"China hat Fußball-Business entdeckt"

Benedikt Treuer
03. März 201613:45
Marco Pezzaiuoli trainert unter anderem die U19, U18 und U17 von Guangzhou Evergrandeimago
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Seit 2014 ist Marco Pezzaiuoli Direktor Sport beim chinesischen Serienmeister Guangzhou Evergrande. Im Interview spricht er über die Nachwuchsarbeit in Guangzhou, die Aspekte Technik, Ernährung und Kultur sowie Fußball als Pflicht-Schulfach in China. Außerdem erklärt er die plötzlichen Millionentransfers aus dem Reich der Mitte und das Vorhaben der Politik.

SPOX: Herr Pezzaiuoli, ich erwische Sie gerade in Deutschland. Ein glücklicher Zufall für meine Telefonrechnung?

Marco Pezzaiuoli: (lacht) Meine Familie lebt hier, leider war es nicht möglich, dass Sie mit nach China zieht. Meine Frau und ich haben sieben Kinder, einige von ihnen kommen schon ins Erwachsenenalter. Es hätte keinen Sinn gemacht, sie zeitweise aus ihrem gewohnten Umfeld zu zerren und in ein neues Land mitzunehmen. Von daher bin ich regelmäßig zuhause.

SPOX: Als Trainer arbeiteten Sie bereits in Korea bei den Suwon Bluewings, nach Ihrer Zeit in Hoffenheim zog es Sie zu Cerezo Osaka in Japan - und jetzt sind Sie bei Guangzhou Evergrande. Asien scheint es Ihnen angetan zu haben.

Pezzaiuoli: So würde ich es gar nicht sagen. Es ist vielmehr die Aufgabe an sich, die mich reizt. Es ist ein anspruchsvoller Job, aber es macht Spaß, dieses Projekt voranzutreiben.

SPOX: Als Sie im Oktober 2014 in Guangzhou begannen, hieß der Trainer der Profimannschaft Marcello Lippi. Welchen Anteil hatte er an Ihrer Unterschrift?

Pezzaiuoli: Einen großen. Ich hatte zuvor noch nicht die Möglichkeit, mit so einem großen Trainer zu arbeiten. Die Möglichkeit, bei einem Weltmeister Erfahrung zu sammeln, imponierte mir. Er war der ausschlaggebende Punkt für meine Entscheidung.

SPOX: Was berichtete er Ihnen vom Verein und dem Fußball in China?

Pazzaiuoli: Er erklärte mir ehrlich, dass die Strukturen im chinesischen Fußball noch am Anfang seien und sehr viel Arbeit investiert werden müsste - sowohl im sportlichen als auch im administrativen Bereich. Guangzhou Evergrande wollte Vorreiter in Sachen Entwicklung sein. Ich sollte zur Etablierung einer neuen Fußballkultur beitragen. Dabei kamen mir meine internationalen Wurzeln und meine Arbeit beim DFB zugute. Lippi und China verneigen sich vor der deutschen Fußballphilosophie.

SPOX: Sehen Sie sich also nicht nur als Verantwortlicher bei Guangzhou, sondern vielmehr als Botschafter für den gesamten chinesischen Fußball?

Pazzaiuoli: Das bin ich mit Sicherheit. Wenn man in Europa, ob im Nachwuchs- oder Profibereich schon 38 Jahre Erfahrung gesammelt hat, kann man in China hinsichtlich des modernen Fußballs viel vermitteln und bewirken.

SPOX: Sie sind Direktor Sport und für die Guangzhou-Akademie zuständig. Was gehört zu Ihren Hauptaufgaben?

Pezzaiuoli: Ich bin dafür verantwortlich, dass die Jugendspieler auf die höheren Leistungsbereiche vorbereitet werden und innerhalb des Vereins eine einheitliche Philosophie gelebt wird, von der U9 bis hin zu den Profis. Auch mit Luiz Felipe Scolari, der seit letztem Jahr Trainer der ersten Mannschaft ist, gibt es einen regen Austausch. Er will immer informiert sein: Trainerausbildung, Trainingsinhalte, Offensiv- und Defensiv-Schwerpunkte... Uns ist es wichtig, dass diese Dinge im Nachwuchs abgestimmt sind.

