Jonathan Tah von Bayer Leverkusen im Interview: "Habe viele Spieler gesehen, die es hart getroffen hat"

Dennis Melzer
08. Dezember 202010:30
Jonathan Tah spricht im Interview über seine Kindheit auf dem Bolzplatz, Idol Ronaldinho und die Zeit im HSV-Internat.getty
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Jonathan Tah von Bayer Leverkusen kann mit 24 Jahren bereits auf 155 Bundesliga-Spiele zurückblicken. Im großen Karriereinterview mit SPOX und Goalspricht der Innenverteidiger über seine Kindheit auf dem Bolzplatz, Idol Ronaldinho, die Zeit im HSV-Internat und den Leistungsdruck im hochklassigen Jugendfußball.

Tah verrät, warum eine Rückkehr nach Hamburg nicht für ihn infrage kam, was ihn mitunter an der Fußball-Berichterstattung stört und warum er sich mittlerweile mit anderen Menschen umgibt als früher.

Außerdem erklärt der deutsche Nationalspieler, was es mit dem Namen seiner neuen DAZN-Doku (Alle Folgen stehen seit dem 7. Dezember bei DAZN und auf dem DAZN-YouTube-Kanal zum Abruf bereit) auf sich hat und welche Liga ihn mit Blick auf die Zukunft ganz besonders reizt.

Jonathan, Ihre Karriere begann auf einem Bolzplatz am Kemal-Altun-Platz in Hamburg-Altona. Was verbinden Sie heute mit diesem Ort?

Jonathan Tah: Dieser Ort hat für mich den Grundstein gelegt, wer ich heute bin. Ich habe am Kemal-Altun-Platz auf dem Gummi-Bolzplatz den Fußball lieben gelernt und erfahren, wie wichtig zwischenmenschliche Werte sind. Dort hat alles als Hobby angefangen und ich bin unendlich glücklich, dass ich die dort entwickelte Leidenschaft zu meinem Beruf machen durfte.

Ihre Mutter musste wegen Ihrer vielen Grätschen häufig Ihre Hosen stopfen. Wie kam es dazu, dass Sie schon als Kind das Hauptaugenmerk aufs Verteidigen legten?

Tah: Ich war immer schon groß und gut gebaut, dementsprechend wurde meine Rolle auf dem Bolzplatz festgelegt. Es hieß: 'Okay, der wird mit seiner Statur die Gegner schon aufhalten.' Daran hat sich im weiteren Verlauf meines Lebens nichts mehr geändert.

Jonathan Tah spricht im Interview über seine Kindheit auf dem Bolzplatz, Idol Ronaldinho und die Zeit im HSV-Internat.getty

Jonathan Tah: "Mein erstes Trikot war ein Ronaldinho-Trikot"

Vorbilder spielen in jungen Jahren eine wichtige Rolle. Welcher Name zierte Ihr erstes Fußballtrikot?

Tah: Mein erstes Trikot war ein Barcelona-Trikot mit Ronaldinho auf dem Rücken. Er hat gemacht, was er wollte und hat es geschafft, die Menschen zu verzaubern. Seine zahlreichen Qualitäten auf dem Platz haben mich fasziniert und inspiriert. Auf dem Bolzplatz hat jeder über ihn gesprochen, jeder kannte ihn und schätzte seinen Spielstil. Ronaldinho hat mir gezeigt, was alles möglich ist, wenn man mit Spaß und Leidenschaft an eine Sache herangeht. Dabei war es egal, dass er auf einer anderen Position gespielt hat, seine Ausstrahlung war das Besondere. Das hat mich dazu animiert, ebenfalls das Bestmögliche aus mir herauszuholen zu wollen.

Ihre Mutter zog Sie und Ihre Geschwister allein auf, Geld war nicht im Überfluss vorhanden. Welche Werte hat Sie Ihnen mit auf den Weg gegeben?

