In der Saison 2013/14 vertraute Gerardo Martino beim FC Barcelona kaum den Nachwuchstalenten aus der eigenen Jugend. Der neue Trainer Luis Enrique dagegen verteilt großzügig Spielminuten an Munir El Haddadi, Sergi Samper und Sandro Ramirez - und das mit gutem Grund.
Präsident Josep Maria Bartomeu spricht gerne über die Jugendarbeit beim FC Barcelona. "Wir kämpfen jeden Tag weiter dafür, das beste Jugendsystem der Welt zu haben", gab er bei der alljährlichen Präsentation der 20 klubeigenen Jugendmannschaften zu Protokoll. "Unser Konzept bleibt immer das Gleiche. Die Besetzung wird sich ändern, aber die Idee bleibt bestehen", fasste er die Trainingsarbeit in Katalonien zusammen.
Denn Barca geht einen anderen Weg. In der Altersklasse "Prebenjami" beginnt der Weg vom Sechsjährigen zu den Profis, während andere Klubs oft erst eigene Jugenden ab der U 12 oder U 13 anbieten. Die Kinder sollen von Beginn an die Förderung erhalten, die man sich wünscht - sportlich wie persönlich. Das Prinzip geht auf: Derzeit spielen 151 Spieler in ersten Ligen weltweit, die aus La Masia stammen.
Guardiola setzt neue Maßstäbe
15 von insgesamt 26 Spielern in der ersten Mannschaft entstammen momentan der eigenen Jugend, der Cantera wie die Nachwuchszentren in Spanien genannt werden. Sie alle haben es über mehr oder weniger Umwege aus La Masia in eine Mannschaft geschafft, die in jedem Jahr um den Gewinn der Champions League mitspielen möchte. Eine Tatsache, die natürlich gerne betont und bisweilen auch ausgeschlachtet wird.
Dass dies jedoch mit gut 57 Prozent die schwächste Quote seit Jahren ist, blendet man aus. Denn unter Luis Enrique stehen zwar so wenige Spieler aus der eigenen Jugend im Kader wie schon lange nicht mehr, erhalten aber auch so viele Minuten wie schon lange nicht mehr.
Während Pep Guardiola alte Werte nach seiner Amtsaufnahme 2008 erst wieder aufleben ließ und in seiner ersten Saison gleich zahlreiche Spieler aus der zweiten Mannschaft installierte, ließen es seine Nachfolger etwas ruhiger angehen. Verteilte Guardiola in seinen vier Jahren 4866 Spielminuten an Spieler ohne Vertrag für die erste Mannschaft, waren es bei Nachfolger Tito Vilanova immerhin noch 565 Minuten in einer Saison.
Martino enttäuscht Fans
Gerardo Martino, inzwischen Cheftrainer der argentinischen Nationalmannschaft, schien komplett über die Jugendarbeit hinwegzusehen. Eine Tatsache, die bei Fans und Verantwortlichen mehr als einmal zur Debatte stand. Prüfte er in den ersten Testspielen noch ausführlich junge Spieler wie Adama Traore oder Jean-Marie Dongou, waren es am Ende einer kompletten Saison nur magere 54 Minuten für die beiden Stürmer und Verteidiger Patric.
Zahlen, die undenkbar wirken unter Enrique. Der Trainer machte schnell klar, vollstes Vertrauen in jeden Spieler zu haben und nicht nach Namen zu urteilen. "Jordi Masip" war seine Antwort auf die Frage eines Journalisten, ob er auf Marc-Andre ter Stegen oder Claudio Bravo setzen würde - einfach, weil er wisse, woran er sei. Er habe weder den Chilenen, noch den Deutschen schon trainieren sehen.
