"Da geht dir keiner auf den Sack"

Micha Schneider
19. Januar 201612:29
Kristian Nicht kam über Aachen, Stavanger und den KSC nach Nordamerikagetty
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Kristian Nicht stand in der Bundesliga für Alemannia Aachen im Kasten. Nach Stationen bei Viking Stavanger und dem KSC ging es nach Amerika, wo er binnen weniger Stunden aus der zweiten Liga ins CONCACAF-Champions-League-Finale katapultiert wurde. Im Interview spricht er über das Spiel seines Lebens, Training auf dem Schrottplatz, die Freundschaft zu NFL-Star Björn Werner und Förderer Dieter Hecking.

SPOX: Herr Nicht, starten wir gleich mal mit einer etwas provokanten Frage: Wie finden Sie eigentlich Diego, den Ex-Bremer?

Kristian Nicht: (lacht) Soweit ich weiß, ist das ein ganz ordentlicher Spieler, der auch einen relativ guten Schuss hat und vor allem ziemlich weit schießen kann.

SPOX: Sein Weitschusstor gegen Sie ist Ihnen also noch präsent. Es wurde ja später sogar zum Tor des Jahres 2007 gewählt.

Nicht: Gut, wir lagen damals 1:2 gegen Bremen zurück und es war die letzte Minute. Ich werde sicher nicht der letzte Torwart sein, der bei einem Rückstand in der Nachspielzeit mit nach vorne geht. Es war natürlich auch weltklasse von Diego. Er trifft das Ding perfekt, der Ball springt noch auf und touchiert die Latte. Aber ich mache mir keine Vorwürfe.

SPOX: Sie waren damals in der Aachener Aufstiegssaison unter Dieter Hecking Stammkeeper und gingen als Nummer eins in die Bundesliga-Saison. War das rückblickend die schönste Zeit Ihrer Karriere?

Nicht: Die dreieinhalb Jahre in Aachen waren definitiv überragend. Viele Fußballprofis erleben das nicht. Wir standen als Zweitligist fast im UEFA-Cup-Achtelfinale und sind gegen Alkmaar nur um ein Tor gescheitert. Wir hatten in Dieter Hecking und Jörg Schmadtke zwei sehr gute Strategen, die ein Team zusammengestellt haben aus lauter Jungs, die woanders gescheitert waren. Das war auf jeden Fall die coolste Truppe, in der ich je gespielt habe.

SPOX: Sie haben damals auch gegen die Bayern und Oliver Kahn gespielt und hatten wie Kahn einen großen Ehrgeiz. Sie sagten mal: "Ich hasse es, Durchschnitt zu sein."

Nicht: Ich konnte noch nie verlieren. Auch heute, wenn in Amerika Winterpause ist und ich in Deutschland bin, arbeite ich hart an meiner Fitness. Wir haben hier in Porstendorf vor den Toren Jenas einen herrlichen Schrottplatz, wo ich immer hinfahre.

SPOX: Was machen Sie auf einem Schrottplatz?

Nicht: Der ist überragend. Man ist ungestört und keiner geht dir auf den Sack. Du hast viele Sachen, mit denen du komplex trainieren kannst. Seile, alte Autoreifen, auf die ich mit einem Vorschlaghammer draufhaue, um meine Schultermuskulatur zu stärken. Ich habe auch mal bei einem Kumpel als Fahrradkurier ausgeholfen. Du sitzt jeden Tag auf dem Fahrrad und tust etwas für deine Kondition.

SPOX: Sie sollen sich als Jugendlicher eine Wandzeitung gebastelt haben, worauf Sie klar definierte Lebensziele abgebildet haben.

Nicht: Die hängt immer noch bei mir. Das ist einfach eine Maßnahme, seine Ziele nicht aus den Augen zu verlieren. Man wird täglich daran erinnert, was man noch alles erreichen möchte. Da stehen sportliche, aber auch private Dinge drauf und bisher hat das immer gut funktioniert.

SPOX: Das Ziel Bundesligakeeper haben Sie erreicht. Trotzdem: Ein gestandener Erstliga-Profi waren Sie nie. In Aachen unterliefen Ihnen in Ihrer ersten und einzigen Bundesligasaison immer wieder Patzer und es kam zum Wechsel auf der Torhüterposition. Wie Sind Sie damit umgegangen?