Tah: Meine Mutter hat nicht nur über Werte gesprochen, sie hat sie perfekt vorgelebt und uns gezeigt, dass Geld und Macht im Leben keine übergeordnete Rolle spielen sollten, dass Toleranz, Liebe und Loyalität wichtigere Eigenschaften sind. Natürlich hat Geld in unserer Gesellschaft einen großen Stellenwert, es ist Mittel zum Zweck. Aber ich habe von meiner Mutter gelernt, dass Geld nicht ausschlaggebend ist, um glücklich zu sein. Das hat mir geholfen, zu differenzieren und zu erkennen, was wirklich wichtig ist

Wie fiel die Reaktion Ihrer Mutter aus, als sich Ihr Wunsch, Profifußballer zu werden, konkretisierte?

Tah: Als Mutter macht man sich natürlich Gedanken, weil man immer das Beste für sein Kind möchte. Ihr war in erster Linie wichtig, dass ich die Schule zu Ende bringe. Sie hat mir erzählt, dass ich früher ausschließlich über Fußball gesprochen habe und mir alles andere gefühlt egal war. Ich habe zwar die Schule abgeschlossen, aber der Fokus lag immer auf diesem Plan A. Das hat sie wahrgenommen und mich komplett unterstützt.

Fast zehn Jahre lang spielten Sie für Altona 93. Inwieweit haben Sie mitbekommen, dass Sie plötzlich in den Fokus der großen Hamburger-Klubs gerückt waren?

Tah: Ich habe selbst nie wahrgenommen, dass Scouts bei unseren Spielen anwesend waren. Meine Mutter hat mir eines Tages gesagt: 'Die Talentsichter haben schon viele Spiele von Dir gesehen. Sie wissen genau, wer Du bist und haben sich auch schon mehrfach mit Deinem Trainer unterhalten.'

Wie kam es zum Kontakt mit dem Hamburger SV?

Tah: Ein Verantwortlicher des HSV hat meine Mutter angerufen und ihr erklärt, dass ich das Interesse des Klubs geweckt habe und dass man mich gerne verpflichten würde. Das war für mich ein ganz besonderer Moment. Die Freude war riesig, als der Anruf kam. Ich wollte das unbedingt machen.

Was gleichzeitig bedeutete, dass Sie Ihr Zuhause gegen das Fußball-Internat eintauschen mussten. Wie schwer fiel der Schritt?

Tah: Einfach war es nicht. Aber sowohl ich als auch meine Mutter sind mit der Situation gut umgegangen. Wir hatten immer ein sehr enges Verhältnis, das durch den Auszug nicht getrübt wurde. Beide wussten, dass der Schritt für meinen weiteren Weg nur hilfreich sein kann, wir haben das als absolutes Privileg wahrgenommen.

Jonathan Tah im Steckbrief

geboren11. Februar 1996 in Hamburg
Größe1,95 m
Gewicht96 kg
PositionInnenverteidiger
starker Fußrechts
StationenAltona 93 Jugend, Concordia Jugend, HSV Jugend, HSV, Fortuna Düsseldorf, Bayer Leverkusen
Bundesligaspiele/-tore155/5

Jonathan Tah über seine Zeit beim HSV

Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Anfangszeit beim HSV?

Tah: Ich war nervös, weil viele Jungs schon von Kindesbeinen an im Verein waren und die Abläufe genau kannten. Jedes Jahr wurden drei oder vier Spieler nicht übernommen. Andererseits kamen zwei oder drei neue Jungs dazu, die mental und fußballerisch noch besser waren. Ich würde mir wünschen, dass im Jugendbereich mehr darauf geachtet wird, den Druck für die jungen Spieler nicht zu groß werden zu lassen.

Inwiefern?

Tah: Ich habe es selbst erlebt und gemerkt, dass der Druck bei einem Klub wie dem HSV deutlich zunimmt. Ich hatte das Glück, dass ich gut genug war, es jedes Jahr in die jeweils nächste Mannschaft zu schaffen. Aber zu Beginn habe ich noch nicht über das nötige Selbstbewusstsein verfügt. In jungen Jahren ist es enorm schwierig, mit dem ständigen Druck umzugehen. Ich habe viele Spieler gesehen, die es hart getroffen hat. Sie wurden nicht übernommen und waren plötzlich raus. Man wird ein wenig alleingelassen, diesbezüglich würde ich für mehr Unterstützung plädieren.

