Kevin Kuranyi spielte von 2010 bis 2015 für den russischen Erstligisten Dynamo Moskau. Im Rahmen der Themenwoche 'Fußball in Russland' erzählt er von den Eigenarten des russischen Fußballs, einem Leben im Schatten der Eishockeyspieler und Regionalliga-tauglichen Kabinen bei Tom Tomsk.
Er erinnert sich an seine Zusammenarbeit mit dem aktuellen Nationaltrainer Stanislaw Tschertschessow und sagt, auf welchen Russen man bei der WM ganz besonders achten sollte.
SPOX: Herr Kuranyi, was hat Sie während Ihrer Zeit in Russland positiv überrascht?
Kevin Kuranyi: Die Stadt Moskau und ihre Bewohner. Die Menschen haben sich ganz anders präsentiert, als ich es vorher gehört oder gelesen habe. Am Anfang sind sie zwar sehr zurückhaltend, aber jeder, den ich richtig kennenlernte, war letztlich offen, herzlich und hilfsbereit. Die Stadt ist nicht so gefährlich, wie immer getan wird. Ich habe mich in Moskau sehr sicher gefühlt.
SPOX: Und negativ?
Kuranyi: Die ewigen Staus und die langen Winter gefielen mir gar nicht.
SPOX: Wie sehr beeinträchtigt die Kälte den Fußball?
Kuranyi: Natürlich leidet die Qualität darunter. Aber nicht so sehr, wie man denkt, weil die Kälteunterschiede bei hohen Minusgraden nicht mehr wirklich spürbar sind. Der Sprung von 0 zu -5 Grad ist deutlich schlimmer als von -10 zu -15. Das ist eine andere, trockene Kälte. Die Spieler verbringen die kälteste Zeit des Jahres aber ohnehin nicht in Russland, sondern irgendwo im Trainingslager. Viel mehr beeinträchtigt die Kälte das Leben der Familien der Spieler, die in Russland bleiben.
SPOX: Bis 2010 wurde die russische Liga nach dem Kalenderjahr ausgetragen, seitdem wie in den europäischen Top-Ligen von Herbst bis in den Frühling. War das die richtige Entscheidung?
Kuranyi: Für die internationale Konkurrenzfähigkeit der russischen Vereine ist das sicherlich besser.
SPOX: Welche Rolle spielt der Fußball in Russland?
Kuranyi: Fußball ist nicht die wichtigste Sportart, das ist mit deutlichem Abstand Eishockey. Die Eishockey-Spieler sind in der öffentlichen Wahrnehmung die größten Stars. Während Fußballer in Deutschland stets unter Beobachtung stehen und nach Fotos oder Autogrammen gefragt werden, haben sie in Russland ihre Ruhe.
SPOX: Gibt es öffentliche Trainingseinheiten?
Kuranyi: Während meiner Zeit bei Dynamo gab es die nur sehr selten, vielleicht ein- oder zweimal im Monat. Aber dann sind auch kaum Fans gekommen. Einmal im Jahr hatten wir noch eine Veranstaltung mit Autogrammstunden. Mehr Austausch mit den Fans gab es nicht.
SPOX: Haben Sie die Nähe zu den Fans vermisst?
Kuranyi: Wenn ich mich daran erinnerte, was bei unseren Trainings mit Schalke vor einem Derby gegen Dortmund abging, wurde ich schon ein bisschen wehmütig. Da kamen 5000 Leute, die die Mannschaft pushten. Das war etwas Besonderes. In Russland können sich die Spieler dafür ganz auf den Sport konzentrieren.
SPOX: Wie war die Infrastruktur bei Dynamo?
Kuranyi: Wir hatten damals schon ein Mega-Trainingsgelände und sehr professionelle Abläufe. In den vergangenen Jahren zogen einige andere Vereine nach.
SPOX: Haben Sie während Ihrer Zeit in Russland auch das Gegenteil erlebt, also marode Einrichtungen?
Kuranyi: Bei vielen kleinen Vereinen hatte die Infrastruktur - um es freundlich zu sagen - Entwicklungspotenzial. Die Kabinen bei Tom Tomsk schauten beispielsweise wie bei einem deutschen Regionalligisten aus.
SPOX: Wie beeinträchtigend sind die langen Reisen zu den Auswärtsspielen?
Kuranyi: Weil die meisten Vereine in oder um Moskau angesiedelt sind, gibt es gar nicht so viele lange Auswärtsreisen. Die besten Klubs von der anderen Seite Russlands spielen alle in der zweiten oder dritten Liga. Meine längste Auswärtsreise war nach Tomsk. Das liegt in Westsibirien und ist etwa viereinhalb Flugstunden entfernt, also vergleichbar mit einer Reise zu einem Champions-League-Auswärtsspiel. Gewissermaßen spielen also alle russischen Vereine in Sachen Entfernung Champions League (lacht).
