Der Verrückte von Bilbao

Eugen Epp
05. April 201217:50
Ein Derwisch an der Seitenlinie: Athletic Bilbaos Trainer Marcelo BielsaGetty
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In Südamerika ist Marcelo Bielsa ein Held, in Europa dagegen noch ein fast unbeschriebenes Blatt. Mit Athletic Bilbao sorgt der eigensinnige Taktikguru nun in der Europa League für Aufsehen - dabei ist er selbst die größte Attraktion. Im Viertelfinale ist er drauf und dran, Schalke 04 ein Bein zu stellen.

Thomas Desson wollte nur ein Interview. Und nicht irgendeines - der Journalist befragte während der WM 2010 im Auftrag der FIFA die Nationaltrainer. Aber eben auch nicht mit irgendjemandem. Denn was Desson anscheinend nicht wusste: Marcelo Bielsa, damals chilenischer Nationalcoach, gibt keine Interviews und scheut dabei auch den Konflikt mit dem Weltverband nicht.

"Als ich Bielsa sagte, er müsse einen Schritt nach vorne gehen und zehn Sekunden lang in die Kamera schauen, ging er zurück und verließ den Raum", beklagte sich der französische Reporter anschließend, "es ist sehr schwer, mit ihm zu arbeiten." Aber so ist Marcelo Bielsa - ein Charakter mit Ecken und Kanten, prinzipientreu und nicht immer leicht zu handhaben.

Sie nennen ihn "El Loco"

Der Trainer von Athletic Bilbao, in der Europa League Viertelfinal-Gegner von Schalke 04 (20.50 Uhr im LIVE-TICKER), hat sich nicht nur damit über die Jahre hinweg seinen Spitznamen redlich verdient: "El Loco", den Verrückten, nennt man ihn allerorten. Bielsa nimmt es gelassen: "Ein Mann mit neuen Ideen ist verrückt. Bis er Erfolg hat." In Wirklichkeit ist der 56-jährige Argentinier ein bescheidener, eher introvertierter Zeitgenosse - und einer der größten Fußballexperten unserer Zeit.

Trotzdem ist Bielsa in Europa vielen kein Begriff. Das ändert sich gerade grundlegend. Spätestens seit Athletic im Achtelfinale Manchester United aus der Europa League geworfen hat, sind die Rot-Weißen und ihr Trainer in aller Munde. "In ganz Europa habe ich keine Elf gesehen, die so spielt. Es ist Schönheit", zollte Manchester-Trainer Alex Ferguson seinem Gegenüber Respekt.

Schönheit, das heißt in diesem Fall: Gnadenloses Pressing, kompakte Verteidigung, schnelle Angriffe bei Ballbesitz, Flexibilität und taktische Disziplin. Dem oft rückwärtsgewandt erscheinenden Bilbao hat Bielsa den modernen Fußball beigebracht. "Mir geht es gut, wenn meine Mannschaft mehr angreift als verteidigt", beschreibt er seine Philosophie.

Das Ende der Schalker Hoffnungen?

Auch Schalke 04 hat damit nun Bekanntschaft machen müssen. In der eigenen Arena wurden die Königsblauen im Viertelfinale der Europa League von spielstarken und gnadenlos effizienten Basken überrannt, 2:4 lautete das Hinspiel-Ergebnis.

Und auch wenn Marcelo Bielsa nicht müde wird, vor voreiligen Schlüssen und starken Schalkern zu warnen, ist der Einzug Bilbaos ins Halbfinale doch schon so gut wie geritzt. Nicht einmal Schalke-Trainer Huub Stevens glaubt noch an ein Wunder in der Höhle der "Los Leones", der Löwen, wie man Athletic in Spanien nennt. Das liegt auch an Marcelo Bielsa, der die Mannschaft dorthin geführt hat, wo sie jetzt steht.

In Europa ein unbeschriebenes Blatt

Es scheint, als hätten sich mit Bielsa, der mit 25 Jahren seine Spielerkarriere wegen diverser Verletzungen beenden musste, und Bilbao zwei einzigartige Exemplare ihrer Art gefunden. Hier der Trainer, der seinen Spitznamen vor allem seiner Taktikbesessenheit verdankt, dort der Verein, der seit jeher nur baskische Spieler aufnimmt.

Immer noch ist nicht alles eitel Sonnenschein, in der Liga belegt Athletic lediglich einen Platz im Mittelfeld. Doch die Erfolge in der Europa League und der attraktive Fußball des Teams deuten an: diese Liaison passt.

Athletic Bilbao ist Bielsas erste wirkliche Trainerstation in Europa. Ein kurzes Abenteuer bei Espanyol Barcelona brach er 1998 nach nur einem Monat ab (was ihn der Legende nach nicht daran hinderte, 27 Einwurfvarianten einstudieren zu lassen) und kehrte nach Argentinien zurück, um die Nationalmannschaft zu übernehmen.