Nicht: Das war nicht einfach. Die Bundesligasaison lief unglücklich für mich. Nach dem zweiten Spieltag ist mein großer Förderer Dieter Hecking gegangen und in meinem ersten Spiel in Leverkusen habe ich eine Rote Karte kassiert. Stephan Straub hat ordentlich gehalten. Ich war dann zwar wieder im Tor, aber es war einfach komisch. Beim 0:0 gegen Dortmund halte ich überragend, eine Woche später verlieren wir 0:2 und beide Kisten gehen auf meine Kappe. Ich war damals dem Druck vielleicht noch nicht gewachsen. Aber ich schaue nicht reumütig zurück. Ich war zwar nicht Nationalspieler, aber ich bin mir sicher, dass viele gerne mit mir tauschen würden.

SPOX: Auch in der zweiten Liga lief es nicht mehr rund. Trainer Guido Buchwald hatte letztlich keine Verwendung mehr für Sie. Sie wechselten zu Viking Stavanger nach Norwegen. Wie gefiel Ihnen der norwegische Life-Style?

Nicht: Norwegen war überragend, ein sensationell geiles Land. An den Fußball muss man sich gewöhnen. Er ist sehr hart und englisch geprägt. Da wird nicht viel rumgespielt. Als Keeper musst du den Ball irgendwie nach vorne bringen, da ist dann eine Glückwunschkarte dran und die Stürmer müssen schauen, wie sie damit klar kommen. Kick-and-rush eben. Es war schon eine Umgewöhnung. Aber Stavanger ist eine schöne Stadt und es gibt tolle Stadien in Norwegen, auch wenn die Zuschauerzahlen natürlich nicht mit denen in Deutschland vergleichbar sind.

SPOX: Nach zwei Jahren ging's nochmal nach Deutschland zum Karlsruher SC. Glücklich wurden Sie dort allerdings auch nicht.

Nicht: Zum KSC bin ich nur gewechselt, weil ich davon ausgegangen bin, dass Markus Miller verkauft wird. Er ist allerdings geblieben und so saß ich das erste Jahr komplett auf der Bank. Die zweite Saison war ein absoluter Rohrkrepierer. Da hat von vorne bis hinten nichts gepasst. Ich glaube, wir hatten vier Trainer in der Saison. Da waren vom Torwarttrainer bis zum Präsidenten Leute am Werk, das glaubst du nicht. Die sind zum Glück heute alle nicht mehr da. Und das hat letztlich auch auf meine Leistung abgefärbt. SPOX

SPOX: Sie sind dann tatsächlich weit weg gegangen. Es ging nach Amerika in die dritthöchste Spielklasse zu den Rochester Rinos.

Nicht: Das war mir damals alles gar nicht so richtig bewusst.

SPOX: Wie meinen Sie das?

Nicht: Naja, die Amerika-Geschichte ist im Endeffekt aus einer Laune heraus entstanden. Wir haben uns damals in Karlsruhe geeinigt und den Vertrag aufgelöst. Ich konnte damals nicht mal mehr aufs Trainingsgelände fahren. Ich konnte dieses Stadion und alles dort nicht mehr sehen. Ich dachte mir nur: Das ist ein guter Vertrag, die Liga heißt so und so, cool, das mache ich.

SPOX: War das nicht auch ein ziemliches Risiko?

Nicht: Ich habe es jedenfalls keine Sekunde bereut. Fußballspielen kann man auf der ganzen Welt und viele träumen davon, mal in Amerika zu leben. Ich habe es wahr gemacht. Ich hatte ein richtig geiles erstes Jahr, bin da damals blind hingeflogen, kannte kein Schwein, wurde aber zum "Goalkeeper of the Year" gewählt. So kam die Geschichte richtig ins Rollen.

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Seite 2: Nicht über sein unverhofftes Finale und seine Freundschaft zu Björn Werner

SPOX: In Indianapolis wurde für die zweite US-Liga quasi von 0 auf 100 ein neues Team aus dem Boden gestampft. Sie wurden als erster Spieler der Franchise überhaupt verpflichtet. Wie darf man sich bei so einer zusammengewürfelten Truppe die ersten Spiele vorstellen?

Nicht: Das war schon wild am Anfang. Für einen Deutschen ist es natürlich schwer zu verstehen, dass man da mal eben eine gewisse Summe auf den Tisch legt und sagt: So, wir spielen dann jetzt mal Fußball hier. Die ersten Spiele waren eine absolute Katastrophe, wir haben vier Unentschieden geholt und fünf Spiele verloren. Es wurden Verträge aufgelöst und neue Spieler verpflichtet. Danach ging es aber stetig bergauf.

SPOX: Wie wird denn das Soccer-Team in Indianapolis angenommen?