Jeder im Internat hat das gleiche Ziel, Konkurrenzdenken ist also allgegenwärtig. Was bedeutet das für potenzielle Freundschaften?

Tah: Es kommt immer auf den Charakter an. Jeder möchte natürlich spielen, dementsprechend ergibt sich automatisch eine Konkurrenzsituation. Ich hatte aber damals nicht das Gefühl, dass das Mannschaftsgefüge oder Freundschaften aufgrund von zu großem Konkurrenzdenken kaputtgegangen sind.

Sie haben im Alter von 16 Jahren gemeinsam mit Sinan Kurt, Raif Husic und Patrick Pflücke an einer Dokumentation namens "Projekt Profi" teilgenommen. Wie kam es dazu?

Tah: Der Sender ist damals auf meine Mutter und mich zugekommen. Es hat mich gefreut, dass sie mich für dieses Projekt ausgewählt haben, das war etwas Besonderes. Ich gucke mir die Videos noch heute gerne an, weil sie meinen Karriereweg schön skizzieren.

Was haben Sie für sich damals mitgenommen?

Tah: Vor allem war es hilfreich für mich, weil ich schon früh mit Medienarbeit konfrontiert wurde. Ich wusste, dass das irgendwann auf mich zukommen würde und konnte schon erste Erfahrungen mit Interviews vor der Kamera sammeln. Das war ein gutes Training für die Zukunft.

In der Doku wurde gezeigt, wie Sie in der U16 des DFB zum Kapitän ernannt wurden, fortan führten Sie sämtliche Jugendnationalmannschaften an. Wie definieren Sie die Rolle des Leaders?

Tah: Sofern man nicht für sich selbst Verantwortung tragen kann, ist es schwierig, Verantwortung für andere Menschen zu übernehmen. Die Werte, die mir in der Vergangenheit vermittelt wurde, möchte ich weitergeben. Im Fußball bedeutet Verantwortung nicht, bloß mit der Binde auf den Platz zu laufen und ein gutes Spiel zu machen, sondern es geht darum, die anderen mitzunehmen. Das Zwischenmenschliche ist noch wichtiger als die Leistung. Wenn jemand einen Fehler macht oder private Probleme hat, muss man für die Mitspieler da sein und Verständnis aufbringen. Dabei sollte man sich nicht selbst überhöhen, ganz im Gegenteil: Man sollte immer offen dafür sein, von den Teamkollegen zu lernen.

Ihre drei Mitstreiter besagter Doku spielen heute unterklassig, sie haben es als einziger Protagonist nach oben geschafft. Welche Gründe gibt es dafür?

Tah: Ich habe ihre Werdegänge bis zu einem gewissen Punkt noch sehr genau verfolgt. Jetzt weiß ich ungefähr, wo sie gerade spielen. Vergleichen kann und möchte ich unsere Entwicklungen aber nicht. Jeder muss andere Hürden nehmen, es gibt unterschiedliche Gründe, warum Spieler x den einen und Spieler y einen anderen Weg eingeschlagen hat. Ich würde nicht per se sagen, dass ich es geschafft habe und die anderen Jungs nicht. Weil ich nicht weiß, welche Ziele sie für sich gesteckt hatten. Vielleicht sagen sie: 'Das, was ich geschafft habe, ist genau das, was ich erreichen wollte.'

Sie wurden auch in der Schule mit der Kamera begleitet. Haben Sie neidische Blicke von den Mitschülern geerntet?

Tah: Die Reaktionen fielen tatsächlich nicht immer unterstützend aus (lacht). Es gab Schüler und Lehrer, denen es nicht unbedingt gefallen hat. Aber das hat mich eher gestärkt als runtergezogen. Letztlich hat das Ganze einen Meinungsquerschnitt abgebildet, den ich heute noch beobachten kann.

Inwiefern?