SPOX: Zusätzlich trainieren Sie die Topmannschaften der U19, U18 und U17 im Nachwuchsbereich von Evergrande und der Guangdong Provinz. Ist das nicht ein bisschen viel auf einmal?

Pezzaiuoli: Es ist sehr viel, ja. (lacht) Ich bin aber jemand, der gerne arbeitet und ich fühle mich bei meiner Tätigkeit immer noch sehr wohl. Außerdem habe ich jeweils internationale Co-, Torwart- und Fitnesstrainer an meiner Seite, sodass wir die Aufgaben als Team sehr gut umsetzen können.

SPOX: Die sportlichen Arbeitsbedingungen sind gigantisch. Um nur ein paar Zahlen zu nennen: 3.000 Kinder, 50 Fußballplätze, mehrere Gymnastikhallen und Fitnessstudios...

Pezzaiuoli: Der Verein hat hier seine eigene Fußballstadt, so klar muss man das sagen. Allein für meine U18- und U19-Mannschaften stehen mir acht Rasenplätze zur Verfügung.

SPOX: Das ist doch weit über europäischem Standard.

Pazzaiuoli: Die Plätze und die Ausmaße des Trainingszentrums sind wirklich toll, allerdings muss man auch sehen, dass wir in Sachen Technik noch Entwicklungspotenzial haben. Hightech-Geräte, wie man sie aus Deutschland kennt, haben wir nur für die Profis. In den Jugendzentren sind wir von Hoffenheim oder Leipzig noch weit entfernt.

SPOX: Wie kann man bei so einer Quantität an Nachwuchsspielern überhaupt noch Qualität hinsichtlich der Ausbildung gewährleisten?

Pezzaiuoli: An der Akademie arbeiten von der U9 bis hoch zur U16 unter anderem 22 spanische und 150 chinesische Trainer. Ich gebe ihnen die Theorie mit den jeweiligen Trainingsbausteinen und Möglichkeiten zur Förderung an die Hand. Alle Trainer erhalten jede Woche abgestimmte Trainingspläne für ihre Mannschaften. Es ist alles aufeinander aufgebaut.

SPOX: Bei mehr als 170 Trainern gestaltet sich die Kommunikation untereinander aber wohl nicht besonders einfach?

Pezzaiuoli: Alle Trainer haben ein bis zwei Dolmetscher an ihrer Seite, sodass es dahingehend keine Probleme gibt. Für die einzelnen U-Bereiche gibt es zudem noch eigene Zuständigkeiten, wie zum Beispiel Fitnesstrainer, die für ihre Abteilung hauptverantwortlich Leistungsdiagnostik und Trainingssteuerung koordinieren. Jeder weiß, was er zu tun hat. Außerdem spreche ich schon ein bisschen Chinesisch - leider noch nicht so sicher wie Koreanisch oder Japanisch, aber ich versuche es in meiner wenigen Freizeit immer weiter zu verbessern. Mit jedem Tag lerne ich die chinesische Sprache und Kultur ein bisschen besser kennen.

SPOX: Auch das Essen? Guangzhou ist Hauptstadt der Provinz Guangdong. In China sagt man über die Region: "In Südchina isst man alles, was schwimmt, fliegt oder vier Beine hat, außer U-Booten, Flugzeugen und Tischen." Können Sie das bestätigen?

Pezzaiuoli: (lacht) Absolut, hier gibt es vermutlich nichts, was man nicht isst. Auf dem Markt kann man Schlangen, Hunde, Schildkröten und noch unvorstellbarere Sachen kaufen.

SPOX: Wie groß ist der Faktor Ernährung aber gerade auch im Sportbereich? Achten Sie bei Ihren Jugendspielern darauf?

