Sportdirektor Matthias Sammer ist so etwas wie das moralische Gewissen im DFB. Im Interview spricht der 43-Jährige über den verloren gegangenen Erfolgshunger deutscher Mannschaften und merkt leicht negative Entwicklungen in den U-Nationalmannschaften an. Zudem gibt Sammer eine Einschätzung zu Jerome Boatengs Wechsel zum FC Bayern ab. Die Blockbildung in der deutschen Nationalmannschaft bewertet er sehr positiv.
SPOX: Herr Sammer, was erwarten Sie sich von der kommenden Bundesliga-Saison?
Matthias Sammer: Ich würde mir wünschen, dass sich noch mehr junge Spieler auf hohem Niveau in der Liga etablieren und erkennen lassen, dass die Nachwuchsförderung greift. An der Spitze erhoffe ich mir ein spannendes Rennen. Mit Bayer Leverkusen und Borussia Dortmund sehe ich starke Konkurrenten für den FC Bayern. Und ich wünsche mir mal wieder einen Titel in Europa - auf Klubebene, aber auch für die Nationalmannschaft bei der EM 2012.
SPOX: Einige Gruppierungen unter den Bayern-Fans haben Manuel Neuer jetzt eine Art Verhaltenskodex aufgedrückt, an den er sich zu halten habe. Eine ziemlich bizarre Konstellation, wenn Fans den Spielern sagen, was sie zu tun und zu lassen haben.
Sammer: Bizarr ist, dass offenbar jegliche Formen des Anstands vernachlässigt werden. Das gilt auch für die Berichterstattung. Die Art, wie so etwas eine Plattform gegeben wird, grenzt für mich an Heuchelei. Zu dem Thema will ich mich auch gar nicht weiter äußern, nur so viel: Es ist die Aufgabe von Bayern München, das zu disziplinieren - auch wenn es den einen oder anderen Zuschauer kosten könnte.
SPOX: Jerome Boateng spielt ab sofort für Bayern München. Boateng ist erst 23 Jahre alt, hat aber schon für vier Vereine gespielt. Muss er jetzt endlich ankommen?
Sammer: Er bringt sportlich und charakterlich Fähigkeiten mit, die sehr gut zum FC Bayern passen. Man sollte ihm nach seiner Verletzung allerdings ein bisschen Zeit geben. Auf der anderen Seite wird Jerome den FC Bayern trotz aller Professionalität als sehr familiären Verein kennenlernen. Ich wünsche mir, dass das zu einer persönlichen Kontinuität bei ihm führen wird. Ich glaube, dass beide Seiten von diesem Transfer profitieren werden. Deshalb begrüße ich den Wechsel sehr.
SPOX: Unter Umständen stehen bei den Bayern bald sechs, sieben oder acht deutsche Nationalspieler auf dem Platz. Das dürfte fast schon mehr sein als eine Blockbildung.
Sammer: Das ist eine fantastische Entwicklung. Die Bayern stehen für allerhöchste Ansprüche. Für die Nationalspieler wird es Normalität sein, um Titel zu spielen. Das ist ein extrem wichtiges Gut. Zumal auch der FC Bayern nicht in flachen Hierarchien denkt, sondern in klar strukturierten Aufgabenverteilungen. All das wird uns in der Nationalmannschaft richtig gut tun.
SPOX: Werder Bremen, der VfB Stuttgart, Schalke 04 oder der HSV - das sind Vereine, die in den letzten Jahren neben den gut situierten Klubs aus München, Wolfsburg und Leverkusen in der 'Gelddruckmaschine' Champions League gespielt haben. Derzeit sind das aber auch die Vereine, die sich teils enormen Sparzwängen konfrontiert sehen. Was ist da schief gelaufen?
Sammer: Wenn man nur eine Saison Champions League spielt, ist das natürlich sehr gefährlich. Die Einnahmen fließen dann einmalig, die Vertragslaufzeiten der Spieler betragen aber drei oder vier Jahre - und das meist zu erhöhten Konditionen. Werder Bremen ist da ein Sonderfall, weil sie ja dauerhaft Gast in der Königsklasse waren.
