Vor dem Kracher zwischen Borussia Dortmund und dem FC Bayern (18.30 Uhr im LIVETICKER) spricht Ottmar Hitzfeld im Interview mit SPOX und Goal über seine Erwartungen an den deutschen Klassiker, die Qualität des deutschen Fußballs in Corona-Zeiten, die Stärken von Erling Haaland und Hansi Flick sowie den Abschied von Mario Götze.
Außerdem äußert sich der ehemalige Meistertrainer von BVB und FCB über sein Burnout, Platzangst und die Gründe, dennoch 2007 nach München auf die Trainerbank zurückzukehren.
Herr Hitzfeld, die Bundesliga spielt wieder, allerdings ohne Zuschauer. Sind Geisterspiele ohne Stimmung für Sie "falscher Fußball" oder im Gegenteil "echter Fußball", weil er so ist wie früher auf dem Bolzplatz?
Ottmar Hitzfeld: Ich als Trainer sehe Fußball mit anderen Augen als ein Fan, der sich meistens von der Atmosphäre beeinflussen lässt und parteiisch ist. Ich freue mich vor allem, dass die ganze Welt auf Deutschland schaut und die Bundesliga Vorreiter für viele andere Ligen ist. Man muss den DFL-Verantwortlichen, vor allem Christian Seifert, ein großes Kompliment machen, dass sie das trotz einiger Widerstände geschafft haben. Das ist wichtig wegen der vielen Arbeitsplätze, die daran hängen, aber auch gesellschaftlich. Seit die Bundesliga wieder spielt, ist die Stimmung in ganz Deutschland besser geworden.
Wie bewerten Sie die fußballerischen Leistungen seit dem Restart?
Hitzfeld: Ich habe einen erstaunlich positiven Eindruck. Von außen betrachtet ist die Qualität besser geworden, weil es mehr Spielfluss und weniger Foulspiele gibt. Das macht es auch für die Schiedsrichter einfacher, weil weniger Emotionen von den Tribünen reingebracht werden. Davon profitiert der Fußball.
Wie groß ist andererseits der Nachteil für den BVB, dass das Duell gegen den FC Bayern im leeren Stadion ausgetragen wird?
Hitzfeld: Das ist sicherlich ein Vorteil für Bayern München. Man sieht ja generell in der Bundesliga, dass die Schiedsrichter nicht von der Stimmung beeinflusst werden und die Mannschaften profitieren, die qualitativ stärker besetzt sind. Gerade in einem Hexenkessel entscheidet oft die mentale Stärke über den Spielausgang. Das fällt jetzt komplett weg. Deshalb sind auch so genannte Trainingsweltmeister im Vorteil, weil sie nicht mehr so unter Druck stehen.
Erwarten Sie dann vom Niveau her ein Spitzenspiel, das den Erwartungen gerecht wird?
Hitzfeld: Ja. Beide Mannschaften haben jetzt schon zweimal gespielt und konnten sich dabei mit überzeugenden Leistungen Selbstbewusstsein holen. Deshalb rechne ich mit einem offenen Schlagabtausch, weil beide Teams ihre Stärken in der Offensive haben.
Gerade aus Sicht der ausländischen Medien ist es auch ein Duell zwischen Robert Lewandowski und Erling Haaland. Wie sehen Sie die beiden?
Hitzfeld: Ich glaube, dass Haaland so werden kann wie Lewandowski, aber noch ist er nicht so weit. Trotzdem war das natürlich ein Supertransfer von Dortmund im Winter, denn Haaland ist schon jetzt ein besonderer Spieler. Er ist für sein Alter unglaublich reif, hat großartige Qualitäten und ist eiskalt im Abschluss, weil er trotz seiner Körpergröße eine enorme Antrittsschnelligkeit besitzt.
Und Lewandowski? Knackt er den 40-Tore-Bundesligarekord von Gerd Müller?
Hitzfeld: Das traue ich ihm durchaus zu. Er hat die nötige Klasse dazu und bei Bayern überragende Mitspieler, die ihm bei diesem Ziel helfen. Die Zahlen sprechen ja eine eindeutige Sprache. Lewandowski hat als Teil der Bayern-Achse maßgeblichen Anteil am Erfolg.
Welche Spieler gehören noch dazu?