Kevin Kuranyis Leistungsdaten bei Dynamo Moskau in der Premier Liga
Saison | Spiele | Tore | Assists |
2010 (Kalenderjahr) | 16 | 9 | 2 |
2011/12 | 41 | 13 | 8 |
2012/13 | 27 | 10 | 2 |
2013/14 | 15 | 8 | - |
2014/15 | 24 | 10 | 4 |
SPOX: Welches russische Stadion ist das stimmungsvollste?
Kuranyi: Voll sind die Stadien nur bei Derbys und dann ist auch die Stimmung am besten. Vor allem, wenn Spartak gegen ZSKA spielt.
SPOX: Mit diesen beiden Klubs, Ihrem Ex-Verein Dynamo, dem aktuellen Meister Lokomotive und dem mittlerweile drittklassigen Torpedo gibt es in Moskau fünf große Traditionsvereine. Wodurch unterscheiden sie sich?
Kuranyi: Jeder Klub hat seine Vergangenheit im Kommunismus und aus dieser Zeit eine Nähe zu einer bestimmten staatlichen Einrichtung oder einem Ministerium. Dynamo gilt zum Beispiel als der Verein des Geheimdiensts.
SPOX: Welche Rolle spielt die Politik im russischen Fußball?
Kuranyi: Die gehört dazu, aber das stört im Tagesbetrieb aus Spielersicht auch nicht wirklich.
SPOX: Bei der EM 2016 randalierten russische Hooligans. Machten Sie im Ligabetrieb ähnliche Erfahrungen?
Kuranyi: Bei einem Spiel gegen Zenit St. Petersburg kam es zu einen Platzsturm, aber zum Glück ist nichts Schlimmes passiert. Einmal wurde ich mit Rassismus konfrontiert, als gegnerische Fans unsere beiden dunkelhäutigen Spieler mit Affenlauten provozieren wollten. Es gibt leider dumme Menschen, die nichts im Kopf haben, außer den Sport mit solchen Aktionen kaputt zu machen. Die wissen gar nicht, wie verletzend so etwas sein kann. Diese Menschen gehören nicht ins Stadion.
SPOX: Zurück zum Sportlichen. Was für ein Fußball wird in der russischen Liga gespielt?
Kuranyi: Er ist geprägt von Kampfgeist und viel Härte. Die Top-Vereine mit internationalen Superstars spielen aber auch einen technisch anspruchsvollen Fußball.
SPOX: Verfolgen Sie die Entwicklung der russischen Nationalmannschaft?
Kuranyi: Ich bin sehr gut informiert, weil ich mit vielen aktuellen Spielern und dem Nationaltrainer Stanislav Tschertschessow bei Dynamo zusammengearbeitet habe. Ich denke, dass Russland bei der WM die Gruppenphase überstehen wird. Aber spätestens im Viertelfinale ist wohl Schluss.
SPOX: Was ist Tschertschessow für ein Trainertyp?
Kuranyi: Er ist sehr hart, aber auch ehrlich und direkt. Tschertschessow sagt einem seine Meinung ins Gesicht und zieht seine Linie durch. Er schaut nicht nach rechts oder links. Ich finde das gut und besser, als Konflikte zu scheuen und weniger zu reden. Natürlich gab es bei Dynamo aber auch Spieler, die mit seiner Art Probleme hatten.
SPOX: Auf welchen russischen Spieler sollte man bei der WM besonders achten?
Kuranyi: Fjodor Smolow ist der beste Spieler der Mannschaft. Er hat das Potenzial, ein internationaler Superstar zu werden. Ein anderer spannender Spieler ist Alexander Kokorin, aber er riss sich das Kreuzband und wird die WM verpassen.
SPOX: Im russischen Kader stehen kaum Legionäre. Woran liegt das?
Kuranyi: Die russischen Top-Klubs sind finanzstark und zahlen höhere Gehälter als die meisten europäischen Vereine auf einem ähnlichen Niveau. Da fragt sich ein russischer Spieler natürlich: Warum soll ich von zu Hause weggehen, woanders die Hälfte verdienen und dann auch noch das Risiko haben, auf der Bank zu sitzen? Die Russen wünschen sich aber, dass ihre Spieler mutiger sind und den Schritt ins Ausland wagen.
SPOX: Welche Auswirkungen hatte die WM-Vergabe bisher auf den russischen Fußball?
Kuranyi: Als ich dort spielte, genoss der Fußball sehr wenig mediale Aufmerksamkeit, weil sich viele Vereine nicht darum kümmerten. Zuletzt verbesserten die Klubs aber das Marketing und die Zusammenarbeit mit den Medien. Außerdem wird die Nachwuchsarbeit gefördert. Alle versuchen, den Fußball zu pushen und zu zeigen, dass Russland ein Fußball-Land ist.
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