Die spanische Nationalmannschaft will bei der WM 2018 in Russland die Schmach von vor vier Jahren vergessen machen. Unter Trainer Julen Lopetegui wurde die Seleccion noch variabler. Mit Spanien ist im Kampf um den WM-Titel zu rechnen, wenngleich ein Hauch von Ungewissheit bleibt.
22.51 Uhr im Maracana: das Ende einer Generation. Spanien verlor in Rio mit 0:2 gegen Chile. WM-Aus. Die Mission Titelverteidigung war nach zwei Gruppenspielen torpediert. Fußball-Spanien brach in Trauer aus und proklamierte den Tod eines Stils.
Die Gesichter auf dem Platz glichen denen einer Party-wütigen Jugendclique am Folgetag eines spanischen Botellon. Katerstimmung in dem Land, das über Jahre hinweg als Nonplusultra im Weltfußball galt, als möglicherweise beste Mannschaft aller Zeiten.
Knapp vier Jahre später, wenige Tage vor der WM in Russland, bezeichnete Ex-Bayer Xabi Alonso die spanische Elf erneut als Nonplusultra: "Momentan gibt es keine bessere Mannschaft", sagte der 114-fache Nationalspieler.
Spanien unter Julen Lopetegui: Evolution statt Revolution
Binnen vier Jahren durchlebte die Seleccion eine Achterbahnfahrt, bei der selbst erprobten Adrenalinjunkies das Mittagessen wieder hochkommt. "Wir waren an der Spitze und jetzt sind wir ganz unten", sagte Andres Iniesta nach dem Debakel von Brasilien. Zwei Jahre später scheiterte Spanien auch in der EM in Frankreich schon im Achtelfinale. Erfolgstrainer Vicente del Bosque nahm seinen Hut.
Nun geht Spanien mit 20 Spielen ohne Niederlage auf dem Buckel als Titelfavorit ins größte Turnier der Welt. Der flächendeckende Umbruch blieb jedoch aus. Neu-Coach Lopetegui verstand seine Aufgabe von Beginn an als Entwicklungsprozess. "Wir wollten eine Evolution, keine Revolution", sagte der 51-Jährige gegenüber El Pais.
Lopetegui setzte stattdessen auf einen Mix aus Routiniers wie Sergio Ramos oder Andres Iniesta und aufstrebenden Weltstars wie Marco Asensio oder Saul Niguez.
Johan Cruyff prägte Julen Lopetegui als Trainer
Der baskische Trainer bewies: Weder die Generation noch der spanische Stil ist Geschichte. Lopetegui ist ebenso Verfechter von ballbesitzorientiertem Fußball wie sein Vorgänger del Bosque. Schließlich ist er Cruyffista, wie man in Spanien sagt - ein Neologismus, der die Schule der niederländischen Trainerlegende Johan Cruyff beschreibt.
Lopetegui war zu einer Zeit, in der es noch zwei Punkte für einen Sieg gab, Ersatztorhüter bei Barca und hing an den Lippen des Großmeisters, der den "Voetbal totaal" populär machte.
gettyEinen ähnlichen Anspruch verkörpert Lopetegui heute als Trainer - mit dem Unterschied, dass der Fußball noch komplexer wurde. "Ich sage es immer wieder: Eine Mannschaft, die komplett sein will, darf in keinem Moment des Spiels an Wert verlieren", erklärte der Baske im Gespräch mit El Pais.
Lopetegui steht als Cruyffista wie auch Pep Guardiola für Ballbesitz, Positionsspiel und frühes Attackieren. Seine Aufgabe bestand darin, der spanischen Nationalelf die Flexibilität zu verschaffen, die sie 2014 noch vermissen ließ.
Spanien will auf "alle Eventualitäten des Spiels" reagieren können
Mit aggressiver Omnipräsenz konnte man die Seleccion zu ungewohnten Fehlern im sonst so sicheren Passspiel zwingen. Das Rezept gegen Spanien schien entschlüsselt. Das eine Rezept wird es nun allerdings nicht mehr geben.
Flexibilität ist laut Lopetegui der Schlüssel zum Erfolg. Die Mannschaft selbst war nicht das Problem. "Entwicklung bedeutet keinen Umbruch, sondern das Finden kollektiver Antworten auf alle Eventualitäten des Spiels", sagte der Coach.