Hitzfeld: David Alaba hat mich als neuer Abwehrchef überzeugt, davor spielt Joshua Kimmich unauffällig, aber sehr effizient. Und natürlich muss man Thomas Müller nennen. Er ist wieder in einer Topverfassung und enorm wichtig für die Mannschaft, weil er Löcher reißt und entscheidende Tore macht.
Muss er doch wieder ein Thema für Jogi Löw werden?
Hitzfeld: Das möchte ich nicht beurteilen. Seine Leistung ist sicher aller Ehren wert, aber jeder Trainer hat seine Philosophie und seine Vorstellungen, auf welche Spieler er setzt. Das kann man nicht jedes Jahr wieder ändern.
Müller ist einer von mehreren Leistungsträgern, mit denen Bayern in den vergangenen Wochen verlängert hat, zuletzt auch mit Manuel Neuer. Wie gut ist die Mannschaft aufgestellt?
Hitzfeld: Es zeigt die Erfahrung bei Bayern München, dass die Verantwortlichen auch in diesen schwierigen Zeiten ruhig geblieben sind und die Weichen für die Zukunft gestellt haben. Vor allem Hasan Salihamidzic hat da eine hervorragende Arbeit gemacht. Das freut mich für ihn, weil er schon als Spieler ein leistungswilliger und charakterstarker Anführer war. So einen Leader braucht man auch in der Vereinsführung. Hasan hat sich in den Job als Sportchef förmlich hineingebissen und mit den Vertragsverlängerungen gezeigt, dass er zu Recht auf dieser Position ist.
Die vielleicht wichtigste Entscheidung war das Treuebekenntnis zu Hansi Flick. Hat es Sie überrascht, wie schnell er in die Rolle als Cheftrainer reingewachsen ist?
Hitzfeld: Ich schätze ihn sehr, weil er ein akribischer Arbeiter und ein sehr guter Taktiker ist sowie vor allem eine hervorragende Menschenführung hat. Im Hinspiel gegen Dortmund hat er Bayern mit dem 4:0-Heimsieg gleich wieder in die Spur gebracht. Das war für ihn enorm wichtig, um in der neuen Rolle Fuß zu fassen. Hansi Flick hat die Stimmung in der Mannschaft und im Verein gedreht. Dadurch besitzt er die nötige Rückendeckung, die du in München brauchst. Ich traue ihm zu, dass er eine Ära bei Bayern prägen kann, aber dazu muss man natürlich Titel gewinnen.
Als Co-Trainer der Nationalmannschaft hat Flick seinen größten Erfolg mit dem WM-Sieg 2014 gefeiert, dank des Siegtreffers im Endspiel von Mario Götze. Danach konnte Götze die Erwartungen aber weder bei Bayern noch in Dortmund erfüllen. Wo sehen Sie die Gründe?
Hitzfeld: Es ist für mich aus der Distanz äußerst schwierig zu beurteilen, warum er sich beim BVB nach seiner Rückkehr nicht mehr durchsetzen konnte. Eigentlich besitzt er von seiner spielerischen Klasse her die Qualität, um in jeder Mannschaft zu spielen. Er muss zu einem Verein wechseln, wo er wieder das Vertrauen und die nötige Spielpraxis bekommt.
Drücken Sie einer der beiden Mannschaften etwas mehr die Daumen?
Hitzfeld: Ich gehe ziemlich entspannt ins Spiel. Ich habe in Dortmund wie in München zwei sehr schöne Lebensabschnitte als Trainer gehabt. Die Zeit bei Bayern liegt noch nicht so lange zurück und ist mir daher etwas näher, aber auch dem BVB habe ich viel zu verdanken, weil er mir die Chance in der Bundesliga gegeben hat. Daher bin ich ziemlich neutral. Allerdings wäre es für die Spannung in der Bundesliga sicher besser, wenn Dortmund gewinnt. Falls dagegen Bayern gewinnt, wäre es eine Vorentscheidung im Kampf um die Meisterschaft.
Gibt es besondere Erinnerungen aus Ihrer Trainerzeit an die Spiele zwischen Bayern und Dortmund?
Hitzfeld: Ich kann mich noch gut an das letzte Duell erinnern, beim DFB-Pokalfinale 2008. Damals war der Druck schon sehr groß, weil wir mit Bayern das Double schaffen konnten. Deshalb war es natürlich ein toller Abschluss, weil ich wusste, dass ich nicht mehr als Vereinstrainer arbeiten wollte.
