Stefan Bell ist Vize-Kapitän beim 1. FSV Mainz 05. Im Interview spricht der Innenverteidiger, der am Freitag seinen 27. Geburtstag feiert, über Probleme junger Spieler in deutschen Nachwuchsleistungszentren, seine Arbeit an der Basis beim Heimatverein und Vereinswechsel in der 8. Liga.
Zudem erklärt Bell, weshalb er sich durch die Proteste der Fans Druck auf die DFL erhofft und warum man sich die Champions-League-Gruppenphase nicht mehr anschauen muss.
SPOX: Herr Bell, Sie werden gerne als ungewöhnlicher Bundesligaprofi beschrieben. Sie haben in einer WG gewohnt, erst mit 15 Jahren Ihrem Heimatverein FV Vilja Wehr und der Kreisliga den Rücken gekehrt, sind dort mittlerweile 1. Vorsitzender und setzen sich sehr für den Erhalt des Vereins ein. Schmeichelt es Ihnen, wenn man Sie so bezeichnet?
Stefan Bell: Nein, aber ich sehe schon, dass es eher etwas Außergewöhnliches darstellt und das deshalb gerne aufgegriffen wird. Da ich nach meinem Umzug in Mainz auch noch zur Schule ging, habe ich fast mein gesamtes Umfeld außerhalb des Fußballs. Und dieses Umfeld war zugleich mein Maßstab. Ich konnte mich daher so verhalten, wie sich ein 20-Jähriger eben verhält.
SPOX: Glauben Sie, das wäre genauso passiert, wenn man Sie wie heute üblich bereits in noch jüngerem Alter in ein Nachwuchsleistungszentrum gesteckt hätte?
Bell: Ich war verhältnismäßig kurze drei Jahre im Leistungszentrum. Ich bin wirklich froh, dass ich erst so spät dorthin kam, da ich zuvor ein normales Jugendleben führen und außerhalb des Fußballplatzes in unterschiedlichen Bereichen Erfahrungen sammeln konnte. Ich konnte auch mal etwas Dummes machen, anecken, meine Grenzen ausloten.
spoxSPOX: Können das Spieler in diesem Alter heute auch noch?
Bell: Eigenverantwortung zu lernen ist wichtig. Das fehlt manchen sicherlich, wenn sie zu früh zu viele Vorgaben bekommen. Heute haben die Jugendspieler deutlich mehr Vorgaben als ich damals. Es wird einem eigentlich jede Entscheidung abgenommen. Die größte Gefahr für junge Profis ist es, sich an den älteren Mitspielern zu orientieren und da in Sachen Lebensstil und Geldausgaben mithalten wollen.
SPOX: Häufig wird auch kritisiert, dass das Leben in einem NLZ reichlich eindimensional ist.
Bell: Der Gedanke dahinter ist ja, den Spielern so gut wie möglich zu helfen, ihren Schulabschluss zu machen und die Fußballkarriere zu starten. Doch dadurch wird ihnen viel selbständiges Denken abgenommen. Sich um Nachhilfe zu kümmern, gemeinsam Hausaufgaben zu machen oder für Klausuren zu lernen - das fällt alles weg. Das ist vielleicht gut für die Noten, doch man sollte als Schüler eigentlich lernen, sich selbst zu organisieren. In Sachen Charakterentwicklung sehe ich das daher kritisch.
Bell über das Mainzer Koplinghaus und seine Arbeit beim Heimatverein
SPOX: Sie lebten drei Jahre im Mainzer Kolpinghaus - einer Einrichtung, in der Auszubildende aus den verschiedensten Bereichen günstig wohnen. Dort trafen Sie zum Beispiel auf Opel-Mitarbeiter oder angehende Steinmetze. Glauben Sie, dass eine solche Erfahrung für kommende Fußballprofis wichtiger wäre als der Alltag in einem NLZ?
Bell: Für die fußballerische Entwicklung macht es in meinen Augen keinen Unterschied, denn das Training ist ja unabhängig vom Wohnort dasselbe. Ich bin ein riesiger Fan vom Kolpinghaus, weil sich das Konzept von vielen anderen Bundesligastandorten abhebt. Es ist pädagogisch viel wertvoller, wenn 20 Fußballer unter 80 bis 100 Auszubildenden weilen und sehen, welche Probleme diese Leute haben und welches Leben sie führen. So wird einem mehr Normalität vermittelt und man lernt, sich in diese Einheit zu integrieren.
