Ground-Hopping gilt nicht unbedingt als besonders exkusives Hobby. Aber die Leidenschaft, die alle Fans des Hoppings verbindet, ist einzigartig. In Sachen zeitlichem und finanziellem Aufwand gibt es nichts Vergleichbares und es ist nicht verwunderlich, dass man die Legenden dieses verrückten Zeitvertreibs im Mutterland des Fußballs findet. SPOX hat zwei ganz besondere Fans getroffen.
Die Menge tobte. "Schmeiß' den Penner runter!" oder "Schluss jetzt mit dem Zirkus!" waren noch die harmlosesten Ausrufe. An einem kühlen Samstagnachmittag im März 2010 waren die rund 200 mitgereisten Fans des FC Woking, die sich unter die kleine Stehtribüne des Stadions Wheatsheaf Park in Staines bei London verzogen hatten, kaum noch zu halten. Britische Schimpfwörter ohne gallische Übersetzung. "Wie kann man bei Staines Town verlieren?", brüllte einer, "Was geht hier eigentlich ab?", ein anderer.
Gute Frage. Viel drängender schien an diesem Nachmittag die Überlegung, wie man sich - während in der englischen Premier League mit dem FC Chelsea, Tottenham Hotspur und West Ham United drei Londoner Topvereine beinahe zeitgleich im Einsatz sind - überhaupt in die Vorstadtidylle von Staines verirren kann? Und vor allem, was machen diese beiden älteren Herren, die lässig an der Bande lehnen, inmitten des aufgebrachten Mobs?
Die beiden Männer, die keine Fan-Utensilien bei sich tragen, gehören auf den Plätzen der unteren Ligen in Großbritannien zum Inventar. Es sind die Groundhopper Graeme Clarke (54) und sein Freund Harvey Harris (65). Besondere Kennzeichen: Verrückt nach Fußball. Fast fünf Stunden Zugfahrt von ihrer Heimat Yorkshire nach London können sie nicht davon abhalten, sich Amateurspiele wie die Partie zwischen Staines Town ("The Massive") und Woking FC (3:0) anzusehen.
Karfreitag im Mauseloch
Diese mehr als ungewöhnliche Form der Wochenendgestaltung gehört bei dem Zollbeamten Graeme, einem Fan des FC Middlesbrough, und dem pensionierten Polizisten Harvey zum Alltag. Er fährt seit 1955, Graeme seit 1964 zu allen möglichen und unmöglichen Spielen in England und anderswo. Der Blick auf den Spielplan des "Easter Hop", des Groundhopper-Ausflugs zu Ostern, zeigt: Diese Fußball-Maniacs meinen es ernst. Von Gründonnerstag bis Ostersamstag 2010 standen gleich sieben Spiele an.
Der Ausflug führte in die siebtklassige South West Peninsula League, in die malerischen englischen Grafschaften Cornwall und Devon. Mit zeitlosen Klassikern wie Falmouth Town gegen St. Blazey. Am Karfreitag wählte man die romantische Strecke. Es ging ins Küstenstädtchen Mousehole zum Spiel gegen Porthleven, ehe man abends bei der Partie Penzance gegen Torpoint Athletic erwartet wird.
Die Faszination, sich über Jahrzehnte bei jedem Wetter auf den Amateurplätzen der britischen Inseln herumzutreiben und Spiele zu besuchen, deren Ergebnisse der Durchschnittsfan nicht einmal bei der Zeitungslektüre zur Kenntnis nimmt, liegt für die Haudegen aus Yorkshire in der Sammelleidenschaft. "Es ist, als würde man Drogen nehmen", erklärt Graeme, "so wie andere Briefmarken sammeln, sind wir auf der Jagd nach Grounds. Je mehr Stadien wir besuchen, desto besser fühlen wir uns. Es ist einfach das Sammelfieber, du musst raus, auf irgendeinen Ground gehen."
Eine bizarre Clique
Es sind verwegene Typen, die sich da in der Non League treffen. Zwar hat es "Sunderland-Willy" nicht bis nach Staines geschafft, aber dafür wartet am Bahnhof der etwas untersetzte Malcolm. Er trägt das Wappen seines Lieblingsklubs Blyth Spartans AFC, eines stolzen Vertreters aus der sechstklassigen Conference North, im Oberarm.
"Ich quäle mich schon die gesamte Saison durch diese Liga und habe immer noch längst nicht alle Grounds geschafft", flucht er. Malcolm hält Grame Clarke zunächst für dessen kongenialen Partner.
Sind Sie John Dawson?" - "Nein", entgegnet Graeme mit schelmischem Grinsen, "er ist heute in Yorkshire unterwegs, ist zu alt geworden für den Rummel hier unten in London." Stattdessen, so berichtet Graeme, würde sich Dawson in der zwölftklassigen West Yorkshire League das Duell zwischen Robin Hood und dem Old Centralians AFC anschauen.
