben, ohne dass es jemand mitbekommen hat. Ich habe seine Spiele verfolgt, stand in regelmäßigem Austausch und habe ihn besucht. Man hat sich einfach gegenseitig auf den neuesten Stand gebracht. Das spüren dann die Spieler. Er hat gemerkt, dass wir uns gestreckt haben und dann wollte er auch zu uns. Warum kommen denn Spieler wie Aranguiz und Volland zu uns? Weil sie gemerkt haben, dass wir dahinter stehen und zwei Jahre lang nicht locker gelassen haben.
SPOX: Wie viele Vereine waren bei Chicharito am Ende dann noch in der Verlosung?
Boldt: Bestimmt fünf oder sechs, die auch finanzkräftiger sind als wir. Er wollte und will regelmäßig bei einem Champions-League-Klub spielen - dies ist bei uns gewährleistet. Das war sicherlich unser Pfund, zusätzlich zu der Wertschätzung, die ihm in Manchester und Madrid etwas abhanden gekommen ist. Seitdem hat er nie geäußert, uns verlassen zu wollen. Er fühlt sich augenscheinlich pudelwohl und weiß, was er an uns hat.
SPOX: Dass man solche begehrten Spieler auch mit weniger Geld auf dem Konto bekommen kann, zeigt ja auch das Beispiel Ousmane Dembele, der sich gegen England und für den BVB entschieden hat.
Boldt: Dembele ist für mich ein absoluter Sensationstransfer, zu dem ich den Dortmundern auch schon gratuliert habe. Ich finde diesen Spieler überragend. Der BVB hat sich rechtzeitig festgelegt, voll auf diese Karte gesetzt, sich lange um ihn bemüht und auch das nötige Kleingeld in der Hinterhand. Dass Dortmund so etwas gelingt zeigt, dass sie aktuell sicherlich näher an den Bayern dran sind als wir an der Borussia.
SPOX: In England werden nicht erst seit dieser Transferperiode Unsummen ausgegeben, der Erfolg ist bislang aber noch überschaubar. Wieso schafft man es dort, nachhaltig in Steine, aber nicht in Beine zu investieren?
Boldt: Das ist einfach ein anderes Konstrukt. Es ist deutlich abhängiger vom Trainer, der ja auch Manager genannt wird und viel mehr bestimmt als bei uns - besonders in Sachen Transfers. Ein Trainer kann aber eigentlich nie so tief im Thema Spielerakquise drin sein wie beispielsweise ein Scout. In Deutschland hat ein Trainer natürlich auch viel Mitspracherecht, aber dass eine ganze Mannschaft ausgetauscht wird, wenn ein neuer Coach kommt, ist hier eher ungewöhnlich.
SPOX: Man bräuchte also mindestens einen was das Mitspracherecht angeht gleichberechtigten Sportdirektor?
Boldt: Vor einiger Zeit hat der FC Southampton unter Trainer Mauricio Pochettino und Paul Mitchell, der Head of Recruitment genannt wurde, sehr gut gearbeitet und wirklich viel aus seinen Möglichkeiten herausgeholt. Diese beiden sind nun auch bei Tottenham erfolgreich. Dort merkt man die Abstimmung zwischen Trainer und dieser Art sportlichem Leiter, da beide den Fußball durch dieselben Augen zu sehen scheinen.
SPOX: Wenn es die Engländer schaffen, mit ihrem vielen Geld klug umzugehen, dürfte es für den deutschen Markt bitter werden. Wie lange wird das Ihrer Ansicht nach noch dauern, bis dort genug Expertise in allen Bereichen Einzug erhalten hat?
Boldt: Ich weiß nicht, ob das überhaupt einmal passiert. Dort, wo viel Geld ist, drängen auch andere Leute und Einflüsse hinein - und es ist ja nicht gesagt, dass dies dann fruchtbar ist. Für Leverkusen wäre Ihr skizziertes Szenario in manchen Fällen vielleicht auch gar nicht so schlimm, denn lieber verkaufen wir mal einen Spieler für teures Geld ins Ausland, als für die Hälfte des Preises nach München oder Dortmund.
SPOX: BVB-Trainer Thomas Tuchel beschwerte sich unlängst über die explodierten Ablösesummen, auch wenn er selbst Teil des Systems ist. Wie bewerten Sie dies sowie seine Einschätzung, der Fußball würde dadurch den Bezug zu den Zuschauern verlieren?
Boldt: Ich kann Thomas Tuchels Argumentation verstehen, sehe es aber dennoch anders. Wir hätten in diesem Sommer aus Dortmund allein für zwei Spieler rund 60 Millionen Euro bekommen können. Die Frage ist: Wäre es volksnah, wenn es nur um die Hälfte des Betrages ginge? Am Ende ist es meiner Ansicht nach entscheidend, wie Vereine und Spieler eine Volksnähe vorleben. Die Transferentschädigung ist eine Summe, eine Fantasiezahl, die sich aus dem ergibt, was man zur Verfügung hat und bereit ist auszugeben. Natürlich fließt dieses Geld irgendwo. Eine Million Euro ist meiner Auffassung nach aber doch auch schon völlig absurd viel Geld. Ich sehe es daher als Zahl, die der Markt hergibt. Es ist der Kreislauf des Systems, der sowieso eine Fantasiewelt ist, da das System in sich nicht logisch ist. Denn wer sagt denn, wie viel ein Spieler letztlich wert ist?