Mario Gomez hat eine überragende Entwicklung durchgemacht, ist derzeit Deutschlands bester Angreifer und aufgrund der Verletzung von Miroslav Klose der große Hoffnungsträger für die beiden EM-Qualifikationsspiele gegen Österreich (Fr., 20.15 Uhr im LIVE-TICKER) und Aserbaidschan. Am Freitag kehrt er an den Ort zurück, der ihm das Leben im DFB-Dress äußerst unbehaglich gemacht hat.
Mario Gomez hatte sich bereits mit einer Veränderung arrangiert. Liverpool, nicht die schönste aller europäischen Städte, aber wenigstens Heimat der Reds.
Eine neue Herausforderung, der englische Fankult, das physisches Spiel, die Premier League. Aber die schönen Träume platzten im ersten Stock der Säbener Straße.
Es waren Uli Hoeneß' Intuition und der feste Glaube daran, dass es Mario Gomez doch schaffen kann beim FC Bayern. Aber wohl auch ein bisschen die Angst davor, einen dann vorerst gescheiterten 35-Millionen-Euro-Flop bei jeder noch so kleinen Gelegenheit vorgehalten zu bekommen.
Also musste Gomez bleiben. Oder er durfte. Was sich im Nachhinein als eine der wenigen gelungenen Personalentscheidungen der Bayern in der beinahe abgelaufenen Saison herausstellen sollte.
Das belegen nicht nur die Zahlen, die für einen Angreifer ganz hervorragend sind. 39 Pflichtspieltore in 45 Partien, 28 Treffer davon in der Bundesliga. Achtmal erzielte er das wichtige 1:0 für die Bayern, insgesamt fünf Dreierpacks kamen dazu. Macht jetzt 101 Tore in 182 Bundesligaspielen.
Größte Weiterentwicklung
Gomez ist in Bayerns Mannschaft auch derjenige, der sich in den letzten zwölf Monaten am fleißigsten weiterentwickelt hat. Als er vor gut zwei Jahren aus Stuttgart kam, kannte er sich in der Kunst des überfallartigen Konterspiels bestens aus.
Mit dem Dominanzfußball, den die Bayern unter Louis van Gaal im Laufe der Monate entwickelten, und mit der Tatsache, als einzige Spitze auf dem Platz zu stehen, hatte er aber erhebliche Probleme.
Beim VfB standen immer zwei Stürmer auf dem Platz und Gomez war in 99 Prozent der Fälle jener Angreifer, der den Weg in die Tiefe suchte. Dann ist er kaum mehr zu stoppen, weil er mit einer brachialen Wucht auf die gegnerische Abwehr zuläuft, die auch im internationalen Vergleich nur wenige haben.
Dazu kamen die arg selbstverliebten Ballschlepper Arjen Robben und Franck Ribery, die jeder Flanke in Gomez' Wirkungsbereich das Dribbling oder den Torabschluss vorzogen und ihm mit ihren Einzelaktionen den Raum stahlen.
Positiver Wandel
Letztlich war es aber vor allem auch Gomez selbst, der damals offenbar noch nicht so weit war. Wählte manchmal den falschen Laufweg, hatte oft technische Probleme und auch mental nicht die Stärke, die ihn heute über so manches Problemchen von früher schmunzeln lässt.
"Als junger Spieler hatte ich meine Emotionen nicht im Griff. Ich konnte mit dem Druck nicht umgehen. Und ich wollte zu viel und stand regelmäßig an der Stelle, wo es überhaupt nicht wichtig war", verriet er neulich der "Frankfurter Rundschau".
Jetzt ist das über große Strecken fast jeder Partie anders. "Dass er Tore machen kann, wussten wir schon immer", sagt sein Kapitän bei den Bayern und in der Nationalmannschaft, Philipp Lahm, "aber so wie er sich jetzt auch am Spiel beteiligt, sich anbietet und mitarbeitet, das ist schon sensationell."
Früher voller Selbstzweifel
Bundestrainer Joachim Löw findet, dass es Gomez "nicht mehr auf Teufel komm raus allen zeigen will".
Sein Übergangstrainer Andries Jonker formulierte kurz vor Ende der Saison fast schon eine Hommage: "Als Mario kam, war er nur ein Torjäger. Jetzt ist er ein Stürmer auf Spitzenniveau. Er sieht die Mitspieler, lässt den Ball prallen. Er hat eine Riesenentwicklung durchgemacht - und die ist noch lange nicht zu Ende!"
