Klavierträger und hässliche Entlein

Stefan Moser
23. Juli 201015:39
Im vierten Teil der Themenwoche beschäftigen wir uns mit den verschiedenen Sechser-Typen
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Seit den 90er Jahren entwickelte sich das defensive Mittelfeld immer mehr zur Königsposition im modernen Fußball. Fast jede große Mannschaft hat seither auch mindestens einen großen Sechser hervorgebracht. Einen Typen, der das Spiel vor der Abwehr auf seine Weise prägte und revolutionierte. SPOX stellt sieben solcher Stilikonen vor: Sieben Meilensteile in der Entwicklung des modernen Sechsers.

SPOXDer Klavierträger - Claude Makelele

Ob Alf Ramsey wohl wusste, dass er gerade die jahrzehntelang verbindliche Stellenbeschreibung für eine neue Position im Fußball formulierte, als er Alan Ball nach seinem Haustier fragte? "Haben Sie einen Hund?", wollte der englische Nationaltrainer von seinem Spieler wissen. Alan Ball nickte.

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"Und was machen Sie, wenn Sie mit ihm spielen?" Sein Gegenüber dachte kurz nach: "Ich werfe einen Ball - und er bringt ihn zu mir zurück." Da hob Ramsey zufrieden die Augenbrauen: "Sehen Sie! Und ich möchte, dass Sie genau das für Bobby Charlton tun."

Der erste echte Sechser war damit geboren, denn Alan Ball machte in der Tat genau das für Bobby Charlton - und wurde 1966 mit ihm und Ramsey Weltmeister.

Er prägte damit das Bild des defensiven Mittelfeldspielers für den Rest seines Jahrhunderts. Spieler wie Hacki Wimmer verdienten ihre Brötchen damit, den Spielmacher des Gegners auszuschalten und ihren talentierteren Chefs im Mittelfeld die Bälle zu apportieren.

Um die Jahrtausendwende hob Claude Makelele, der als Sidekick vor der Abwehr neue Maßstäbe für den klassischen Sechser setzte, diese Rolle auf ein neues Niveau.

Claude Makelele SPOX-Porträt

Beispielgebend war vor allem sein Geschick, dem Gegner die Bälle mit fairen Mittel vom Fuß zu klauen. Anders als seine eher grobschlächtigen Artgenossen war er clever, beweglich, elegant und technisch gut.

In Hochform bei Real Madrid erreichte er regelmäßig Zweikampfwerte von über 80 Prozent - und immer hatte Makelele anschließend den Ball sicher am Fuß, um ihn mit Vorliebe an Zinedine Zidane weiterzureichen.

Die Denke des Klavierträgers ist in erster Linie defensiv, aber er ist für die Balance des Spiels unverzichtbar, weil er überall sein muss, aber trotzdem kaum zu sehen ist. Der Raum vor der eigenen Abwehr ist sein Reich. Dort gewinnt er Bälle und leitet den Gegenangriff mit einfach Pässen ein.

Eine körperlich und mental extrem intensive und anstrengende Arbeit, die Ausdauer, Konzentration, Aggressivität und Intuition erfordert. Und einen Hang zum Martyrium, zur stillen Opferbereitschaft für den Erfolg der Mannschaft. Eine reichlich undankbare Arbeit im Hintergrund, die meist nur von Trainern und Mitspielern gewürdigt wird, während die Öffentlichkeit andere als Helden feiert. "Einer muss nun mal das Klavier tragen", bringt ein brasilianisches Sprichwort seine Aufgaben auf den Punkt.

Weitere Vertreter: Lassana Diarra, Didier Deschamps, Esteban Cambiasso

Der Spielmacher - Andrea Pirlo

Eigentlich hielt sich Gennaro Gattuso selbst für einen recht brauchbaren defensiven Mittelfeldspieler, als er 2001 beim AC Milan einen jungen Mann kennenlernte, der ihn in eine handfeste Sinnkrise stürzte.

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"Als ich gesehen habe, was der mit dem Ball macht, musste ich mich unweigerlich fragen: Darf ich mich überhaupt Fußballspieler nennen?" Der Neue, der den sonst eher robusten Gattuso plötzlich an seiner beruflichen Qualifikation zweifeln ließ, war Andrea Pirlo.

Er kam gerade aus Brescia, wohin er von Inter ausgeliehen war, war ungefähr im gleichen Alter und sollte alsbald sogar dieselbe Positionen wie Gattuso bekleiden - und trotzdem spielte er ein völlig anderes Spiel.