Einsatz vor Namen
Trainingsarbeit geht vor beim 44-Jährigen. "Es reicht nicht mehr aus, nur Qualität und Talent zu besitzen. Die läuferische Leistung muss auch stimmen", machte Dani Alves nach den ersten Einheiten klar, was Enrique dem Team abverlangt: "Wir müssen hart arbeiten und viele Opfer bringen, um erfolgreich zu sein." Dann vertraut er - im Gegensatz zu Martino - auch den ganz jungen Spielern im Kader: Schon jetzt, nach neun gespielten Spielen, sind es fast 700 Spielminuten, die sich Sandro Ramirez, Munir El Haddadi und Sergi Samper teilen.
Besonders schnell von sich reden machte Munir. Der Stürmer hatte in der vergangenen Saison erst langsam begonnen Fuß in der zweiten Mannschaft zu fassen und wurde so von Enrique mehr oder weniger direkt aus der A-Jugend übernommen. Dass er dort in zehn Spielen der UEFA Youth League elf Tore erzielte und Barcelona fast im Alleingang zum Titel schoss, sollte Warnung genug gewesen sein an die nationale Konkurrenz.
El Haddadi statt Pedro
Dennoch dürfte kaum jemand mit der aktuellen Entwicklung gerechnet haben. Angesichts der Neymar-Verletzung startete Munir an der Seite von Lionel Messi und Rafinha als drittjüngster Debütant in der Geschichte Barcelonas. Direkt nach Bojan Krkic und eben jenem Messi, als dessen Nachfolger ihn schon bald einige Medien ausgemacht hatten. Nur wenige Tage später folgten die ersten Minuten mit der spanischen Nationalmannschaft - ehe er sich noch für Vaterland Marokko entscheiden konnte.
Enrique gefällt besonders die direkte Art, mit der der 19-Jährige spielt. Im Gegensatz zu Martino setzt der Spanier auf eine sehr enge Dreieroffensive, die Breite wird über die Außenverteidiger hergestellt. Alle nominellen Stürmer agieren näher am Tor, was Munir merklich besser zu Gesicht steht, als Konkurrent Pedro.
Seite 1: Vollstes Vertrauen unter Enrique
Seite 2: Der neue Busquets und der Alleskönner
Dieser scheint ohnehin im internen Stürmerranking Spiel für Spiel weiter zurückzufallen. Aus "Pedrito", den Guardiola einst in der zweiten Mannschaft sogar im Sturmzentrum auflaufen ließ, der mit einem exzellenten Auge, beidfüßigem, trockenem Abschluss und unermüdlicher Arbeit im Gegenpressing ist Pedro geworden. Martino hat den Nationalspieler in eine unterstützende Rolle gezwängt, aus der er sich noch nicht befreit hat.
Bis dahin könnte Sandro Ramirez zum neuen Pedrito werden. Dem 19-Jährigen fällt derzeit die Rolle als Joker zu. Erst ein einziges Spiel verpasste Sandro, als er gegen Elche 90 Minuten von der Bank aus zusehen musste. Danach durfte er das zeigen, was Enrique dazu gebracht hat, einem Spieler, der selbst in der Reserve nur zum erweiterten Stamm gehörte, eine Chance zu geben.
Sandro kein typischer Barca-Spieler
Er ist kein typischer Barca-Spieler, niemand, der sich in jede Kombination einbringen möchte und jeden Ball fordert, sondern ein Stürmer, der sich auch mal darauf beschränken kann, einfach richtig zu stehen. Sandro ist viel unterwegs, sammelt aber vergleichsweise wenige Kontakte.
Lediglich 14 Ballaktionen und einen Schuss aufs Tor brauchte er, um den entscheidenden Treffer gegen Villarreal zu erzielen. Enrique hat es ohne viel Aufsehen geschafft, die Mannschaft ein wenig an den Spielertyp Luis Suarez zu gewöhnen, wenn auch Sandro noch weit vom eigentlichen Niveau des Uruguayers entfernt ist.
Suarez stets im Hinterkopf
Dennoch dürfen sich Sandro und Munir wohl auch nach der abgelaufenen Sperre von Suarez noch auf Einsätze freuen. Schon in der Vorbereitung machte der Coach klar: "Die Youngster verdienen sich ihre Chancen im Training, alles was sie mir dort geben, gebe ich ihnen in Spielminuten zurück. Die Basis unseres Teams ist der gesunde Wettkampf."