Mit dem Moped unterwegs
John Dawson - die Altherrenriege aus Yorkshire wäre nicht komplett ohne den liebenswert-schrulligen Spaßvogel aus Hartlepool. Im August 1941 geboren, gilt Dawson als eine Legende unter den britischen Groundhoppern. Seit 1959 durchstreift der mittlerweile ergraute Mann mit den buschigen Koteletten in Sachen Fußball das Land - fast immer mit dem Moped. Seine Honda 50 trägt ihn zuverlässig zu jedem auch noch so entlegenen Platz in den unteren Ligen.
Seit er im Jahr 2000 seinen Reisepass nicht mehr verlängern ließ ("Das interessiert mich nicht"), ist sein Aktionsradius auf die britischen Inseln beschränkt. "Schluss mit Europa", lautet sein lakonischer Kommentar dazu. Aber auch ein Herzinfarkt hat Dawson gezwungen, deutlich kürzer zu treten. "Mittlerweile", erklärt er, "komme ich nur noch auf etwa 100 Spiele pro Saison." In seinen legendären Notizbüchern finden sich die ersten Einträge aus dem Jahr 1959. "Exeter Possibles gegen Probables" ist sein erstes Spiel. "Das hieß damals immer so", erläutert John Dawson, "wenn man sich bei einem Freundschaftsspiel nicht von vornherein klar war, welche Teams genau antreten werden."
Groundhopper als Medienstar
In der Saison 1977/78 sah Dawson insgesamt 240 Spiele in den englischen Profiligen - ein bis heute gültiger Rekord. "Zu diesem Zeitpunkt", wirft er ein, "habe ich aber noch keine Amateurspiele besucht." Die Non League steht erst ab 1988/89 auf seinem Spielplan: 44 Begegnungen waren es im ersten Jahr, 52 im zweiten. Schon in den späten Sechzigerjahren wurde der Fußballsüchtige Dawson vom Fernsehen entdeckt: 1969 entstand die erste von insgesamt drei TV-Reportagen über den Hardcore-Fan.
Die Zeitungsberichte über sich und sein Hobby sammelt Dawson seit vielen Jahren in einer Schachtel. Seine Reiselust brachte ihm 1982 den "Daftest Fan Award" der Zeitung Sunday Post ein, den Preis für die bekloppteste Fußballreise. 500 Kilometer einfache Fahrt nach Exeter im englischen Südwesten konnten die Jury überzeugen.
Bereits 1965 hat Dawson die Schallmauer von 100 Spielen pro Saison geknackt. Drei Jahre später hatte er mit den Stadien in den englischen Profiligen durch. Mehr noch: 1992/93 stellte John mit 277 besuchten Spielen (davon 185 in der Amateurliga) einen ebenfalls immer noch gültigen Rekord für England und Irland auf.
Fußballhistorisch stuft John Dawson Englands Erfolg im WM-Finale 1966 gegen Deutschland ("Dieses Spiel war wirklich nicht schlecht") und das Europacupfinale der Meister 1968 mit Manchester United und Benfica Lissabon (4:1 n. V.) - ebenfalls im Londoner Wembleystadion - als die bedeutsamsten Partien seines bewegten Fan-Lebens ein.
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Herzinfarkt zur rechten Zeit
Das Jahr 1982 markiert einen Wendepunkt in der unglaublichen Fankarriere des John Dawson. "Damals haben sie die Nachtzüge abgeschafft", erklärt er, "damit war es nicht mehr möglich, ständig die großen Distanzen zwischen den Spielstätten der Profiligen zurückzulegen. Das war schlecht, denn die Sitzabteile der Nachtzüge von British Rail eigneten sich hervorragend zum Schlafen."
Der ehemalige Fabrikarbeiter Dawson wechselte 1979 zur Post. Ein Job, der für den Fußballsüchtigen wie gemalt ist: Fünf bis sechs Mal pro Woche arbeitete er von fünf Uhr morgens bis 12 Uhr mittags, ehe er sich auf sein Moped schwang und zum nächsten Spiel aufbrach. "Die Bypass-Operation", sagt John trocken, "war das Beste, was mir passieren konnte. Die Post hatte nämlich gerade die zweimalige Briefauslieferung abgeschafft, da hätte ich sehr ungünstige Arbeitszeiten bekommen."
Keinen Bock auf Premier League
In den britischen Top-Ligen ist die Luft für die Fußballverrückten aus Yorkshire mit der Zeit immer dünner geworden. Sie haben fast alle großen Stadien gesehen, sich bei Zeiten vom Glanz der englischen Eliteliga verabschiedet.