Tah: Es gibt einige Leute, die sagen: 'Der Tah kann gar nichts!' Andere Leute sagen genau das Gegenteil und schätzen meine Leistungen als überragend ein. Dass es sehr unterschiedliche Meinungen gibt, war schon damals so.

Was lernt man daraus?

Tah: Dass es nicht so wichtig ist, was andere Menschen denken und sagen. Es zählt in erster Linie die Meinung, die man selbst von sich hat.

Inwiefern haben Sie Ihre Mitschüler manchmal beneidet, wenn am Wochenende Party gemacht wurde?

Tah: Es war mir wirklich egal. Ich habe nie gedacht: 'Mist, die anderen können jetzt feiern gehen und ich nicht.' Ich war nie auf irgendwelchen Partys, weil ständig Spiele oder Turniere anstanden. Ich hatte nie das Gefühl, etwas zu verpassen. Ich habe das einfach nicht gebraucht.

Stattdessen feierten Sie als 17-Jähriger Ihr Startelfdebüt vor 50.000 Zuschauern im Derby gegen Werder Bremen. Welche Emotionen verbinden Sie mit dem Spiel?

Tah: Sehr viele, ich habe unglaubliche Eindrücke mitgenommen. Dass ich ausgerechnet im Derby gegen Bremen mein Startelfdebüt geben durfte, war extrem aufregend. Meine Familie und meine Freunde waren im Stadion und total nervös. Ich habe es genossen, das war ein besonderer Moment, der mir immer in Erinnerung bleiben wird.

Schon bald mussten Sie Erfahrungen mit der Kehrseite der Ruhm-Medaille machen. Der Boulevard leakte Ihren HSV-Vertrag in sämtlichen Zeitungen. Was macht so etwas mit einem Jugendlichen?

Tah: Eigentlich wollte ich nur meine Zeit als junger Profi genießen, immerhin hatte sich mein Traum erfüllt. Ich konnte nichts dafür, dass der Vertrag plötzlich im Internet gelandet ist. Ich konnte außerdem nicht beeinflussen, wie im Anschluss darüber berichtet wurde. Ich habe aber zu spüren bekommen, wie das Leben in der Öffentlichkeit aussehen kann.

Tah: "Habe schon mitbekommen, dass Leute Mist erzählen"

Welche Erfahrungen haben Sie im Anschluss gemacht?

Tah: Ich habe im Laufe der Jahre schon häufiger miterlebt, dass Leute Mist erzählen und Unwahrheiten verbreiten. Nicht nur über mich, sondern ganz allgemein. Es wird teilweise von Leuten über unseren Job gesprochen, die wenig Ahnung davon haben. Das muss ich so deutlich sagen. Egal in welchem Beruf - wenn Menschen die Leistungen anderer Menschen bewerten, müssen Sie normalerweise etwas vorweisen, das sie dazu befähigt. Im Fußball ist das nicht immer so.

Im Sportjournalismus dient beispielsweise die Einzelkritik als typische Bewertungsmöglichkeit. Wie sehr beschäftigt Sie eine schlechte Note?

Tah: Ich gucke mir das meistens gar nicht mehr an. Ab und zu wurden mir derartige Berichte geschickt, aber ich habe dann ganz klar gesagt, dass die Leute sich das sparen können. Ich will das nicht sehen. Ich sitze nicht auf dem Sofa und grüble darüber, warum ich eine schlechte Note bekommen habe. In die andere Richtung gilt übrigens dasselbe: Wenn ich weiß, dass ich ein schlechtes Spiel gemacht habe und mir jemand eine viel zu gute Note gibt, nervt mich das auch.

Nach Ihrer ersten Saison als HSV-Profi ging es 2014 per Leihe zu Fortuna Düsseldorf. Was gab den Ausschlag?