Nicht: Hier im mittleren Westen herrscht eine abartige Fußballbegeisterung. Ich wurde damals im Oktober 2013 vorgestellt. Da waren 2000 Leute in einem Biergarten in der Innenstadt. Das Stadion hat zwar nur eine Kapazität von 12.500 Plätzen, ist aber immer ausverkauft. Die Amerikaner lieben dich schon deswegen, weil du für ihre Stadt spielst. Sie unterstützen dich immer, das ist schon eine andere Mentalität. Du kannst auch mal abends nach einem verlorenen Spiel in die Bar gehen und ein Bier trinken und die Leute pöbeln dich nicht an, so wie dir das vielleicht in Deutschland passieren könnte.

SPOX: Sie sind nicht der einzige deutsche Auswanderer in der Stadt. Björn Werner spielt für die Indianapolis Colts in der NFL.

Nicht: Wir sind eng befreundet. Wir haben uns mal durch Zufall auf einer Charity-Veranstaltung getroffen und sind uns da irgendwie in die Arme gelaufen. Björn kommt aus Berlin, ich aus Jena. Da gibt es zwischen Wessi und Ossi natürlich immer Gesprächsstoff. Es hat gleich gepasst mit uns. Wir unternehmen auch öfters mal was zusammen.

SPOX: Sind Sie dann auch Football-Fan?

Nicht: Die NFL ist natürlich eine Riesensache hier und ich fand es interessant, auch mal über den Tellerrand hinauszuschauen. Ich bin damals in Rochester aus welchen Gründen auch immer zum Pittsburgh-Steelers-Fan geworden. Durch Björn habe ich aber einige Colts-Spieler kennen gelernt. Ich bin gut befreundet mit Quarterback Andrew Luck, der eine Zeit in Deutschland gelebt hat, weil sein Vater Präsident der NFL Europe war. Er ist auch ein rieisger Fußballfan. Inzwischen bin ich natürlich zum Colts-Fan geworden. Du wünschst ja deinen Freunden, dass sie gewinnen.

SPOX: Fußballerisch ergab sich für Sie wie aus dem Nichts nochmal eine große Gelegenheit. Der MLS-Klub Montreal Impact stand im CONCACAF-Champions-League-Finale, hatte aber plötzlich keinen Keeper mehr. Die Lösung sollten Sie sein.

Nicht: Die Geschichte hat schon ein bisschen früher angefangen. In Amerika können Spieler auch per Leihe während der Saison transferiert werden. Montreal stand damals im Champions-League-Viertelfinale. Der zweite Keeper hatte sich verletzt und der dritte Torwart war noch sehr jung. Das war den Verantwortlichen zu riskant. Ich hatte mir in Amerika einen guten Namen gemacht, aber mein Problem damals war, dass ich keine Green-Card hatte und deshalb nicht fest verpflichtet werden konnte, weil ich als Ausländer gezählt hätte.

SPOX: Wie ging die Geschichte weiter?

Nicht: Wir haben erstmal ein Trainingslager in Mexiko City gemacht. Auf knapp 3000 Metern Höhe. Da hast du schon Probleme, überhaupt zu atmen. In den Spielen konnten wir uns durchsetzen und sind ins Halbfinale eingezogen. Zwei Wochen später dann die gleiche Story: Wieder wurde ich für zwei Wochen ausgeliehen. Wir haben gegen eine costa-ricanische Mannschaft gespielt, deren Namen ich vergessen habe, der hatte gefühlt alle Buchstaben des Alphabets (Liga Deportiva Alajuelense, Anm. d. Red.). Jedenfalls haben wir uns letztlich durchgesetzt und standen im Finale. Ich bin dann donnerstags direkt von Costa Rica ins Mannschaftshotel von Indy Eleven geflogen. Da habe ich auf jeden Fall ordentlich Flugmeilen geschossen.

SPOX: Dann stand noch das Finale an.

Nicht: Ja, allerdings konnte Montreal mich nicht mehr ausleihen, weil man einen Spieler nur zweimal pro Saison ausleihen darf. Der erste Keeper hatte sich im Hinspiel aber eine Rote Karte geholt, da läuteten bei denen natürlich alle Alarmglocken. Es gab nur eine Möglichkeit: Sie mussten mich aus meinem Vertrag rauskaufen. Bundesliga Spielplaner - Der Tabellenrechner von SPOX.com

SPOX: Das ging plötzlich doch?