Pezzaiuoli: Wir versuchen das an der Akademie so gut wie möglich zu steuern. Allerdings muss man auch die kulturellen Gegebenheiten berücksichtigen. Leider sind die Speisen, die unsere Spieler zu sich nehmen, häufig zu fettig. Es gibt zwar immer Gemüse und diverse Arten von Kohlenhydraten und Proteinen, einige Gerichte werden aber frittiert serviert, was eine gesunde Ernährung natürlich schwierig macht. Die Esskultur im Kanton in Verbindung mit Leistungssport ist bis dato noch verbesserungswürdig.

SPOX: Kann man solche Gewohnheiten überhaupt dauerhaft verändern, ohne den Jugendlichen die Lust am Leistungssport zu nehmen?

Pezzaiuoli: Das ist tatsächlich die große Gefahr. Man muss die Kultur berücksichtigen und kann die Essgewohnheiten nicht komplett umkrempeln. Aber punktuelle Umstellungen würden schon weiterhelfen. Als ich mit meinen Teams in Europa war, haben die Spieler im Schnitt drei Kilo abgenommen. Die Speisen waren sportgerechter, da sie anders zubereitet wurden. Das hatte eine höhere Fitness und Spritzigkeit zur Folge, die Jungs fühlten sich insgesamt wohler.

SPOX: Haben sie dieses Bewusstsein nicht wieder mit nach China genommen?

Pezzaiuoli: Zu Beginn schon, sie versuchten, auch zuhause gesünder zu leben. Auf Dauer sind sie aber abhängig von der chinesischen Küche - und die ist nun mal viel fettiger als die europäische. Da helfen auch die Ratschläge unserer Physios und Ärzte nur bedingt etwas, man darf nicht vergessen, dass es noch Kinder sind.

SPOX: Das Scouting in China beginnt schon im Alter von sieben Jahren. Macht es wirklich Sinn, bereits solch junge Spieler zu beobachten und in die Vereine zu holen?

Pezzaiuoli: In China macht das Sinn, da hier generell wenig Fußball gespielt wird. Im Jugendbereich gibt es nicht wie in Deutschland Meisterschaften oder einen geregelten Spielbetrieb. Außerdem spart man durch das Scouting viel Geld.

SPOX: Wie meinen Sie das?

Pezzaiuoli: In China werden für die Kleinsten schon Ablösen fällig. Sobald die Kinder in einem Stadt- oder Provinzverband, Akademien oder Sportvereinen registriert sind, müssen wir Geld dafür zahlen, um sie zu uns zu holen. Ich spreche hier nicht von kleinen Summen, das ist viel Schotter. Deshalb ist es wichtig, Bewegungstalente schon in der Grundschule, auf der Straße oder bei Freizeitturnieren zu entdecken.

SPOX: Das heißt, der Wettbewerbsgedanke beginnt schon im frühen Kindesalter?

Pezzaiuoli: Die Mentalität, gewinnen zu wollen, ist bei den meisten Kindern schon von Geburt an da. Leider stelle ich fest, dass auf die Jugendtrainer ein Mordsdruck ausgeübt wird, siegen zu müssen. Selbst in der E-Jugend bekommt der Trainer einen auf den Deckel, wenn seine Mannschaft verliert. Das ist in China leider so. Alle wollen hier den schnellen Erfolg, dabei wäre vielmehr langfristiges Denken im Kindes- und Jugendbereich angebracht.

SPOX: Ist diese extreme sportliche Förderung überhaupt mit der Schullaufbahn vereinbar? Die hat in China bekanntlich einen ganz besonderen Stellenwert.

Pezzaiuoli: Das war jahrelang ein schwieriges Thema. Die größte Problematik ist das chinesische Schwarz-Weiß-Denken in "Schule oder Sport". Beides zusammen betrachteten die Chinesen als nicht kombinierbar. Eltern haben ihre Kinder oftmals nicht zum Fußball geschickt, weil sie befürchteten, dass die schulischen Leistungen darunter leiden würden.

SPOX: Und Sie betreiben sozusagen Aufklärung?