Ihre erste Meisterschaft in der Bundesliga haben Sie allerdings mit dem BVB gefeiert, genau vor 25 Jahren. Welchen Stellenwert hatte dieser Titel für Sie?
Hitzfeld: Es war die erste Meisterschaft nach 32 Jahren, ganz Dortmund und das gesamte Ruhrgebiet haben darauf gewartet. Aber es war eine der schwersten Spielzeiten, die ich als Trainer hatte. Die Erwartungshaltung war sehr hoch, doch wir hatten unglaublich viel Verletzungspech, unter anderem sind Chapuisat, Riedle und Poulsen lange ausgefallen. Das hat aber keinen interessiert, weil wir überzeugend Herbstmeister geworden waren und dann die Euphorie riesig war. Deshalb war die Freude, aber auch die Erleichterung enorm, als wir den Titel am letzten Spieltag gegen den HSV perfekt gemacht haben. Das war sicher einer der schönsten Momente meiner Karriere.
Sie haben im kürzlich erschienenen Buch "Mensch Trainer" offen über Ihren Burnout in der Saison 2003/04 gesprochen und auch über die daraus entstandene Platzangst. Wie hat sich das geäußert?
Hitzfeld: Wenn man im Stress ist und immer unter Druck steht, ist das ein schleichender Prozess, dass man sich mit der Zeit über Siege gar nicht mehr freuen kann. Wenn man als Trainer jung und im Vollbesitz seiner Kräfte ist, sind die Glücksgefühle bei jedem Erfolg groß. Ich war damals in meiner sechsten Saison bei Bayern, und sechs Jahre Bayern zu trainieren ist wie 20 Jahre in einem anderen Verein, weil es so intensiv ist. Das habe ich dann gespürt, als ich einmal im Auto saß und plötzlich das Fenster herunterfahren musste, weil ich mich eingeengt fühlte. Das kannte ich so nicht. Zum Glück hat mir dann die Behandlung bei Professor Holsboer geholfen, der damals Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie war und später auch Sebastian Deisler behandelt hat.
Warum sind Sie trotz dieser Erfahrungen 2007 auf die Bayern-Bank zurückgekehrt?
Hitzfeld: Das war für mich ein Experiment. Als mich Uli Hoeneß anrief im Februar, weil es mit Felix Magath nicht so gut gelaufen ist, habe ich spontan zugesagt, aber nur bis zum Ende der Saison. Das war für mich wichtig, dass ich mich nicht direkt für ein Jahr oder länger verpflichtet habe. Damit habe ich mich quasi selbst überlistet.
Wie kam es dann, dass Sie doch eine Saison drangehängt haben und bis 2008 geblieben sind?
Hitzfeld: Weil ich dann wieder Glücksgefühle hatte. Das kannte ich ja nicht mehr. Ich habe mich wieder bei der Arbeit gefreut und deshalb um ein Jahr verlängert. Allerdings habe ich schon nach einem halben Jahr gemerkt, dass es anstrengender wurde und hatte Respekt vor meinen früheren Erfahrungen. Ich wollte nicht nochmal in so eine Situation kommen und dann kam das Angebot als Schweizer Nationaltrainer gerade recht. Daher habe ich den Verantwortlichen bei Bayern sehr früh mitgeteilt, dass ich aufhöre. Und das Ende mit dem Gewinn von Meisterschaft und Pokal war natürlich ein Traum.
Sie sind im Januar 71 Jahre alt geworden, Jupp Heynckes hat mit 72 nochmal die Bayern übernommen. Auch Sie hatten immer wieder Angebote, unter anderem vom BVB ...
Hitzfeld: Natürlich gab es immer wieder Anfragen, aber als ich 2014 nach der WM aufgehört habe, war ich 65. Das war ein perfektes Ende und es war für mich auch immer ein Ziel, dann wie alle anderen in Rente zu gehen. Der Übergang ist mir sicher auch deshalb leichter gefallen, weil ich als Nationaltrainer nur noch 10 bis 15 Spiele im Jahr und nicht mehr 50 oder 60 hatte. So war das Loslassen einfacher.
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