Blamage mit Argentinien, Überraschung mit Chile

Was genau dann schiefging, darüber herrscht nach wie vor Uneinigkeit. Fakt ist: Die Albiceleste schied bei der WM 2002 blamabel in der Vorrunde aus. Ein Makel, der Bielsa bis heute anhängt, trotz der olympischen Goldmedaille und Platz zwei bei der Copa America 2004.

2007 zog es ihn als Nationaltrainer nach Chile. Eine Mannschaft ganz nach seinen Vorstellungen zu formen, das reizte den Taktikfanatiker. Das Ergebnis konnte die Welt 2010 bei der WM in Südafrika bestaunen: La Roja stürmte ins Achtelfinale und spielte dazu noch attraktiven Fußball.

Der Charakterkopf wurde umgehend zum Nationalhelden, wählte dann aber einen typischen Bielsa-Abgang. Weil der Verbandspräsident abberufen wurde, kündigte auch der Trainer kurzerhand seinen Vertrag.

In Chile lieben sie ihn nicht nur, weil Fußball sein Leben ist, sondern weil er auch stets das wirklich Wichtige im Blick behielt und sich als Ausländer mit dem Land identifizierte. Als im März 2010 die Erde in Chile bebte, reiste Bielsa in die betroffenen Regionen und sammelte Spenden für die Opfer.

"Rocky Bilbao" und andere Lobeshymnen

Die Argentinier haben indes ein gespaltenes Verhältnis zu ihrem Landsmann. Das magere Abschneiden 2002 haben ihm viele "Gauchos" nie ganz verziehen, doch im Moment lieben sie ihn wieder. "Entschuldigung, Senor Bielsa. Danke, dass Sie Argentinien in der ganzen Welt so gut vertreten", huldigte ihm die Sportzeitung "Diario Ole" nach dem Sensationssieg gegen ManUtd und schrieb in riesigen Lettern "Rocky Bilbao" über ein Foto des jubelnden Trainers.

Womöglich qualifiziertere, aber keineswegs zurückhaltendere Lobeshymnen muss der bescheidene Coach von Kollegen über sich ergehen lassen. Zu seinen großen Verehrern gehört Pep Guardiola, Trainer des FC Barcelona, der wohl besten Mannschaft der Welt. "Ich bewundere seine Arbeit. Bielsa ist der beste Trainer auf dem Planeten", sagt Guardiola, der selbst immer wieder dieses Prädikat zugesprochen bekommt.

Bevor er seinen Job bei Barca antrat, reiste Guardiola zuerst zu Bielsa nach Argentinien, um sich Rat zu holen. Elf Stunden lang sollen die beiden über Fußballphilosophie, Taktik und Mannschaftsführung gesprochen haben. Kein Wunder, dass Bilbao nach Meinung vieler Experten so spielt wie Barcelona - oder ist Guardiolas Barcelona in Wirklichkeit auch ein Ergebnis von Bielsas Ratschlägen?

Keiner für die großen Klubs

Warum aber fehlt trotzdem nach wie vor der ganz große Name in der Vita von Marcelo Bielsa? Es liegt zum einen an Bielsa selbst - einen Blankoscheck von Inter Mailands Präsident Moratti, so erzählt man sich, schickte er einmal unausgefüllt zurück.

Bielsa ist kein Diplomat, der es Vorständen und Medien recht macht. Auf der anderen Seite gibt es wohl wenige Vereine von Weltrang, die sich mit den vielen eigenwilligen Gewohnheiten des Trainers herumschlagen möchten. Und auch wenige Weltstars, die dabei die Füße stillhalten.

Denn "El Loco" ist berüchtigt für seine Marotten. In seiner Heimatstadt Rosario benannte man nach nur zwei Jahren Trainertätigkeit (und zwei Meisterschaften) das Stadion nach ihm.

Während seiner Zeit in Chile lebte er auf dem Trainingsgelände des Verbandes, mit seiner 7000 Spielaufzeichnungen starken Videosammlung. Abwehr- und Angriffsspieler lässt er oft zu unterschiedlichen Zeiten trainieren.

Und für seine taktischen Innovationen holt er sich gern im Zoo die Inspiration. Mit Anekdoten wie diesen ließe sich ein Buch von beachtlichem Umfang füllen.

Lieber Pressekonferenzen als Interviews

Komplementär zu seiner Abneigung gegen Interviews pflegt Bielsa - um auch das noch aufzuklären - übrigens eine andere Leidenschaft: Pressekonferenzen. Die können dann gut und gern drei bis vier Stunden dauern, bis auch die letzte Frage beantwortet ist. Einzige Bedingung: es muss um "das schöne Spiel", wie er es nennt, gehen.

"Alle Medien verdienen dieselbe Beachtung meinerseits: vom wichtigsten Fernsehsender der Hauptstadt bis hin zur unbedeutendsten Provinzzeitung", sagt der Gerechtigkeitsfanatiker. Schon vor dem Hinspiel auf Schalke kamen die Pressevertreter im Pott auf ihre Kosten: Die Bielsa-PK dauerte diesmal zwar "nur" 40 Minuten, damit aber immer noch doppelt so lange wie die von Huub Stevens.

Marcelo Bielsa im Steckbrief