Der Kader Spaniens besitzt diese Reaktionsfähigkeit allemal. Die Offensive bietet jede Menge Alternativen. Von der klassischen Neun mit zwei Flügelstürmern über eine falsche Neun mit verkappten Außen bis hin zur Doppelspitze im 4-4-2 - Spanien ist enorm wandelbar und verfügt zugleich über hohe Qualität in der Breite.
Julen Lopetegui hat ein Luxusproblem
Spaniens A-Elf ist ein fluides Gebilde. Die Viererkette steht (abgesehen vom Fragezeichen über dem angeschlagenen Dani Carvajal) und ist besonders in der Innenverteidigung mit Ramos und Gerard Pique erstklassig besetzt. Vielleicht so gut besetzt wie sonst keine Nation.
Davor lässt sich das 1a-System jedoch kaum ausmachen. Zwar gilt ein 4-3-3 mit der Sturmreihe Silva/Costa/Isco als wahrscheinlich.
SPOXDie zweite Garde trumpft jedoch derart auf, dass auch Marco Asensio oder Iago Aspas in der Startelf denkbar sind. Je nach Ausrichtung sind auch Koke oder Niguez für mehr Defensive im Zentrum eine Option. Für Lopetegui ergibt sich ein Luxusproblem, das in solch einem eng getakteten Turnierplan ein Segen sein kann.
Trotz der Weiterentwicklung ist Spanien nicht fehlerresistent. Gerade die 2014 viel gescholtene Chanceverwertung kann den Iberern zum Verhängnis werden. Gegen die Schweiz und Tunesien sprangen aus insgesamt 28 Torschüssen lediglich zwei Treffer heraus.
Auf der anderen Seite kann die Seleccion an einem guten Tag zum Albtraum eines jeden Gegners werden. Im Testspiel gegen Argentinien schoss Spanien sechs Mal auf das Tor. Endstand: 6:1.
Spanien bleibt eine Wundertüte - Portugal als wichtiger Gradmesser
Eine kleine Wundertüte bleibt Spaniens Nationalelf noch immer. Die zuletzt enttäuschenden Ergebnisse gegen die Schweiz (1:1) und Tunesien (1:0) bereiten Lopetegui und Co. allerdings keine Kopfschmerzen.
Der Trainer betonte nach der WM-Generalprobe gegen die Afrikaner, dass dieses Spiel der perfekte Test vor der WM gewesen sei. Tunesien stand sehr tief. Spanien lief gegen ein 4-5-1-System der Tunesier an und hatte 70 Prozent Ballbesitz. "Wir werden auch bei der WM Lösungen finden müssen. Sie wird durch Details entschieden", sagte Lopetegui im Anschluss.
Ähnlich wie auch in Deutschland schwappte in der Öffentlichkeit eine Welle der Skepsis über das Nationalteam. "Wir haben 6:1 gegen Argentinien gewonnen, die Leute hätten gerne acht Tore gegen die Schweiz und zehn gegen Tunesien gesehen", wehrte sich Aspas gegen die hohe Erwartungshaltung kurz vor dem WM-Start.
Xabi Alonso traut Spanien den WM-Titel zu
Spieler und Trainerteam wissen um die Bedeutung dieser letzten Testspiele, die von Müdigkeit und taktischen Spielereien determiniert sind. Der erste wichtige Gradmesser wird das Auftaktspiel gegen Portugal am Freitag sein (20 Uhr im LIVETICKER) sein. Ein gelungener Turnierstart wäre wichtig für eine Auffrischung des Selbstverständnisses.
Spanien blüht wohl so oder so kein böses Erwachen wie vor vier Jahren im Maracana. "Die aktuelle Mannschaft kann mehr Register ziehen als wir damals", sagte Alonso gegenüber FIFA.com.
Findet Spaniens Kollektiv, wie von Lopetegui angekündigt, stets Antworten auf die Hürden, über die man in Brasilien noch stolperte, kann es weit gehen. Mit Glück und der richtigen Tagesform kann Spanien die Achterbahnfahrt der jüngsten Jahre durchaus vollenden und erneut die Spitze erklimmen.