SPOX: Was ist dann das Problem?
Sammer: Ich sage das jetzt bewusst flapsig: Wir in Deutschland sind ganz exzellente Verkäufer geworden. Und die Wahrheit will niemand mehr hören. Da wird oft etwas verkauft, was der Realität nicht standhalten kann. Alles ist angeblich positiv. Kritische Themen werden erst gar nicht konstruktiv angegangen, weil es uns ja kurzfristige Probleme bringen könnte. Dass aber die Schwierigkeiten dann mittel- und langfristig viel größer werden, liegt doch auf der Hand.
SPOX: Beliebt machen Sie sich mit diesen Aussagen damit nicht.
Sammer: Was wir von unseren Jugendlichen verlangen, sollten wir als Erwachsene vorleben.
SPOX: Die U 17 hat in Mexiko ein sehr gutes Bild abgegeben. Am Ende hat es nicht für einen Titel gereicht. Was fehlte?
Sammer: Die Vize-Europameisterschaft und den dritten Platz bei der WM sollten wir als einen schönen Erfolg werten und unter der Kategorie 'gut' verbuchen. Das sollten wir auch nicht schlecht reden und ich freue mich, dass die Leute so viel Spaß mit der Mannschaft hatten. Aber wir müssen intern die Schwerpunkte neu ausrichten. Und ein Schwerpunkt ist die mentale Stärke.
SPOX: Dann heißt es gleich wieder: Ewiggestrig, veraltete Tugend.
Sammer: Das meine ich damit aber gar nicht. In unserer Gesellschaft stellt sich zu vieles als zu oberflächlich dar, und das fällt dann auch auf unsere Spieler zurück.
Interview, Teil 2: U-19-EM-Aus "eigentlich ein Witz"
SPOX: Wie meinen Sie das?
Sammer: Wenn der Jubel unserer Jungs in der Öffentlichkeit mehr Beachtung findet, als die Art und Weise, wie wir das Tor herausgespielt haben, ist das bedenklich. Unsere Spieler haben es dann zum Beispiel im Spiel gegen Mexiko nicht verstanden, ihren Fokus bei zwei Standardsituationen auf eine einfache Sache zu lenken: das eigene Tor zu verteidigen. Da kann sich keiner rausnehmen. Und was passiert? Beim Gegentor eine Minute vor dem Abpfiff - das Elfmeterschießen ist greifbar - kann es nicht sein, dass zwei Spieler, die für diesen Raum eingeteilt sind, sich gedanklich schon nach vorne orientieren.
SPOX: Die U 19 ist im Entscheidungsspiel für die EM-Teilnahme an der Türkei gescheitert.
Sammer: Eigentlich ein Witz - aber noch so ein Beispiel. Wir haben die Türken zeitweise an die Wand gespielt, haben einen Elfmeter verschossen, ein reguläres Tor erzielt und hatten sieben zu eins Großchancen. Und verlieren dann 0:1. Das ist jetzt nicht negativ gemeint: Gerade die Spieler mit Migrationshintergrund geben unserer Spielweise eine gewisse Leichtigkeit, die uns sehr gut tut, aber wir tun uns doch in den entscheidenden Spielsituationen oft schwer gegen Gegner auf Augenhöhe. Momentan klopfen uns zu viele auf die Schulter für unsere Spielweise. Früher haben sie uns auf die Schulter geklopft, weil wir Titel gewonnen haben. Wir müssen da einen guten Mittelweg finden.
SPOX: Wie sieht der aus?
Sammer: Es sind unter anderem drei Komponenten: Im athletischen Bereich benötigen wir weiterhin die nötige Ausdauer und Schnelligkeit. Im technisch taktischen Bereich müssen wir uns weiter verbessern. Aber wir brauchen vor allen Dingen wieder diese mentale Stärke, die bewirkt, dass man sich von unwesentlichen Dingen im Verlauf eines Turniers nicht ablenken lässt. Natürlich gepaart mit einer gewissen Lockerheit und Leichtigkeit. Das ist uns noch nicht stabil gelungen.