Tah: Ich wurde beim HSV in die Jugend zurückgeschickt. Da kurz vor Schließung des Transferfensters noch ein weiterer Innenverteidiger verpflichtet wurde, war ich Innenverteidiger Nummer fünf oder Nummer sechs. Ich wusste, dass ich keine Rolle mehr spielen würde, außerdem wurde mir klar gesagt, dass es schwierig werden dürfte. Also musste ich mich entscheiden - und ich wollte unbedingt Spielpraxis sammeln. Dann kam das Angebot aus Düsseldorf und glücklicherweise ging der Deal noch kurzfristig über die Bühne.

Sie waren erstmals länger weg aus Hamburg. Wie lief das Leben in der neuen Stadt?

Tah: Die Umstellung fiel mir nicht schwer. Es war nicht so, dass ich plötzlich zum ersten Mal in meinem Leben auf mich alleingestellt war. Mit 14 zog ich ins Internat, mit 17 folgte die erste eigene Wohnung in Hamburg. Mir wurde früh beigebracht, selbstständig zu sein. Ich konnte also ganz gut auf mich aufpassen (lacht). Die Beziehung zu meiner Familie und zu meinen Freunden hat darunter jedenfalls nicht gelitten.

In welcher Hinsicht haben Sie sich charakterlich weiterentwickelt?

Tah: Ich habe gelernt, mehr Verantwortung für mich selbst zu übernehmen und ein Stück weit, wie das wahre Leben aussieht. Ich habe die Situation sehr genossen, weil ich es liebe, so viel wie möglich zu erleben. Ich bin ein großer Freund davon, neue Menschen kennenzulernen und mich inspirieren zu lassen.

Tah über seine Leihe zu Fortuna Düsseldorf

Wie würden Sie rückblickend Ihre Zeit bei der Fortuna aus sportlicher Sicht skizzieren?

Tah: Mir wurde die Möglichkeit gegeben, Spielzeit in der 2. Bundesliga zu sammeln und mich zu zeigen. Rückblickend würde ich sagen, ich habe einen Schritt zurück gemacht, um im Anschluss zwei Schritte nach vorne zu gehen. Ich rückte in Hamburg etwas aus dem Fokus, es wurde gesagt: 'Okay, der Junge spielt jetzt in der 2. Liga, mal sehen, wie er sich gemacht hat, wenn er zurückkommt.' Aber ich hatte das Gefühl, dass sich beim HSV eigentlich niemand dafür interessiert hat, wie ich in Düsseldorf spiele. Anders als die Leverkusener, die mich auf dem Radar hatten und meine Leistungen genau beobachteten. Das war ein Lerneffekt fürs Leben.

Sie haben das Interesse von Leverkusen angesprochen. Warum kam eine Rückkehr zum HSV nicht mehr infrage?

Tah: Normalerweise sollte eine Leihe dazu dienen, dass besonders junge Spieler sich weiterentwickeln. Dazu gehört für mich auch, dass der Stammverein Kontakt hält. Das war damals nicht der Fall. Mir wurde nicht das Gefühl vermittelt, dass ich ein wichtiger Teil des Vereins bin. Dementsprechend hätte ich mich mit einer Rückkehr nicht wohlgefühlt.

Es folgte im Sommer 2015 Ihr Wechsel nach Leverkusen. Bei Bayer wurden Sie prompt Stammspieler und bestritten Ihr erstes Champions-League-Auswärtsspiel im Camp Nou. Worin lag der größte Unterschied zu Bundesligaspielen?

Tah: Das ging alles unfassbar schnell (lacht)! Es kam mir vor, als hätte ich erst vor wenigen Wochen mein Bundesliga-Debüt gegen Bremen gegeben - und plötzlich stand ich im Camp Nou und hörte die Champions-League-Hymne. Ich dachte mir: 'In der Bundesliga zu spielen, war offenbar noch nicht das Höchste, was ich erreichen kann.' Nach dem Spiel in Barcelona haben sich ganz ähnliche Gefühle breitgemacht.

Welche Gefühle waren das konkret?

Tah: Das Gefühl, einen Schritt weiter, aber immer noch nicht am Ziel zu sein. 'Ich spiele jetzt in dem Wettbewerb, in dem ich immer spielen wollte, ich darf in der Gruppenphase dabei sein und komme vielleicht sogar eine Runde weiter. Aber ich will das Ding irgendwann gewinnen!' Das ging mir durch den Kopf. Ich sehe immer Verbesserungspotenzial.