Auch gedanklich. "Ich hasse die Premier League und alles, was damit zu tun hat", sagt Harvey Harris, während auf der Großbildleinwand im Klubheim von Staines Town die Partie der Tottenham Hotspurs gegen die Blackburn Rovers zu sehen ist, "allein die Eintrittspreise sind einfach nur verrückt." John Dawson sieht es ähnlich: "Auf den kleinen Non-League-Grounds gefällt es mir heute viel besser, in der Premier League ist das Essen teurer und schlechter".
Auf der Bahre ins Stadion
Wenn es schon Eliteliga sein soll, dann wenigstens für lau. Wie vor ein paar Jahren in Tottenham. "Ich war mit meinem Sohn ohne Tickets an der White Hart Lane", verrät Harvey Harris mit diebischem Grinsen, "und tat so, als hätte ich mich auf dem Weg zu den Drehkreuzen bei einem Sturz am Bein verletzt. Man brachte eine Tragbahre und als ich im Sanitätsraum fertig war, durfte ich zur Entschädigung mit meinem Sohn zusammen das Spiel der Spurs im Innenraum des Stadions anschauen." Irgendwie clever.
Ganz andere Verhältnisse kennt Graeme Clarke von einem Ausflug zum Amateurklub Stanley United in Yorkshire: "Dort mussten sich die Spieler in einem privaten Wohnzimmer umziehen." In East Stirlingshire in Schottland, so weiß Clareke, wurde sogar eine Pförtlerloge zur Kabine unfunktioniert.
Bei den Spielbesuchen gibt es für die Groundhopper - mehrere hundert sind in Großbritannien organisiert - klare Regeln. Dazu gehört das "Circumnavigating", der Rundgang um den Platz. "Ein Ritual", erklärt Graeme Clarke, "wir versuchen, jeden Ground, den wir besuchen, auch einmal komplett zu umwandern. In den Amateurligen geht das natürlich besser als in der Premier League." Und der Bovril darf nicht fehlen. Dieses außerhalb Großbritanniens nur wenig bekannte Getränk, das auf Basis eines Rindfleischextrakts hergestellt wird und nach Maggi-Würze schmeckt, wärmt ganze Generationen fröstelnder Groundhooper auf.
"A fateful day"
Gemeinsam unterwegs sind die Fan-Veteranen Graeme und John allerdings erst seit der Saison 1990/91. "A fateful day", ein verhängnisvoller Tag, wie Graeme mit gequältem Lächeln meint. "Ich erinnere mich gut daran", erzählt er, "es war eine trostlose Nullnummer in Yorkshire zwischen Bridlington und Tow Law. John Dawson sprach mich auf der Toilette an. Er meinte nur, dass er mich schon einige Male bei Spielen gesehen hätte. Seitdem fahren wir zusammen."
Mit dem eigenwilligen John verbindet Graeme Clarke seitdem eine herzliche Freundschaft. Nur wenn es um ihre Klubs geht, sind sich die beiden Oldies spinnefeind. Das Duell zwischen Middlesbrough und Newcastle gehört zu den größten Derbys in England. "Ich wünsche mir, dass ich in meiner Karriere noch einmal ein Spiel sehe, in dem Newcastle United mit 0:10 untergeht. Das wäre ein guter Moment, um zu sterben", scherzt Graeme.
Für Clarke ist das UEFA-Cup-Halbfinale 2006 mit dem FC Middlesbrough und Steaua Bukarest (4:2) der Höhepunkt seiner Fan-Karriere. Diese denkwürdige Partie, in der "Boro" nach 0:1 im Hinspiel noch weiterkommt, hat er aber ohne seinen Schatten John Dawson angesehen: "Ich hätte ihn umgebracht, wenn er an diesem Abend dabei gewesen wäre."
Zukunftspläne eines Rentners
Graeme Clarke und John Dawson - in England spielen sie in einer eigenen Liga. Und auch wenn das Duo in Sachen Vereinsliebe über Kreuz liegt, so sind sich die beiden in einem Punkt doch einig: Ans Aufhören verschwendet die Rentnerband keinen Gedanken. "Wir sind mit dem Fußball verheiratet", lacht Graeme, "und ich werde bis zu meinem letzten Atemzug Spiele besuchen." Auch John Dawson hat mit 68 noch Zukunftspläne: "Ich will so viele Amateurplätze besuchen wie möglich. Warum auch nicht? Als Rentner kann ich ja alle Busse kostenfrei nutzen. Mir macht es Spaß, ich bin immer noch aufgeregt, wenn ich einen neuen Platz besuche."
Dass der alte Dawson in der Groundhopper-Clique die absolute Nummer Eins ist, hört Graeme nur ungern: "John ist ja auch 14 Jahre älter als ich. Aber irgendwann hole ich den Kerl schon noch ein."
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