Nicht: Ja, aber Indy Eleven hat mich anschließend wieder zurückgekauft, weil ich bei Montreal einen Ausländerplatz weggenommen hätte. Den Tag werde ich aber auf jeden Fall so schnell nicht mehr vergessen. Ich habe Montagmorgen davon erfahren. Der Coach sagte mir: "Kristian, geh mal nur laufen, es kann sein, dass du heute nach Montreal fliegst und das Champions-League-Finale spielst." Da habe ich ihn erstmal für verrückt erklärt. Als ich heimgefahren bin, klingelte das Telefon: Er sagte mir, ich solle meine Sachen packen, ich würde am Mittwoch auflaufen. Da ist der Puls natürlich kurz mal nach oben geschossen. Der Anruf kam um 1 Uhr, ich habe mein Zeug aus der Kabine geholt, bin ins Indy-Eleven-Büro gefahren und habe die Verträge unterschrieben. Montreal hat den Privatjet vom Eigentümer nach Indianapolis geschickt, der um 6 Uhr landete. Ich hatte also quasi vier Stunden Zeit, um mal eben mein Leben in Indianapolis aufzulösen und nach Montreal zu fliegen, um das größte Spiel in der nordamerikanischen Klub-Geschichte zu spielen.

SPOX: Hat es sich wenigstens gelohnt?

Nicht: Es war ein wahnsinnig geiles Erlebnis vor 65.000 Fans in Montreal zu spielen. Ich war plötzlich Teil der amerikanischen Geschichte. Es war das erste Mal, dass ein nordamerikanisches Team im Finale der Champions League stand. Ich habe ein richtig gutes Spiel gemacht, trotzdem haben wir leider 2:4 verloren. Club America hat uns in dem Spiel in der zweiten Halbzeit einfach gezeigt, warum sie die beste Mannschaft im CONCACAF-Verband sind. Nach dem Spiel hatten wir zwei Tage frei, ich bin durch Montreal gelaufen wie ein Zombie, war komplett leer und hatte keinerlei Energie mehr. Aber ich will das für nichts in der Welt tauschen.

SPOX: Sie genießen in den Staaten einen guten Ruf, wenn Sie für so ein Spiel verpflichtet werden. Wollen Sie nicht dauerhaft in der MLS spielen?

Nicht: Bei Montreal wäre ich wie erwähnt nur dritter Keeper gewesen. Aber klar, ich habe in Amerika zu meiner Leistung zurückgefunden, habe vier Jahre auf einem relativ ordentlichen Niveau gespielt und warte gerade tagtäglich auf meine Green Card, die bis Ende November kommen soll. Dann zähle ich nicht mehr als Ausländer. Die MLS-Geschichte möchte ich auf jeden Fall noch realisieren.

SPOX: Dann spielen Sie womöglich bald mit Andrea Pirlo oder Steven Gerrard in einem Team.

Nicht: Das sind natürlich große Namen. Es wäre geil, mit denen in einer Truppe zu spielen, aber wenn ich in meinem Leben nicht mit Steven Gerrard zusammengespielt habe, geht die Welt nicht unter. Die großen Namen haben mich auch in der Bundesliga nicht sonderlich beeindruckt. Man hat natürlich einen gesunden Respekt. Aber ich will in die MLS, weil das Niveau gut ist und ich das sportlich Bestmögliche aus meiner Karriere rausholen will.

SPOX: Sie sind jetzt 33. Wie sehen Ihre Pläne nach der Karriere aus?

Nicht: Ich habe keine Ahnung, was nach der Karriere kommt. Letztlich kommt sowieso alles anders. Ich studiere nebenbei Immobilienfachmann und Fitnesstrainer für den Leistungsbereich. Das sind Dinge, die ich mir schon vorstellen könnte. Aber ich halte mich an ein altes Sprichwort: Plan B ist nur eine Ablenkung von Plan A. Ich versuche so lange wie möglich, meinen Plan A in die Tat umzusetzen. Wenn das dann irgendwann aus Alters- oder Verletzungsgründen nicht mehr geht, werde ich schon einen neuen Plan A schmieden.

SPOX: Wenn alle Stricke reißen, können Sie ja immer noch Model werden. Immerhin schafften Sie es mal aufs Cover eines bekannten Life-Style-Magazins. Wie kam es denn dazu?

Nicht: Model war ich nie, aber das war eine lustige Geschichte, die über einen Sponsor für Businesskleidung zu Stande kam. Das Foto hat dann irgendwie jemand gesehen, der ein hohes Tier bei einem ziemlich bekannten Magazin ist. So haben die Amerikaner eben auch mal mein Gesicht zu sehen bekommen.

SPOX: Auf Ihrer Wandzeitung streichen Sie jedes Ziel weg, das Sie erreicht haben und definieren ein neues. Was steht da denn aktuell noch drauf?

Nicht: Da steht in Riesenlettern: Meistertitel! Und einen Titel werde ich in meiner Karriere noch holen. Bisher bin ich ganz knapp gescheitert, mit Rochester oder mit Montreal im Finale. Den Traum gebe ich noch nicht auf. Wobei Zweitligameister bin ich ja schon, zählt das?

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Kristian Nicht im Steckbrief