"Da geht dir keiner auf den Sack"

Von Interview: Micha Schneider
Kristian Nicht kam über Aachen, Stavanger und den KSC nach Nordamerika
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SPOX: In Indianapolis wurde für die zweite US-Liga quasi von 0 auf 100 ein neues Team aus dem Boden gestampft. Sie wurden als erster Spieler der Franchise überhaupt verpflichtet. Wie darf man sich bei so einer zusammengewürfelten Truppe die ersten Spiele vorstellen?

Nicht: Das war schon wild am Anfang. Für einen Deutschen ist es natürlich schwer zu verstehen, dass man da mal eben eine gewisse Summe auf den Tisch legt und sagt: So, wir spielen dann jetzt mal Fußball hier. Die ersten Spiele waren eine absolute Katastrophe, wir haben vier Unentschieden geholt und fünf Spiele verloren. Es wurden Verträge aufgelöst und neue Spieler verpflichtet. Danach ging es aber stetig bergauf.

SPOX: Wie wird denn das Soccer-Team in Indianapolis angenommen?

Nicht: Hier im mittleren Westen herrscht eine abartige Fußballbegeisterung. Ich wurde damals im Oktober 2013 vorgestellt. Da waren 2000 Leute in einem Biergarten in der Innenstadt. Das Stadion hat zwar nur eine Kapazität von 12.500 Plätzen, ist aber immer ausverkauft. Die Amerikaner lieben dich schon deswegen, weil du für ihre Stadt spielst. Sie unterstützen dich immer, das ist schon eine andere Mentalität. Du kannst auch mal abends nach einem verlorenen Spiel in die Bar gehen und ein Bier trinken und die Leute pöbeln dich nicht an, so wie dir das vielleicht in Deutschland passieren könnte.

SPOX: Sie sind nicht der einzige deutsche Auswanderer in der Stadt. Björn Werner spielt für die Indianapolis Colts in der NFL.

Nicht: Wir sind eng befreundet. Wir haben uns mal durch Zufall auf einer Charity-Veranstaltung getroffen und sind uns da irgendwie in die Arme gelaufen. Björn kommt aus Berlin, ich aus Jena. Da gibt es zwischen Wessi und Ossi natürlich immer Gesprächsstoff. Es hat gleich gepasst mit uns. Wir unternehmen auch öfters mal was zusammen.

SPOX: Sind Sie dann auch Football-Fan?

Nicht: Die NFL ist natürlich eine Riesensache hier und ich fand es interessant, auch mal über den Tellerrand hinauszuschauen. Ich bin damals in Rochester aus welchen Gründen auch immer zum Pittsburgh-Steelers-Fan geworden. Durch Björn habe ich aber einige Colts-Spieler kennen gelernt. Ich bin gut befreundet mit Quarterback Andrew Luck, der eine Zeit in Deutschland gelebt hat, weil sein Vater Präsident der NFL Europe war. Er ist auch ein rieisger Fußballfan. Inzwischen bin ich natürlich zum Colts-Fan geworden. Du wünschst ja deinen Freunden, dass sie gewinnen.

SPOX: Fußballerisch ergab sich für Sie wie aus dem Nichts nochmal eine große Gelegenheit. Der MLS-Klub Montreal Impact stand im CONCACAF-Champions-League-Finale, hatte aber plötzlich keinen Keeper mehr. Die Lösung sollten Sie sein.

Nicht: Die Geschichte hat schon ein bisschen früher angefangen. In Amerika können Spieler auch per Leihe während der Saison transferiert werden. Montreal stand damals im Champions-League-Viertelfinale. Der zweite Keeper hatte sich verletzt und der dritte Torwart war noch sehr jung. Das war den Verantwortlichen zu riskant. Ich hatte mir in Amerika einen guten Namen gemacht, aber mein Problem damals war, dass ich keine Green-Card hatte und deshalb nicht fest verpflichtet werden konnte, weil ich als Ausländer gezählt hätte.

SPOX: Wie ging die Geschichte weiter?

Nicht: Wir haben erstmal ein Trainingslager in Mexiko City gemacht. Auf knapp 3000 Metern Höhe. Da hast du schon Probleme, überhaupt zu atmen. In den Spielen konnten wir uns durchsetzen und sind ins Halbfinale eingezogen. Zwei Wochen später dann die gleiche Story: Wieder wurde ich für zwei Wochen ausgeliehen. Wir haben gegen eine costa-ricanische Mannschaft gespielt, deren Namen ich vergessen habe, der hatte gefühlt alle Buchstaben des Alphabets (Liga Deportiva Alajuelense, Anm. d. Red.). Jedenfalls haben wir uns letztlich durchgesetzt und standen im Finale. Ich bin dann donnerstags direkt von Costa Rica ins Mannschaftshotel von Indy Eleven geflogen. Da habe ich auf jeden Fall ordentlich Flugmeilen geschossen.

SPOX: Dann stand noch das Finale an.

Nicht: Ja, allerdings konnte Montreal mich nicht mehr ausleihen, weil man einen Spieler nur zweimal pro Saison ausleihen darf. Der erste Keeper hatte sich im Hinspiel aber eine Rote Karte geholt, da läuteten bei denen natürlich alle Alarmglocken. Es gab nur eine Möglichkeit: Sie mussten mich aus meinem Vertrag rauskaufen.

SPOX: Das ging plötzlich doch?