Pezzaiuoli: Wir versuchen, den Kindern eine Möglichkeit zu geben, die Bereiche zu vereinen. Bildung ist extrem wichtig, allerdings leiden viele Sportverbände unter den langen Schultagen, da die Jugendlichen am Abend kaum mehr Zeit für sportliche Aktivitäten haben. Bei Guangzhou Evergrande haben wir den Schultag so konzipiert, dass er sich nach dem Fußball richtet. Dort haben wir sogar einen Vorsprung gegenüber anderen Verbänden und Ländern. In Deutschland wurden die Leistungszentren und Schulen dezentralisiert.

SPOX: Dort waren Sie Teil der Entwicklung, durch die der DFB an anderen großen Nationen vorbeizog. Ist das auch das langfristige Ziel Chinas?

Pezzaiuoli: Auf jeden Fall ist das das Ziel. China will eine Fußball-Großmacht werden, aber dafür braucht es Zeit. Bei Chinas aktuellem Stand fehlen mindestens 30 Jahre akribische Arbeit. Vielleicht gibt es 2040 auch chinesische Topspieler in den europäischen Ligen, man kann sie aber nicht von heute auf morgen hervorbringen. Doch den Chinesen fehlt oftmals die Geduld. Der deutsche Fußball hat sich über viele Jahrzehnte entwickelt, um so zu werden, wie er heute ist. Der Fußball in China ist noch jung, der langfristige Erfolg steht und fällt mit der Nachwuchsförderung. Da hilft auch das schnelle große Geld nicht auf Anhieb.

SPOX: Umgerechnet etwa 390 Millionen Euro investierten die Vereine der Super League in der jüngsten Transferperiode in neue Spieler wie Jackson Martinez, Alex Teixeira, Ramires, Gervinho oder Ezequiel Lavezzi - das ist mehr als die Premier League ausgab und viel mehr als die Bundesliga. Den eigenen Nachwuchs bringt das nicht weiter, oder?

Pezzaiuoli: Erst einmal muss man es positiv finden, dass die Vereine in Qualität investieren. In den letzten Jahren holte man ja auch schon den einen oder anderen Star aus Europa, meistens waren das aber Spieler, die schon am Ende ihrer Karriere standen. Das Niveau der Super League steigt dadurch natürlich und davon profitieren auch die heimischen Spieler. Außerdem schafft man für den Nachwuchs neue Vorbilder.

SPOX: Durch diese Zugänge von externen Märkten steigen aber auch die Ablösesummen der nationalen Spieler.

Pezzaiuoli: Genau an diesem Punkt muss man die Entwicklung kritisch hinterfragen. Dass plötzlich zweistellige Millionenbeträge auch für mittelprächtige chinesische Spieler gezahlt werden, ist horrend. Die Dimensionen stimmen nicht mehr überein. Dieser Effekt strahlt bis in die untersten Bereiche aus. Für einen Jugendspieler muss man schon anderthalb oder zwei Millionen Euro zahlen. Das ist sicherlich nicht gut.

SPOX: Immerhin gibt es eine Begrenzung für ausländische Spieler.

Pezzaiuoli: Darüber bin ich auch wirklich froh. Pro Team dürfen nur drei ausländische Spieler auflaufen. Im Jugendbereich dürfen überhaupt keine ausländischen Talente spielen. Gäbe es diese Regelungen nicht, bin ich mir sicher, dass China in einen kompletten Kaufrausch verfallen würde. Und das wäre absolut kontraproduktiv. Der italienische Fußball hat gezeigt, welche Ausmaße das annehmen kann. Nach dem Bosman-Urteil spielten eine Zeit lang kaum noch italienische Spieler in der Serie A, Italien brachte auch keine Talente mehr hervor. Das ist ein abschreckendes Negativbeispiel.

SPOX: Woher kommt in China das plötzliche Interesse an der Sportart und demzufolge auch das Geld in den Vereinen?

Pezzaiuoli: Die chinesische Bevölkerung, die traditionell eine große Begeisterung für Einzelsportarten aufweist, hat den Fußball angenommen. Die Stadien werden immer voller, die Zuschauer sind wirklich fanatisch. Das kommt auch daher, dass man hier intensiv die Bundesliga und die Premier League verfolgt und die Atmosphäre aufsaugt. Das Fernsehen transportiert ganze Heldenbilder nach Asien: Jedes Kind kennt Ronaldo oder Messi, alle tragen deren Trikots. Auch Mario Götze ist hier schon eine Marke. Dank dieser Idole wollen die Jugendlichen selbst spielen. China ist geil auf Fußball geworden.