Gomez sagt über sich selbst, dass er mittlerweile gelassener geworden sei. Er weiß jetzt, dass jedes Spiel immer auch eine neue Chance bedeutet. Und nicht nur ein 90-minütiger Test ist: Was kann der Gomez? Trifft er heute wenigstens? Welche Fehler macht er diesmal wieder?
Last der Nationalmannschaft
Dann hat man ihn nach den Spielen durch die Gänge hasten sehen, mit nachdenklichem oder wahlweise zornigem Blick. Widerwillig hat er dann die Fragen über sich ergehen lassen. Aber er hat sich immer gestellt.
Besonders unangenehm waren die Auftritte bei der Nationalmannschaft für ihn. Vor zwei Monaten pfiffen ihn in Kaiserslautern die eigenen Fans aus. Mal wieder, wie so oft in den letzten Jahren. "Das hat weh getan, das war ein dreckiges Gefühl", erinnert er sich in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung".
"Normalerweise freut man sich auf die Nationalmannschaft, und es ist eine Ehre, für Deutschland zu spielen. Aber all diese Dinge waren für mich in den letzten zwei, drei Jahren nicht so wichtig. Ich habe nicht so sehr gedacht: 'Toll, jetzt habe ich ein Spiel bei der Nationalmannschaft.' Ich habe gedacht: 'Mist, ich muss die Fans überzeugen.'"
Nicht-Tor als Knackpunkt
Von den meisten Stürmern sind Heldentaten überliefert, besonders schöne oder wichtige Tore. Rahns Flachschuss, Seelers Hinterkopf, Müllers Drehschuss, Bierhoffs Stolpertor. Gomez war der Fremdgänger, seine denkwürdigste Einlage war das Nicht-Tor von Wien bei der EURO 2008 und keiner seiner unzähligen Treffer.
Wie er den Ball aus zwei Metern in die Luft löffelt und dann so perplex und fassungslos über das eben Geschehene ist, dass er selbst gegen den sechs Zentimeter kleineren György Garics anschließend das Kopfballduell auf der Torlinie verliert. Wobei es gar kein richtiger Zweikampf war, Gomez schaute im Prinzip nur zu, wie Garics den Ball von der Linie köpfte.
Das ist die Szene, an die sich die deutschen Fans erinnerten, sobald er auch nur eine ansatzweise torgefährliche Chance liegen ließ. Dann stöhnten sie auf und seufzten und am Ende pfiffen sie.
Gomez hat das das Selbstvertrauen geraubt, man konnte in einigen Spielen förmlich beobachten, wie er Zentimeter um Zentimeter schrumpfte und letztlich völlig verkrampfte.
"Bei mir stand im Nationalteam immer drüber: Der Blinde mit der Lachnummer von Wien, der den Ball aus einem Meter nicht reinkriegt!", sagte er der "SZ". Wäre ich WM-Torschützenkönig, könnte ich auch mal fünf schwächere Spiele machen - die Wahrnehmung der Fans wäre trotzdem positiv."
Gesunde Selbstkritik
Und so schleppte er immer viel zu viel Ballast mit sich herum: "Dagegen muss man erst mal ankämpfen und das habe ich lange einfach nicht geschafft. Ich habe lange damit gehadert und mich lange damit unter Druck gesetzt", hat er dann gesagt. Aber auch: "Wir bekommen viel Geld dafür, solche Situationen durchzustehen."
Dann sieht man seine Reife und Reflexion, auch die eigene Arbeit zu hinterfragen, was beileibe keine Selbstverständlichkeit ist bei vielen Profis.
Im Vorfeld der Partie am kommenden Freitag im Wiener Ernst-Happel-Stadion (20.15 Uhr im LIVE-Ticker) wird die Gomez-Episode von 2008 vermutlich wieder genauso oft hervorgekramt werden wie Cordoba. Diese angebliche Sternstunde des österreichischen Fußballs - die in Wirklichkeit aber ein fester Bestandteil und für viele auch der Ursprung alpenrepublikanischer Agonie ist.
Es gehört zur Folklore des Vergleichs zwischen Österreich und Deutschland offenbar zwingend dazu. Mario Gomez ist das völlig egal, wenn er jetzt an den Tatort zurückkehrt. Er ist aus dem Schatten herausgetreten.
"Ich habe bei den Bayern mit Glück doch noch den Sprung in die Mannschaft geschafft und dann das Vertrauen mit Toren und Leistung gerechtfertigt. Das kann auch der Weg in der Nationalmannschaft sein", sagt er. "Ich werde alles dafür tun, den Trainer zu überzeugen."
Mario Gomez im Steckbrief