Verbesserungspotenzial sahen Sie zuletzt offenbar auch mit Blick auf Ihr privates Umfeld. Was war der Anlass, dass Sie sich mittlerweile mit anderen Menschen umgeben?

Tah: Ich bin an einem Punkt angelangt, an dem ich mich sowohl aus fußballerischer als auch aus persönlicher Sicht als erwachsen betrachte. Als Erwachsener musst du manchmal solche Entscheidungen treffen und dich an die Menschen halten, die immer ehrlich zu dir waren, offen mit dir sprechen und nicht in ihrem eigenen Interesse handeln. Egal, ob Freundin, Freunde oder Familie. Die Leute, mit denen du dich umgibst, sollten dich inspirieren und motivieren.

Welche Menschen motivieren Sie?

Tah: Menschen, die in gewissen Bereichen schlauer und besser sind als ich. Davor sollte man keine Angst haben, man kann nur davon profitieren und lernen. Wenn man nur damit beschäftigt ist, zu geben, ist der Energietank irgendwann leer.

Das scheint sich in Ihrem Fall nicht nur auf das Umfeld im Fußballbereich zu beziehen.

Tah: Nein, damit meine ich das Leben insgesamt. Es ist eher belastend, wenn man nur über Fußball redet. Ich bin in erster Linie ein Mensch, der Fußball ist ein großer und wichtiger Teil meines Lebens, aber es wird danach weitergehen. Mit 35 oder 40 Jahren ist die aktive Karriere vorüber. Ich versuche, schon jetzt so viel wie möglich für diese Zeit mitzunehmen.

Gibt es auch andere Quellen, aus denen Sie Inspiration schöpfen?

Tah: Ich habe sehr viele gute Bücher gelesen. Eines, das mir ganz besonders in Erinnerung geblieben ist, heißt "Big five for life." Es geht - sehr grob zusammengefasst - darum, dass man im Leben machen sollte, was man möchte. Wenn man am Ende seines Lebens angekommen ist, sollte man zufrieden zurückblicken können. Es gab eine Studie, die in Altenheimen durchgeführt wurde. Die Leute wurden gefragt, was sie rückblickend bereuen. Die meisten haben gesagt, dass sie nicht so gelebt haben, wie sie es sich gewünscht hätten.

Die neue DAZN-Doku über Sie trägt den Namen "99 Prozent". Was hat es mit dieser Zahl auf sich?

Tah: Viele verstehen das falsch und denken, ich wolle nicht hundert Prozent erreichen Ich definiere die hundert Prozent als perfekt und als gänzliche Zufriedenheit. Perfekt gibt es für mich auf dieser Welt aber nicht. Es gibt kein perfektes Spiel, keinen perfekten Menschen, keinen perfekten Charakter - und das ist auch gut so. Dieser eine Prozentpunkt wird mich immer motivieren. Die absoluten Top-Sportler, die es nach ganz oben geschafft haben, werden nie sagen, dass sie bei hundert Prozent sind. Das würde bedeuten, dass sie aufhören können.

DAZN zeigt eine exklusive Dokuserie über Jonathan Tah.DAZN

Tah über Motivation und Extraschichten

Sie haben im Zuge der Neuausrichtung Ihres Privatlebens auch einen neuen Fitnesscoach engagiert. Worauf arbeiten Sie hin?

Tah: Das erste Ziel ist, präventiv zu arbeiten, um Verletzungen vorzubeugen. Wenn ich verletzt bin, kann ich nicht spielen. Ansonsten möchte ich meine Stärken noch weiter verbessern und meine Schwachstellen minimieren. Auf diesem Niveau geht es häufig nur um kleine Details.

Wie gelingt es Ihnen, trotz des aktuell sehr engmaschigen Trainings- und Spielplans, Motivation für private Extraschichten aufzubringen?

