Nachtweih: "Ich wollte in die beste Liga der Welt"

Haruka Gruber
04. Oktober 201016:39
Norbert Nachtweih (r.) bestritt insgesamt 325 Bundesliga-SpieleImago
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Fingierte Unfälle, Bespitzelung und sogar Mord: 20 Jahre nach der Wiedervereinigung spricht Norbert Nachtweih (53), ehemals Star von Eintracht Frankfurt und Bayern München, über die Stasi, seine abenteuerliche Flucht und das Leben zwischen Informanten.

SPOX: Sie haben sich gemeinsam mit Torwart Jürgen Pahl 1976 aus der DDR in die Bundesrepublik abgesetzt. 20 Jahre nach der Wiedervereinigung: Was denken Sie über Ihre Flucht?

Norbert Nachtweih: Dass ich einiges zu locker gesehen habe. Die eigentliche Flucht war im Grunde nur Zufall, aber wie die Stasi mein Leben daraufhin überwachte, habe ich mir damals nicht ansatzweise vorstellen können.

SPOX: Anders als etwa Lutz Eigendorf haben Sie in der Öffentlichkeit fast nie über die DDR gesprochen. Aus Angst?

Nachtweih: Wir wollten bewusst nicht politisieren und so gut es geht nicht die Aufmerksamkeit der Stasi auf uns lenken. Uns kam es schon damals sinnvoll vor, unter dem Radar zu bleiben und auf Provokationen zu verzichten. Lutz hat es genau andersherum gemacht, seine Geschichte an die Medien verkauft und alles ausgeplaudert, obwohl er Frau und Kind zuhause gelassen hat. Das war eine Provokation.

SPOX: 1983 starb Eigendorf bei einem mysteriösen Autounfall...

Nachtweih: ... der zu 99 Prozent von der Stasi fingiert war. Bei der Obduktion kam heraus, dass Lutz über zwei Promille im Blut hatte, und ich wusste, dass er gerne einen trank, daher schien mir ein selbstverschuldeter Unfall nicht unmöglich. Wäre nicht der ehemalige Olympia-Silbermedaillengewinner im Diskuswurf, Wolfgang Schmidt, gewesen, der bei seinem ersten Fluchtversuch aus der DDR geschnappt wurde und mich nur einige Tage vor Lutz' Tord gewarnt hatte, dass etwas passieren wird. Die Stasi hat Lutz umgebracht.

SPOX: Sie machten sich aber keine Sorgen?

Nachtweih: Als ich in den Westen kam, war ich 19 Jahre alt. Da hat man sich keine Gedanken darüber gemacht, welche Folgen das eigene Handeln hat und ob vielleicht die Eltern oder die Geschwister unter der Flucht zu leiden haben oder ob ich selbst in Gefahr bin. Erstmals kam ich nach Lutz' Unfall ins Grübeln und habe mich an einen Schreckmoment erinnert. Es war 1977 oder 1978, ich war mit dem Auto auf dem Rückweg von einem Spiel in Kaiserslautern, als ich in der Frankfurter Innenstadt plötzlich nicht mehr bremsen konnte. Die Bremsflüssigkeit war komplett weg und ich hatte Glück, dass ich nicht so schnell fuhr und die Handbremse ziehen konnte.

SPOX: Haben Sie nicht geahnt, dass Sie im Visier der Stasi waren?

Nachtweih: Erst in den 80er Jahren, als ich von Frankfurt zu den Bayern gewechselt war, kam zufällig heraus, dass ich seit Jahren ständig unter Beobachtung stand. Ein Stasi-Agent wurde enttarnt und in seinen Unterlagen stand auch mein Name. Ich selbst hatte von der Observierung jedoch nichts bemerkt.

SPOX: Sind Sie nach der Wende zur Gauck-Behörde gegangen, um sich die eigenen Akten anzusehen?

Nachtweih: Jürgen Pahl hat es gemacht und war erschüttert. Für ihn wurde ein 15 Zentimeter dicker Aktenordner angelegt, in denen alles stand. Telefonnummer, Autokennzeichen, der Name der Freundin, bevorzugte Restaurants - und was wohl am schlimmsten war: Der Name der Menschen aus dem Bekanntenkreis, die der Stasi etwas verraten haben. Im Grunde war es nicht so schlimm, weil wir nichts zu verbergen und die Informanten nur Belangloses weitergegeben hatten. Ich wollte mir aber die persönliche Enttäuschung sparen und nicht die Namen lesen, die über mich gesprochen haben. Deswegen zog ich für mich einen Schlussstrich und sah nicht in die Akten ein.