SPOX: Ein schwieriges Unterfangen bei 15-, 16- oder 17-Jährigen.
Sammer: Die U-Trainer beim DFB und in den Leistungszentren leisten da Schwerstarbeit - gerade unter den oberflächlichen Betrachtungsweisen, die wir in Deutschland haben. Unsere Jugendlichen sind ja täglich mit Verführungen und Ablenkungen aller Art konfrontiert.
SPOX: Spanien hat den Titel bei der U-21-EM geholt, die A-Nationalmannschaft und der FC Barcelona gewinnen seit einigen Jahren fast alles - mit einem Spiel, das von kleinen, wendigen Spielern geprägt wird. Der Trend ist erkennbar.
Sammer: Klein, schnell und beweglich sind individuelle Komponenten, dazu kommen noch außergewöhnliche läuferische und spielerische Fähigkeiten, die es aber zum Beispiel beim FC Barcelona auch früher schon gab. Das steht aber im völligen Widerspruch zu Spielern wie Gerard Pique, Carles Puyol oder Sergio Busquets. Auch hier gilt: Die Mischung macht's. Im spanischen Verband haben sie erkannt, dass sie immer nur gelobt wurden für ihr schönes Spiel, aber nichts gewannen. Dann haben sie etwas verändert: Das Sichtungssystem wurde umgestellt, plötzlich wurde die Komponente Siegermentalität wichtig. Eine bemerkenswerte 'neue' Tugend, wie ich finde.
SPOX: Können Sie beschreiben, wie sich die Technikausbildung im Jugendbereich in den letzten 10 bis 15 Jahren geändert hat?
Sammer: Zunächst darf man das Thema nicht losgelöst, sondern komplex betrachten. Einst wurde großen Wert auf Ballbehandlung gelegt, auf beidfüßige Ausbildung, trainiert an Prellwänden. Das gehört auch heute noch zur Basisausbildung, die ich nach wie vor für sehr wichtig erachte. Man muss aber auch alters- und entwicklungsgerecht eine neue Methodik aufbauen. Ein Aspekt unserer Prognoseleistung beim DFB lautet: Technik unter Zeitdruck. Wir beginnen heute deutlich früher mit einfachen Bewegungsformen und -mustern und mit einstudierten Abläufen, um diese dann wie ein Puzzlestück in Passformen und positionsspezifische Grundformen einzugliedern. Wir nähern uns hierbei komplexen Spielformen an.
SPOX: Was hat sich konkret verändert?
Sammer: Für diesen Bereich haben wir beim DFB jetzt einen holländischen Individualtrainer für die U-Mannschaften eingestellt.
SPOX: Der türkische Fußball wird derzeit durch einen Manipulationsskandal von offenbar enormem Ausmaß erschüttert. Das Krisenmanagement des Verbands agiert bisher aber eher halbherzig. Glauben Sie, dass die Ereignisse der letzten Wochen auch Einfluss nehmen auf mögliche 'Abwerbversuche' deutscher U-Nationalspieler mit türkischen Wurzeln?
Sammer: Der Vater von Samed Yesil (U-17-Nationalspieler, Anm. d. Red.) hat kürzlich über den türkischen Verband eine Aussage getätigt, die das vermuten lässt: viel versprochen, nahezu nichts gehalten. Und genau das wollen wir nicht tun. Wir wollen den Spielern in aller Deutlichkeit aufzeigen, wie schön - aber auch wie anstrengend und schwer - es ist, für Deutschland zu spielen. Wir werden die Spieler aber weder materiell noch ideell mit Versprechungen konfrontieren, die uns unglaubwürdig werden lassen. Akzeptieren sie unsere Richtlinien, sind sie bei uns herzlich willkommen.