Denn Pirlo hatte auf dem Platz weder Schaum vorm Mund noch ein Messer zwischen den Zähnen. Im Gegenteil, eine italienische Zeitung nannte ihn nach den ersten Eindrücken ein "melancholisches Pferdchen".

Er trabte unscheinbar und gelangweilt über den Platz, er grätschte selten, spielte noch seltener Foul und nie mit dem Kopf. Und trotzdem schuf er bald das Leitbild eines neuen Spielertypus' auf der Sechs: den Spielmacher.

Er leitete die Rückversetzung des Zehners ins defensive Mittelfeld ein. Kein Wunder, immerhin war Pirlo eigentlich als Spielmacher ausgebildet worden. Nur herrschte zu seiner Anfangszeit bei Milan mit Clarence Seedorf, Rui Costa und Rivaldo ein Überangebot an offensiven Mittelfeldspielern, so dass ihn Trainer Carlo Ancelotti einfach vor die Abwehr stellte und so eine der erfolgreichsten Spieler-Umwandlungen der letzten Jahre vornahm.

Mit seinem ausgeprägten Instinkt und einem guten Auge für die Aktionen des Gegners gewann Pirlo viele Bälle, ohne sich in direkten Zweikämpfen aufzureiben. Und wo immer Gattuso und dessen Schergen einen Gegner beharkten, war Pirlo in der Nähe, um den freien Ball aufzusammeln - und sofort an die eigene Offensive weiterzugeben.

Mit seiner ausgezeichneten Technik und Spielintelligenz war und ist er weit mehr als ein Zerstörer, Staubsauger oder Apportierer. Aus der Tiefe des Raums ist Pirlo der neue Spielmacher, der den Rhythmus seiner Mannschaft bestimmt und mit chirurgischer Präzision lange Bälle in die Spitze spielt.

Er ist Dirigent, Umschaltstation sowie gefährlicher Vorbereiter in einem. Pirlos eleganten und intelligenten Stil konnte niemand bislang kopieren, seine Fähigkeiten in der Spieleröffnung aber wurden zum Vorbild.

Weitere Vertreter: Bernd Schuster, Bastian Schweinsteiger

Hier geht's zum zweiten Teil: Dominator und Metronom

Hier geht's zum dritten Teil: Hässliches Entlein, Box-to-Box-Player, Aggressiv Leader

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Der Dominator - Patrick Vieira

"Ich sah Patrick Vieira zum ersten Mal gegen Monaco. Er spielte nur 45 Minuten, aber ich wusste sofort: Dieser Junge wird die Welt erobern. Er war gerade mal 17 Jahre alt, sein erstes Spiel für Cannes - und er dominierte das Mittefeld. Er ist ein unglaublicher Spieler, denn er hat alles, was man sich auf der Position im Zentrum nur erträumen kann. Ein Hüne, aber mit schnellen Beinen. Gute Technik, aber auch fantastisch im Kampf um den Ball. Sehr aggressiv, aber immer souverän und nie hektisch. Und oben drauf: Ein riesengroßes Herz. Er hat sich vor niemandem versteckt, je mehr gute Gegner er hatte, desto stärker wurde auch er."

SPOXGettyDiese Liebeserklärung stammt von Arsene Wenger. Er holte Patrick Vieira zwei Jahre nach der ersten Begegnung zum FC Arsenal nach England - und formte aus ihm eine neue Stil-Ikone des modernen Sechsers. Besondere Kennzeichen: die totale Dominanz, mit der der gebürtige Senegalese völlig selbstverständlich das komplette Mittelfeld regierte.

Im defensiven Zweikampf kaum zu überwinden; giftig, unnachgiebig und raffiniert in der Balleroberung, souveränes Stellungsspiel und Gefühl für den Raum. Dazu extrem ball- und passsicher sowie clever in der Spieleröffnung. Die Aura der Unantastbarkeit, die Vieira in seinen besten Jahren bei Arsenal 90 Minuten lang umgab, ist bis heute unnachahmlich. Die charakteristische Mischung aus Aggressivität und Ruhe, sein Wille, den Ball nicht nur ins Aus zu grätschen, sondern ihn selbst zu sichern und kreativ weiterzuverarbeiten, wurde zum Vorbild für eine ganze Generation von defensiven Mittelfeldspielern.