SPOX: Stehen Sie auch heute noch mit Pahl in Kontakt? Zuletzt war nur bekannt, dass er nach Paraguay ausgewandert ist, um dort als Obstbauer zu arbeiten.

Nachtweih: Natürlich, wir sind weiterhin Freunde. Er ist seit vier Monaten wieder zurück und will sich in Deutschland niederlassen.

SPOX: Waren Sie bereits vor der Flucht miteinander befreundet?

Nachtweih: Wir waren eine Gruppe von drei Spielern aus Halle, die in der U-21-Mannschaft der DDR standen. Jürgen, ich und Burkhard Pingel. Burkhard war eigentlich mein bester Freund, fast schon wie ein Bruder. Wir zwei haben alles miteinander unternommen. Es wurde auch in der Kabine mit anderen darüber getratscht, wie es wäre, in der Bundesliga zu spielen, aber weil man wusste, dass es unter den Mitspielern Informanten gab, taten wir so, als ob es nur Spinnereien sind.

Teil II: Wie verlief genau die Flucht ab? Warum war Jörg Berger ein Egoist?

SPOX: Wie genau verlief die Flucht?

Nachtweih: Mit der U 21 hatten wir eine Partie im türkischen Bursa. Abends lernten Jürgen und ich in der Hotel-Lobby einen sehr netten amerikanischen Reiseführer kennen, der uns sofort seine Hilfe anbot. Ich konnte nur russisch, Jürgen war hingegen immer der Intellektuelle von uns und hatte privat englisch gelernt, so dass wir uns mit ihm unterhalten konnten. Wir stellten fest, dass die Touristengruppe des Amerikaners genau wie wir am Folgetag in Istanbul sein würde. Daraufhin machten wir einen gemeinsamen Treffpunkt aus.

SPOX: Was passierte am besagten Folgetag?

Nachtweih: Vor dem Abflug durften sich die Spieler noch zwei Stunden auf dem riesigen Istanbuler Basar umschauen. Genau da war unsere Flucht geplant. Jürgen und ich hatten uns etwas abgesetzt und sind in eine der zahlreichen Teeläden geschlüpft, um dort irgendwie die Zeit herumzukriegen. Mir ging richtig die Düse. Als über zwei Stunden vorbei waren, sind wir per Taxi ins Hotel der Touristengruppe gefahren, wo wir den Amerikaner wiedertrafen, der ganz überrascht war, dass wir es tatsächlich durchgezogen haben.

SPOX: Was war mit Ihrem besten Freund Pingel?

Nachtweih: Er hat kurz davor doch noch gekniffen. Beim Gespräch am Vorabend war er leider nicht dabei, deswegen fehlte ihm das Vertrauen. Dabei war Burkhard immer der gewesen, der betont hat, dass er hundertprozentig fliehen würde. Als wir ihm auf dem Basar gesagt haben, dass alles in die Wege geleitet wurde und jetzt die Zeit gekommen sei, hat er aber doch zu große Angst bekommen.

SPOX: Wurde er für Ihre Flucht bestraft?

Nachtweih: Sie haben ihm böse mitgespielt. Er wurde niemals in die A-Nationalmanschaft der DDR berufen, er musste direkt zum Wehrdienst und ihm wurde mit Knast gedroht. Die Stasi wollte aus ihm alle Informationen über uns herauskitzeln, aber er hat alles abgestritten.

SPOX: Und wie ging es bei Ihnen weiter?

Nachtweih: Der Reiseleiter ist mit uns in die amerikanische Botschaft gegangen, dann kamen wir zum deutschen Konsulat, wo wir um politisches Asyl bitten mussten. Wir bleiben insgesamt zehn Tage in Istanbul, wurden in der Zeit in Kellergewölben verhört, haben immer wieder die Quartierte gewechselt, damit die osteuropäischen Geheimdienste nicht herausfanden, wo wir übernachteten, bis wir endlich nach Deutschland durften. Über München sind wir in Gießen im Überführungslager gelandet.