Im Laufe der Saison fanden sich ein ums andere Mal gestandene Spieler auf der Tribüne wieder. Gerard Pique musste Marc Bartra Platz machen, Dani Alves Martin Montoya. Xavi Hernandez' Einsätze sind ohnehin schon auf ein Minimum beschränkt, bisher wirkten nur Lionel Messi und Ivan Rakitic unantastbar. Selbst der sonst nie fehlende Sergio Busquets hat in dieser Saison schon seine Pausen erhalten.
Der neue Busquets
Wirklich gefehlt hat er nicht. Denn Enrique hat die vielleicht beste Kopie des für die stete Balance zuständigen Mittelfeldspielers in der Hinterhand. Sergi Samper heißt die perfekte Imitation von Busquets und ist schlanke 19 Jahre alt. Exakt 13 Jahre nach seinem Wechsel in die U 7 des FC Barcelona stand Samper gegen APOEL Nikosia über die volle Spielzeit auf dem Platz. Als erster Spieler bei den Profis, der jede einzelne Mannschaft in La Masia durchlief, ließ er sein großes Vorbild nicht eine Sekunde lang vermissen.
Passsicher, mit herausragender Antizipation ausgestattet und ebenso schnell in der Ballweiterverarbeitung gilt Samper in Barcelona als das vielleicht größte Mittelfeldtalent der letzten Jahre. Schon nach dem Abgang von Thiago hieß es schnell von Ex-Präsident Sandro Rosell: "Wir haben noch Rafinha und Samper." Nach dem Spiel in der Champions League sagte Samper mit Tränen in den Augen in die Kameras: "Diesen Tag werde ich nie vergessen. Xavi hat mir Ratschläge gegeben. Das war ein echter Genuss."
"Spielt immer zu mir"
An der Rolle als "neuer Busquets" ist er selbst schuld, trug er doch ebenso die Nummer 16 wie sein Idol. B-Trainer Eusebio erzählte "El Pais": "Er sagte den Verteidigern: Wenn ihr Probleme habt, das Spiel aufzubauen, dann spielt immer zu mir. Selbst wenn ich gedeckt bin, macht euch keine Gedanken."
Auch wenn er derzeit bei fast jeder Einheit mit der ersten Mannschaft trainiert, soll er doch vorerst der zweiten Mannschaft in der Liga Adelante helfen. Dort prophezeite man nach den ersten Spieltagen bereits die Meisterschaft, ehe das Team von Eusebio etwas aus der Spur fiel. Das bisher einzige Spiel ohne Samper wurde sang- und klanglos gegen Osasuna verloren.
Alleskönner Grimaldo steht bereit
Die Jugendarbeit ist noch lange nicht ausgeschöpft für Enrique. Neben den ohnehin schon fest im Kader verankerten Spielern wie Sergi Roberto, Montoya oder Rafinha und den drei Neuzugängen stehen in der zweiten Mannschaft zahlreiche Spieler, die darauf brennen, eine Chance zu erhalten.
Sei es Alen Halilovic, den sich Barca eine ganze Stange Geld kosten ließ oder die physisch starken Traore und Dongou, die bereits unter Martino erste Profiluft schnuppern durften. Große Chancen werden im Moment jedoch Alejandro Grimaldo zugerechnet. Der Linksverteidiger fehlte in der vergangenen Saison lange aufgrund eines doppelten Kreuzbandrisses, hat sich jedoch eindrucksvoll zurückgemeldet.
Dabei ist er nicht nur eine Rotations-Alternative für den formschwachen Jordi Alba, er überzeugte in den letzten Spielen der Reserve unter anderem auch als Rechtsverteidiger, zentraler Mittelfeldspieler und sogar als Flügelstürmer im klassischen 4-3-3. Wann es so weit sein wird, wollte Enrique noch nicht verraten. Im Training durfte er jedoch zuletzt immer öfter ran. Munir, Sandro und Samper kennen den Weg.