Nicht: Ja, aber Indy Eleven hat mich anschließend wieder zurückgekauft, weil ich bei Montreal einen Ausländerplatz weggenommen hätte. Den Tag werde ich aber auf jeden Fall so schnell nicht mehr vergessen. Ich habe Montagmorgen davon erfahren. Der Coach sagte mir: "Kristian, geh mal nur laufen, es kann sein, dass du heute nach Montreal fliegst und das Champions-League-Finale spielst." Da habe ich ihn erstmal für verrückt erklärt. Als ich heimgefahren bin, klingelte das Telefon: Er sagte mir, ich solle meine Sachen packen, ich würde am Mittwoch auflaufen. Da ist der Puls natürlich kurz mal nach oben geschossen. Der Anruf kam um 1 Uhr, ich habe mein Zeug aus der Kabine geholt, bin ins Indy-Eleven-Büro gefahren und habe die Verträge unterschrieben. Montreal hat den Privatjet vom Eigentümer nach Indianapolis geschickt, der um 6 Uhr landete. Ich hatte also quasi vier Stunden Zeit, um mal eben mein Leben in Indianapolis aufzulösen und nach Montreal zu fliegen, um das größte Spiel in der nordamerikanischen Klub-Geschichte zu spielen.

SPOX: Hat es sich wenigstens gelohnt?

Nicht: Es war ein wahnsinnig geiles Erlebnis vor 65.000 Fans in Montreal zu spielen. Ich war plötzlich Teil der amerikanischen Geschichte. Es war das erste Mal, dass ein nordamerikanisches Team im Finale der Champions League stand. Ich habe ein richtig gutes Spiel gemacht, trotzdem haben wir leider 2:4 verloren. Club America hat uns in dem Spiel in der zweiten Halbzeit einfach gezeigt, warum sie die beste Mannschaft im CONCACAF-Verband sind. Nach dem Spiel hatten wir zwei Tage frei, ich bin durch Montreal gelaufen wie ein Zombie, war komplett leer und hatte keinerlei Energie mehr. Aber ich will das für nichts in der Welt tauschen.

SPOX: Sie genießen in den Staaten einen guten Ruf, wenn Sie für so ein Spiel verpflichtet werden. Wollen Sie nicht dauerhaft in der MLS spielen?

Nicht: Bei Montreal wäre ich wie erwähnt nur dritter Keeper gewesen. Aber klar, ich habe in Amerika zu meiner Leistung zurückgefunden, habe vier Jahre auf einem relativ ordentlichen Niveau gespielt und warte gerade tagtäglich auf meine Green Card, die bis Ende November kommen soll. Dann zähle ich nicht mehr als Ausländer. Die MLS-Geschichte möchte ich auf jeden Fall noch realisieren.

SPOX: Dann spielen Sie womöglich bald mit Andrea Pirlo oder Steven Gerrard in einem Team.

Nicht: Das sind natürlich große Namen. Es wäre geil, mit denen in einer Truppe zu spielen, aber wenn ich in meinem Leben nicht mit Steven Gerrard zusammengespielt habe, geht die Welt nicht unter. Die großen Namen haben mich auch in der Bundesliga nicht sonderlich beeindruckt. Man hat natürlich einen gesunden Respekt. Aber ich will in die MLS, weil das Niveau gut ist und ich das sportlich Bestmögliche aus meiner Karriere rausholen will.

SPOX: Sie sind jetzt 33. Wie sehen Ihre Pläne nach der Karriere aus?

Nicht: Ich habe keine Ahnung, was nach der Karriere kommt. Letztlich kommt sowieso alles anders. Ich studiere nebenbei Immobilienfachmann und Fitnesstrainer für den Leistungsbereich. Das sind Dinge, die ich mir schon vorstellen könnte. Aber ich halte mich an ein altes Sprichwort: Plan B ist nur eine Ablenkung von Plan A. Ich versuche so lange wie möglich, meinen Plan A in die Tat umzusetzen. Wenn das dann irgendwann aus Alters- oder Verletzungsgründen nicht mehr geht, werde ich schon einen neuen Plan A schmieden.

SPOX: Wenn alle Stricke reißen, können Sie ja immer noch Model werden. Immerhin schafften Sie es mal aufs Cover eines bekannten Life-Style-Magazins. Wie kam es denn dazu?

Nicht: Model war ich nie, aber das war eine lustige Geschichte, die über einen Sponsor für Businesskleidung zu Stande kam. Das Foto hat dann irgendwie jemand gesehen, der ein hohes Tier bei einem ziemlich bekannten Magazin ist. So haben die Amerikaner eben auch mal mein Gesicht zu sehen bekommen.

SPOX: Auf Ihrer Wandzeitung streichen Sie jedes Ziel weg, das Sie erreicht haben und definieren ein neues. Was steht da denn aktuell noch drauf?

Nicht: Da steht in Riesenlettern: Meistertitel! Und einen Titel werde ich in meiner Karriere noch holen. Bisher bin ich ganz knapp gescheitert, mit Rochester oder mit Montreal im Finale. Den Traum gebe ich noch nicht auf. Wobei Zweitligameister bin ich ja schon, zählt das?

Seite 1: Nicht über Training auf dem Schrottplatz, Norwegen und Chaos beim KSC

Seite 2: Nicht über sein unverhofftes Finale und seine Freundschaft zu Björn Werner

Kristian Nicht im Steckbrief

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