SPOX: Sie beide fanden mit Eintracht Frankfurt schnell einen neuen Verein. Wie kam der Kontakt zustande?

Nachtweih: Über den damaligen FDP-Spitzenpolitiker Wolfgang Mischnick, der früher Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte war und im Verwaltungsrat der Eintracht saß.

SPOX: Welche Rolle spielte der im Juni verstorbene Trainer Jörg Berger bei der Eingewöhnung in Westdeutschland?

Nachtweih: Gar keine. Das verdrehen viele, aber nicht Berger hat mir geholfen, es war genau umgekehrt. Er ist ja erst drei Jahre nach mir geflüchtet und stand plötzlich im Stadion neben mir. Ich habe mich ihm angenommen, ihn überall vorgestellt und ihn ein Viertel Jahr bei mir wohnen lassen. Was mich an ihm aber kolossal gestört hat: Als er später gut im Geschäft war, hat er mich nie zu einem Verein mitgenommen. Jürgen erging es ähnlich, er hatte einen richtigen Hals auf ihn.

SPOX: Jürgen Pahl, der mit Ihnen unter anderem den UEFA-Cup 1980 gewann, ging einen komplett anderen Weg und entsagte sich schon als Profi dem Kommerz.

Nachtweih: Der Jürgen ist ein Unikat. Ein intellektueller Eigenbrötler, der früher schon in seiner eigenen Welt lebte. Er war sehr frustriert darüber, wie es auch in der Bundesrepublik um die Gesellschaft bestellt war. Dass alles nur aufs Geld ausgerichtet sei und die Leute in einem menschenverachtenden Umfeld leben würden, wo kein Platz für Humanität sei. Es klang widersprüchlich, so etwas aus dem Mund eines gut verdienenden Fußballers zu hören, aber so ist der Jürgen. Er musste alles ausdiskutieren.

SPOX: Und Sie?

Nachtweih: Ich habe mich keinerlei Illusionen hingegeben. Für mich ging es vor allem darum, in der Bundesliga zu spielen, immerhin war es die damals beste Liga der Welt. Mich hat der sportliche Kick angetrieben, keine politische Weltanschauung.

SPOX: Dementsprechend hatten sie keine Probleme, 1989 von München ins schicke Cannes zu wechseln?

Nachtweih: Ich sage es ganz ehrlich: Beim Wechsel ging es einzig ums Geld. Bei den Bayern habe ich am Ende gemerkt, dass mich die Journalisten auf den Kieker hatten und dass ich meinen Libero-Posten wohl an Klaus Augenthaler verliere. Dann kam Cannes und hat mir richtig viel Geld geboten. Keine Ahnung, wo sie die Scheine her hatten, aber ich wurde immer cash bezahlt. Auch wenn wir einmal in den UEFA-Cup einzogen, war es sportlich nicht so wertvoll, dafür hatte ich zwei Jahre einen gut bezahlten Urlaub. Am Ende wurde es jedoch zu langweilig.

SPOX: Sie spielten in Cannes mit dem damals blutjungen Zinedine Zidane zusammen. Wie war er?

Nachtweih: Nicht so aufregend, wie man meinen könnte. Ich habe schon gesehen, dass er Talent mitbringt, aber dass aus ihm ein Weltstar wird, konnte man nicht ahnen. Er war immer müde, kam träge zum Training und hat den Mund nicht aufgekriegt. Das Einzige, was bereits damals offensichtlich war: sein Jähzorn. Er wurde bereits damals häufig gefoult und er ist regelmäßig durchgedreht und hat die Nerven verloren. (lacht)

SPOX: Ihnen selbst blieb eine große internationale Karriere verwehrt, weil Sie wegen der Einsätze mit der U 21 der DDR für die BRD gesperrt waren. Sind Sie verbittert?

Nachtweih: Der DFB hat sich nicht die nötige Mühe gegeben. Der Verband ist so mächtig, da wäre wahrscheinlich etwas gegangen, wenn man Druck ausgeübt hätte. Die Statuten waren eindeutig, aber die Spieler aus Ostdeutschland waren doch ein Sonderfall. Vermutlich wollte der DFB jedoch nicht die DDR herausfordern. Sehr schade, denn Franz Beckenbauer wollt mich immer in die Nationalmannschaft berufen.

Einmal Frankfurt und zurück: Norbert Nachtweih