Der frühere Bundestrainer Jürgen Klinsmann spricht im Interview mit SPOX und Goal über die Gründe für das enttäuschende deutsche Abschneiden bei der EM, die Titelchancen von Gastgeber England und seine Topspieler des Turniers.
Vor 25 Jahren führte Jürgen Klinsmann Deutschland als Kapitän im Wembey-Stadion zum letzten EM-Titel. Bei der Rückkehr der vier besten Nationalteams zur Finalrunde nach London fehlt die sang- und klanglos ausgeschiedene DFB-Auswahl dagegen.
Im Interview bewertet der 56-Jährige, der das Turnier als BBC-Experte begleitet, die Leistungen der deutschen Mannschaft und die bisherige Endrunde.
Herr Klinsmann, wie viele Sprüche mussten Sie sich nach dem deutschen Aus gegen England von Ihren BBC-Expertenkollegen Gary Lineker, Alan Shearer und Rio Ferdinand anhören?
Jürgen Klinsmann: Das hat sich in Grenzen gehalten. Die Jungs haben sich, wie alle von der BBC, unglaublich gefreut. Nach so langer Zeit wieder ein solches Spiel gewonnen zu haben, das war für die Engländer unglaublich. Die Freude war so groß - da gab es eher Mitleid für mich.
Englands Medien haben sich nach dem 4:0 gegen die Ukraine überschlagen, neutrale Beobachter waren angesichts des Spielniveaus kritischer. Wie ordnen Sie es ein - ist England jetzt EM-Favorit?
Klinsmann: Für mich war England von Anfang an ein Favorit auf den Titel. Sie haben eine sehr gute Defensive und auch die Mischung stimmt. Und sie haben vorne eben diese Torgefährlichkeit und Gier, Tore zu schießen. Italien gegen England - das wäre ja eigentlich "mein" Finale. In beiden Ländern habe ich gespielt und noch viele Freunde. Vielleicht ist der Fußball der Italiener derzeit spektakulärer - aber das schmälert nicht die Chancen der Engländer auf einen EM-Titel.
Welche Spieler haben Sie bisher am meisten beeindruckt oder überrascht?
Klinsmann: Überragend für mich war unter anderem Italiens Leonardo Spinazzola bis zur seiner schlimmen Verletzung, Patrik Schick hatte ein tolles Turnier, bei den Engländern sind bisher Luke Shaw und Raheem Sterling richtig klasse, und bei den Dänen Torwart Kasper Schmeichel und der junge Stürmer Kasper Dolberg, um nur einige zu nennen.
Welche taktischen Trends und Entwicklungen haben Sie bei der EM gesehen?
Klinsmann: Egal ob Dreier- oder Viererkette, die Einzelabstimmung zwischen den Spielern muss einfach stimmen. Wie bei den Italienern, die unglaubliches Tempo mit hohem Pressing unter Roberto Mancini spielen, oder die Engländer, die aus der defensiven Kompaktheit dann ihre Stürmer Sterling, Kane oder Sancho suchen. Ich hatte zudem damit gerechnet, dass die Impulse durch Auswechslungen größer werden. Das war aber bisher nicht der Fall. Vielleicht muss man da aber auch unterscheiden zwischen Verein und Nationalmannschaft, die nicht so gut eingespielt sind.
Klinsmann: "Die Gesamtbilanz ist negativ"
Wie erklären Sie die enttäuschenden Leistungen der deutschen Mannschaft? Lag es am Trainer, an der falschen und eher passiven Taktik oder an den Spielern?
Klinsmann: Dazu muss man alle Spiele getrennt voneinander sehen. Frankreich war 50:50, durch ein unglückliches Eigentor entschieden, das Spiel gegen Portugal war bockstark, gegen Ungarn waren wir enorm unter Stress, den Ausgleich noch zu machen. Und das Spiel gegen England hätte mit den Chancen von Timo Werner und Thomas Müller auch für uns ausgehen können. Aber klar, die Gesamtbilanz ist natürlich negativ, weil wir viel zu früh im Achtelfinale ausgeschieden sind und nie eine hohe qualitative Konstanz im Turnier entwickelt haben.
Hat Jogi Löw zu spät aufgehört und wie sehr schmälert der Eindruck der letzten beiden Turniere die Bewertung seiner 15 Jahre als Bundestrainer?
Klinsmann: Im Nachhinein weiß man vieles besser. Natürlich schmälert die verkorkste WM 2018, der letzte Platz in der Nations League und diese verpatzte Euro 2020 die Bewertung, aber der WM-Titel 2014 wird für immer mit dem Bundestrainer Joachim Löw verbunden bleiben.
Wie schwer wird es für Deutschland, bei den nächsten Turnieren wieder in die Erfolgsspur zurückzukehren?
Klinsmann: Deutschland kann schon bei der nächsten WM wieder erfolgreich sein und vor allem auch bei der Heim-EM. Warum nicht? Wir sind trotz allem eine Fußball-Nation, deren Ziel immer der Titel sein muss. Diese Turniere sind Momentaufnahmen. Schon sechs Wochen später könnte das Turnier mit den gleichen Mannschaften ganz anders ausgehen. Hansi Flick wird mit seiner Art der Mannschaft ganz bestimmt frische Impulse geben.
Klinsmann: "Wir waren schon arg verwöhnt"
Warum hat das Land von Gerd Müller, Rudi Völler und Jürgen Klinsmann keine Torjäger mehr?
Klinsmann: Schwer zu sagen. Aber man muss auch mal festhalten, dass wir schon arg verwöhnt waren. Nicht nur auf der Position des Mittelstürmers, wo wir immer hervorragende Spieler hatten, denn zu den genannten kommen ja auch noch Uwe Seeler, Miro Klose, Horst Hrubesch, Mario Gomez und viele andere. Also da mussten wir uns auf dieser Position fast nie Sorgen machen. Klar ist: Vorne in der Mitte - das ist schon eine der wichtigsten Positionen. Da braucht man Spieler mit der Gier, Tore zu erzielen. Siehe auch Bayern München mit Lewandowski, Dortmund mit Haaland oder Frankfurt mit Silva.
Was sind Ihre Pläne als Trainer? Wollen Sie nach Ihrem plötzlichen Abschied bei Hertha BSC nochmal in Deutschland arbeiten?
Klinsmann: Mit meiner Tätigkeit für die BBC bei der EM und bei ESPN in den USA während der normalen Spielzeit bin ich sehr ausgelastet. Aber ich bin immer bereit für ein neues Abenteuer und da die Kinder aus dem Haus sind, völlig frei in der Ortswahl. Ob es eine Nationalmannschaft oder ein Verein wird - lassen wir uns mal überraschen.