Weiterer Vertreter: Michael Essien

Das Metronom - Fernando Redondo

Ins kulturelle Gedächtnis von Manchester United hat sich schmerzhaft eine Szene eingebrannt, die als "Backheel of Old Trafford" auch Eingang in den englischen Sprachgebrauch gefunden hat. Real Madrid war zu Gast im Viertelfinale der Champions League im Jahr 2000.

SPOXGettyFernando Redondo erkämpft sich in der eigenen Hälfte den Ball und marschiert sofort die linke Auslinie entlang Richtung Tor. Auf Höhe des Sechzehners dreht er seinem Gegenspieler Henning Berg plötzlich in einer flüssigen Bewegung den Rücken zu, tunnelt ihn mit der Hacke, folgt dem Ball bis zur Grundlinie, täuscht einen Rückpass an, verzögert - und schiebt den Ball dann schnurgerade in die Mitte, wo Raul aus zwei Metern ins leere Tor schiebt. Der Siegtreffer für Real und die Erkenntnis: Manchmal ist die Vorbereitung schöner als der Treffer selbst.

Und dabei war Redondo Vorlagengeber nur im Nebenjob. Im Hauptberuf war der Argentinier für Madrid der laufstarke Stratege, Motor und Taktgeber im defensiven Mittelfeld. Fabio Capello sah in ihm sogar den taktisch besten und intelligentesten Spieler seiner Generation, dessen Stellungsspiel bald zur Legende wurde. "Was hat dieser Mann nur in seinen Stiefeln? Magnete?", wetterte United-Trainer Alex Ferguson nach dem verlorenen Viertelfinale. Denn wo immer ein Ball von Himmel fiel, landete er bei Redondo.

Wie von Zauberhand räumte er scheinbar mühelos vor der Abwehr auf - und hatte so noch Kraft und Muße, seinen Überschuss an fußballerischem Talent und Spielfreude auszuleben und Angriffe zu inszenieren. Die französische "L'Equipe" indes inspirierte er nach dem Champions-League-Sieg zu einer eigenen Ode an Redondo: "Mit der aufreizenden Körpersprache eines düsteren Tangotänzers, seiner trügerischen Langsamkeit und der leicht überheblichen Eleganz ist er immer da, wo er sein muss."

Weitere Vertreter: Pep Guardiola, Emerson, der späte Juan Sebastian Veron, Dietmar Hamann, Demetrio Albertini

Hier geht's zum ersten Teil: Klavierträger und Spielmacher

Hier geht's zum dritten Teil: Hässliches Entlein, Box-to-Box-Player, Aggressiv Leader

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Das hässliche Entlein - Jan Wouters

Jan Wouters pflügte mal wieder zünftig durch die Szene. Diesmal allerdings nicht mit den Stollen voraus - seine Grätsche war rein verbaler Natur: "Herr Ribbeck, Sie sind der einzige beim FC Bayern, der vom Fußball keine Ahnung hat." Damit sprach der Niederländer aus, was zwar alle dachten. Doch nur Wouters hatte die Stirn, es seinem Chef auch ins Gesicht zu sagen. Auch rhetorisch erledigte der Europameister von 1988 also die Drecksarbeit für seine Kollegen. Und tatsächlich fiel Ribbeck über das ausgestreckte Bein, wenig später musste er gehen.

SPOXGettyEine typische Anekdote, denn Wouters übernahm gerne die Initiative - immer und überall. Dabei war er in der Wahl seiner Mittel nicht wählerisch, hatte aber stets das große Ganze im Blick. Vor allem natürlich auf dem Platz. Zur Hälfte ein ruppiger Vorstopper, zur anderen ein umsichtiger Ballverteiler; von außen ein Fleischhauer, von innen ein Staatsmann und Philosoph: Wouters war der Chef im Mittelfeld. Ein Chef freilich, der sich am liebsten um alles persönlich kümmerte. Er räumte den gegnerischen Spielmacher aus dem Weg, klaute vor der Abwehr die Bälle, inszenierte eigene Angriffe mit strategischen Kurzpässen oder präzisen Flanken und suchte immer wieder auch selbst den Abschluss aus der zweiten Reihe.

Neben seinen krummen Beinen, die den in Wahrheit erstaunlich guten Techniker manchmal etwas grob aussehen ließen, war sein wichtigstes Arbeitsgerät die Pferdelunge. Mit seiner Vielseitigkeit hob er das Spiel des Sechsers nicht zuletzt läuferisch auf ein neues Niveau und setzte Maßstäbe für die gesamte Zunft. So leitet Huub Stevens seine Definition des perfekten defensiven Mittelfeldspielers noch immer von Jan Wouters her: "Ein Spieler mit fußballerischen Fähigkeiten und einem guten Auge, der sich aber auch jederzeit den Arsch für seine Mannschaft aufreißt."