Tah: Ich halte mir immer vor Augen, wo ich hinmöchte. Dort bin ich noch nicht, das muss ich mir bewusst machen. Deshalb bin ich diszipliniert, aber mit Sicherheit nicht immer motiviert (lacht). Es gibt Tage, an denen ich extrem müde, kaputt oder schlechtgelaunt bin. Das kennt jeder, aber da muss ich dann durch.

Ihr Ex-Jugendtrainer Otto Addo hat bei DAZN von einer kurzen Phase berichtet, in der Sie damals mit Gewichtsproblemen zu kämpfen hatten. Welchen Stellenwert nimmt Ernährung mittlerweile bei Ihnen ein?

Tah: Dass Ernährung eine extrem wichtige Rolle spielt, habe ich leider erst spät gelernt. In meinen jungen Jahren war das Thema nicht so präsent wie heute. Die Ernährung beeinträchtigt die Laune, trägt dazu bei, wie wach oder kaputt man sich fühlt und steuert insbesondere die Leistungsfähigkeit. Auch die Regeneration ist eng mit der Ernährung verbunden. Kurz gesagt: Der Einfluss der Ernährung ist immens.

Trotz der zahlreichen Optimierungen büßten Sie im vergangenen Winter Ihren Stammplatz bei Leverkusen ein. Wie erklären Sie sich das?

Tah: Es gibt Entscheidungen, die man nicht direkt beeinflussen kann, die man also akzeptieren sollte. Aktuell mache ich wieder mehr Spiele und ich bin der Meinung, dass ich gute Leistungen abliefere.

Stattdessen spielte zumeist Neuzugang Edmond Tapsoba. Was war die Begründung des Trainers?

Tah: Es gab Gespräche. Und in denen sind Trainer und Spieler nun mal nicht immer einer Meinung. Viel wichtiger ist für mich aber, dass so etwas wie eine Feindschaft, die uns teilweise von außen angedichtet wurde, weit von der Realität entfernt ist. Edmond ist ein guter Kumpel von mir, ich betrachte ihn als kleinen Bruder, den ich unterstützt habe, als er neu bei uns war. Ich freue mich, dass er da ist, weil er unserer Mannschaft ungemein hilft. Stand jetzt spiele ich, bin topfit und auf einem guten Niveau. Das freut mich sehr.

Tah: "Die Premier League reizt mich"

Im Sommer wurde über einen möglichen Abgang aus Leverkusen spekuliert. Wo sehen Sie Ihre sportliche Zukunft?

Tah: Grundsätzlich bin ich überzeugt davon, dass ich im Fußball das Top-Level erreichen kann. Ich habe sportlich und persönlich einen Schritt nach vorne gemacht. Wo es mich im Laufe meiner Karriere hinverschlägt, weiß ich jetzt aber noch nicht.

Besonders Premier-League-Vereine wurden immer wieder mit Ihnen in Verbindung gebracht. Käme ein Wechsel nach England eines Tages infrage?

Tah: Die Premier League reizt mich, das war schon immer so. Ich hatte stets das Gefühl, dass meine Spielweise gut nach England passen würde. Das Körperliche und das schnelle Umschalten im Kopf sind Eigenschaften, die mir liegen. Es scheiden sich die Geister daran, welche Liga die beste der Welt ist - für mich ist es die Premier League.

Nach welchen Kriterien hält man auf der Suche nach einem potenziell neuen Arbeitgeber Ausschau?

Tah: Ich muss erst überzeugt davon sein, dass mich ein Wechsel weiterbringt. Dann hängt es davon ab, ob der Verein eine eigene Philosophie verfolgt oder seine Philosophie vom Trainer abhängig macht. Dann stellt sich die Frage, mit welchem System der Trainer spielen lässt und was er von seinen Spielern insbesondere auf meiner Position erwartet. Ganz wichtig ist natürlich auch, wie die Mannschaft insgesamt aufgestellt ist. Wie groß ist die Konkurrenz auf meiner Position, mit welchen Jungs würde ich zusammenspielen? Es gibt also einige Faktoren.