SPOX: Allen voran Staatspräsident Xi Jinping, wie es scheint.

Pezzaiuoli: Die Politik spielt natürlich eine große Rolle. Die unterstützt den chinesischen Fußball seit einiger Zeit im höchsten Maße. Das lockt immer mehr Geldgeber an, die merken, dass sich die investierten Mittel refinanzieren. Man hat den Fußball als Business entdeckt - was in Europa schon vor Jahrzehnten passiert ist. Jetzt will man die Liga auch bestmöglich vermarkten.

SPOX: Also sind die spektakulären Transfers vor allem PR für den chinesischen Fußball?

Pezzaiuoli: Das ist schon viel PR, ja. Werbung ist aktuell ganz wichtig. Die Frage ist aber, wie nachhaltig diese Ausgaben sein werden. Es kommt auf die Geduld der Investoren an. Wie lange sind sie bereit, Gelder für eine langsame Entwicklung zur Verfügung zu stellen?

SPOX: Andersherum ziehen auch europäische Top-Klubs ihren Nutzen aus dem chinesischen Fußball. Die spanischen Trainer bei Evergrande, die Sie angesprochen haben, sind alle von Real Madrid. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt...

Pezzaiuoli: Natürlich bedeutet diese Kooperation für Real Madrid vor allem Merchandising, die Talente und die Klubpräsenz vor Ort lassen sich natürlich gut vermarkten. Wir bei Guangzhou profitieren aber auch davon, dass einige Jugendspieler immer wieder nach Spanien geholt werden, dort mittrainieren und sich dank des europäischen Fußballs weiterentwickeln. Es ist also auch für die Spieler sehr lukrativ. Diese Kooperationen gibt es aber auch bei anderen Vereinen, im heutigen Fußballgeschäft ist das gang und gäbe.

SPOX: In China scheint man aber erst am Beginn einer Großoffensive zu stehen. Xi Jinping etablierte Ende 2014 Fußball sogar als Unterrichtsfach in den Schulen.

Pezzaiuoli: Als Fußballtrainer kann ich diesen Entschluss nur positiv bewerten. Dadurch steigert man noch einmal das Bewusstsein für die Sportart und zeigt, dass man das große Potenzial in China endlich nutzen möchte. Diese Unterstützung hat dem Fußballverband bisher gefehlt.

SPOX: Muss man aber nicht aufpassen, dass die Erhebung des Fußballs zum Nationalsport nicht zu künstlich daherkommt? Man zwingt den Chinesen ja etwas auf, was viele vorher nie so richtig beschäftigt hat.

Pezzaiuoli: Da gebe ich Ihnen auf jeden Fall recht. Trotzdem ist es ja nicht so, dass die Chinesen keinen Spaß am Fußball hätten.

SPOX: Es wirkt aber dennoch so, als wolle man auf Teufel komm raus ein Lebensgefühl erzeugen, das beispielsweise Kinder in Brasilien von klein auf mit dem Straßenfußball entwickeln.

Pezzaiuoli: Dieser Eindruck kann tatsächlich entstehen, allerdings steht sich China dahingehend selbst im Weg, denn die Infrastruktur gibt diesen Lebensstil gar nicht her. Es gibt kaum Bolzplätze beziehungsweise generell wenig Spielraum für Kinder. Und auf anderen öffentlichen Flächen dürfen Kinder nicht spielen. In Parkanlagen sind Bälle zum Beispiel verboten. SPOX

SPOX: Das passt überhaupt nicht mit dem Vorhaben der Regierung zusammen: Xi Jinping hat 2014 einen Zehn-Jahres-Plan ausgerufen. Seine Ziele: eine WM-Teilnahme, eine WM-Austragung und ein WM-Sieg. Wie soll das gehen, wenn man gar keinen stimmigen Unterbau hat?