Weitere Vertreter: Jens Jeremies, Carlos Dunga, Emmanuel Petit

Box-to-Box-Player - Paul Scholes

Als Michael Ballack 2006 einer der bestbezahlten Fußballer der Welt wurde, rümpften gerade in Deutschland viele Kommentatoren etwas überrascht die Nase. Doch abgesehen von der Binsenweisheit vom Propheten im eigenen Land erklärt sich ein Jahresgehalt von rund zwölf Millionen Euro auch aus der Tatsache, dass England damals verrückt war nach Spielertypen wie Ballack: durchtrainierte Laufwunder, zweikampfstark, hinten humorlos und vorne torgefährlich.

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Spieler, die sowohl im eigenen als auch im gegnerischen Strafraum ihre Stärken hatten - und zudem ausreichend Einstellung und Kondition mitbrachten, um auch abwechselnd an beiden Enden des Platzes ihrer Arbeit nachzugehen, waren auf der Insel schwer en vogue. Extra für Figuren wie Ballack erfanden die Briten den Ausdruck "Box-to-Box-Player", mittlerweile etwas hölzern ins Deutsche übersetzt als: Strafraumpendler.

Die Neuentdeckung dieser Rolle im modernen Fußball gebührt wie so oft im englischen Fußball der Jahrtausendwende Manchester United und Sir Alex Ferguson. Er traute sich, den eigentlich sehr offensiven Paul Scholes anstelle des defensiv denkenden Nicky Butt an die Seite von Roy Keane zu stellen.

Während Keane, obschon selbst ganz ordentlich mit fußballerischem Talent gesegnet, vor der Abwehr noch eher klassisch den gemeingefährlichen Abräumer mimte, verband Scholes sein taktisches Geschick mit seinen Offensivqualitäten und suchte auf Geheiß von Sir Alex den Weg in die Spitze.

Immer wieder nutzte er die so entstandene Überzahl und erzielte in bislang 441 Liga-Spielen satte 101 Tore - ohne freilich dabei seine Aufgaben in der Defensive und im Spielaufbau zu vernachlässigen. Und trotzdem stand er bei United immer im Schatten von David Beckham oder Ryan Giggs - Bescheidenheit, Teamgeist und Opferbereitschaft gehören eben auch zum Repertoire eines Weltklasse-Sechsers.

Weitere Vertreter: Michael Ballack, der frühe Steven Gerrard, Sami Khedira

Aggressiv Leader - Roy Keane

Als sich das defensive Mittelfeld in den 90ern immer mehr als Königsposition des modernen Fußballs etablierte, kristallisierten sich dort zusehends auch Spielertypen heraus, die nicht nur gut am Ball, hart im Zweikampf und strategisch im Denken waren, sondern ihre Mannschaften auch mit Charisma und Autorität anführten - und wenn nötig auch mit roher Gewalt.

SPOXGettyZum Standardrepertoire deutscher Fußballkommentatoren gehört noch immer die lobende Floskel: "Einer, der mal dazwischen haut!" Ottmar Hitzfeld prägte als Bayern-Trainer dafür eigens den Begriff des "Aggressiv Leader", um Spieler wie Mark van Bommel zu erklären; den Prototypen des charismatischen Gewaltherrschers lieferte indes Roy Keane in den 90ern bei Manchester United.

Die Bundesliga scheint seither regelrecht besessen vom van-Bommel-Prinzip. Vor allem in München erschrecken Eltern ihre Kinder immer noch mit jener Anekdote, die Mehmet Scholl einst über seinen Kollegen Jens Jeremies in Umlauf brachte: "Einmal haben wir in der Champions League beim FC Arsenal gespielt, die haben da richtig Dampf gemacht. Und plötzlich rauscht Jens Jeremies dem Patrick Vieira im Mittelfeld in die Beine, aber wie! Die beiden stehen wieder auf, da geht Jerry zu ihm hin und zeigt mit seinem Arm auf die Mittellinie. 'Siehst du die Mittellinie? Kommst du drüber, macht es aua! Hier drüben aua, da drüben gut!'"

Weitere Vertreter: Mark van Bommel, Gennaro Gattuso, Edgar Davids

Hier geht's zum ersten Teil: Klavierträger und Spielmacher

Hier geht's zum zweiten Teil: Dominator und Metronom