Pezzaiuoli: Sie sehen selbst: Vieles könnte in der Theorie funktionieren, in der Praxis scheitert es aber vor allem an alten, traditionellen Denkweisen und dem Verlangen nach schnellem Erfolg. Natürlich unterstützt die Politik den Fußball. Jedoch glaubt man, dass Geld alleine reicht. Dabei sind es vor allem die Strukturen, die überarbeitet werden müssen - und das großflächig. Unter dem Strich bewerte ich es aber positiv, dass man erkannt hat, dass die Weltsportart Fußball in diesem Land unterbesetzt ist und sich etwas tun muss.

SPOX: Der chinesische Fußballverband zählt gerade einmal 8.000 aktive Spieler - bei einer Einwohnerzahl von 1,37 Milliarden Chinesen.

Pezzaiuoli: Dann können ja noch einige dazu kommen. (lacht) Es gibt auf jeden Fall großes Steigerungspotenzial.

SPOX: Die Verbände schaffen es aber nicht, eine nationale Jugendliga zu installieren.

Pezzaiuoli: In diesem Jahr finden alle zwei Monate Turniere statt. Die Belastungsverteilung ist gerade für die Jugendlichen denkbar schlecht. Man spielt Monate lang gar nicht, dann wiederum gibt es sieben Spiele in zehn Tagen. Wir müssen deshalb auch andere Wege überlegen, wie wir den Jugendmannschaften Spielpraxis ermöglichen und sie physisch und psychisch auf den Wettbewerb vorbereiten. Ich fliege mit meinen Teams oft nach Europa, um dort Turniere zu bestreiten. Ich sehe an ihrer sportlichen Entwicklung, wie sehr sie diese Reisen weiterbringen. Sie lernen ein ganz anderes Tempo kennen, Aggressivität und Robustheit sind in Deutschland viel intensiver. Meine Jungs können durch diese positiven Stress-Situationen große Schübe machen. Allein durch das Training in China wäre das nicht möglich.

SPOX: Sind Sie schon in einer Position, in der Sie an diesen Problemen etwas ausrichten können? Am Geld scheitert es in China ja offensichtlich nicht.

Pezzaiuoli: Nein, mein Einfluss außerhalb des Vereins ist leider noch zu gering. Das sind Dinge, die wirklich ganz oben entschieden werden. Man müsste irgendwie an die Entscheidungsträger, vielleicht sogar den Staatspräsidenten, herankommen, um wirklich etwas zu bewirken. Das ist aber fast unmöglich. Und dadurch, dass die einzelnen Provinz-Verbände schlecht oder sogar gar nicht miteinander kommunizieren, geht vieles auch nur sehr langsam voran. Jeder Verband denkt erst einmal an sich, es gibt kein ganzheitliches Konzept.

SPOX: Das klingt so, als müsse man den kompletten Fußballverband neu strukturieren.

Pezzaiuoli: Man kann wegen einer Sportart nicht die gesamte Kultur eines Landes auf den Kopf stellen, aber viele Dinge müssten sich grundlegend verbessern. Immerhin bemerkt man in den Köpfen der Zuschauer langsam ein Umdenken. Als ich hierherkam, freuten sich viele Fans über einen Pass mit dem Außenrist oder einen Hackentrick mehr als über ein Tor. Fußball wurde nicht so recht als Ergebnissport, sondern mehr als Zirkus verstanden. Mittlerweile freut man sich immerhin schon über beides.

SPOX: Ihr Vertrag in Guangzhou läuft erst einmal bis 2017. Sehen Sie dieses Projekt langfristig als Ihres an?

Pezzaiuoli: Das würde ich gerne. Allerdings trage ich als Familienvater auch eine große Verantwortung, sodass es mich vermutlich in nicht allzu ferner Zukunft wieder nach Deutschland ziehen wird. Meine Kinder brauchen auch ihren Vater. In der Zeit, in der ich noch hier bin, versuche ich weiter Grundlagen zu schaffen und meinem Nachfolger ein gutes Fundament zu übergeben.

Marco Pezzaiuoli im Steckbrief