Stefan Bell: Leistungsdaten seiner Karriere beim 1. FSV Mainz 05
Wettbewerb | Spiele | Tore | Vorlagen |
Bundesliga | 152 | 10 | 10 |
Europa League (inkl. Quali) | 8 | 0 | 0 |
DFB-Pokal | 9 | 0 | 0 |
SPOX: Ihr Engagement bei Ihrem Heimatklub beschränkt sich nicht nur auf die Arbeit als Vorsitzender, Sie packen auch selbst mit an und haben zum Beispiel den Weg zum Vereinsheim eigenhändig gepflastert, Unkraut gejätet und die Hecke geschnitten. Wie wichtig ist Ihnen die zwischenzeitliche Flucht aus der schillernden Bundesliga-Welt?
Bell: Ich habe diesen Unterschied nie bewusst gesucht, sondern bin in diese Geschichte nach und nach hineingerutscht. Als ich meinen Vertrag in Mainz langfristig verlängerte und etwas Planungssicherheit hatte, bin ich als Beisitzer in den Vorstand gegangen. Ich wollte mir das anschauen und die Leute unterstützen, die dort wirklich viel Arbeit zu erledigen haben. Es ist ein schöner Ausgleich und ich freue mich immer zu sehen, wie sich alle Menschen in diesem Dorf kennen und ich auch ganz normal behandelt werde.
Bell über das Projekt Kunstrasen und Vereinswechsel in der 8. Liga
SPOX: Was gefällt Ihnen an der Arbeit an der Basis?
Bell: Ich finde es interessant zu sehen, wie ein solch kleiner Verein funktioniert und was dort alles im Hintergrund abläuft. Da hängt mittlerweile dermaßen viel dran. Wir sind wie ein Unternehmen umsatzsteuerpflichtig und müssen eine finanzielle Bilanz aufstellen. Wir haben zudem recht schnell gemerkt, dass wir an die Infrastruktur heranmüssen. Das habe ich dann ein bisschen zu meinem Thema gemacht.
SPOX: Das große Vorhaben ist dabei aktuell die Verlegung eines Kunstrasens, für den auch öffentlich gespendet werden kann.
Bell: Genau. Das ist ein Projekt, das auch mal bis zu drei Jahre dauert, doch man hinterlässt etwas Bleibendes und das Ding hält dann auch die nächsten 50 Jahre. So etwas macht mir viel Spaß. Man lernt dann auch, in einem kleinen Team zusammenzuarbeiten und kommt mit bürokratischen Hürden wie dem Bauantrag und Förderprogrammen in Kontakt. Das ist dann interessant und zäh zugleich.
SPOX: Der Spendenstand beläuft sich derzeit auf 68.000 Euro, Ziel sind 75.000. Und erst dann kann gebaut werden?
Bell: Nein. Wir haben Gesamtkosten von insgesamt 450.000 Euro und dafür verschiedene Finanzierungstöpfe. Einen Teil wollen wir durch die öffentliche Spendensammlung hereinholen - das sind diese 75.000 Euro. Die wollen wir erreichen, bevor wir mit dem Bau beginnen. Damit wollen wir letztlich vor allem die Vereinsmitglieder und die Bevölkerung mitnehmen, so dass jeder etwas dazu beitragen kann. Der größte Anteil sind Fördermaßnahmen, Eigenkapital, Vereinsdarlehen und ich gebe auch noch etwas dazu. Wir suchen momentan schon Angebote für den Kunstrasenbau, da der Bauantrag so gut wie durch ist. Mitte September kann es dann hoffentlich losgehen.
SPOX: Von den sieben Millionen DFB-Mitgliedern engagiert sich der Großteil an der Basis und im Ehrenamt - so wie Sie auch. Sehen Sie noch Gemeinsamkeiten zwischen dem Amateurfußball an der Basis und dem Profifußball?
Bell: Das Spiel und die Qualitätsunterschiede sind noch dieselben wie vor 20, 30 Jahren. In der Bundesliga gibt es mittlerweile allerdings sehr viel Vermarktung, das gibt es ganz unten natürlich nicht. Doch die Verbands- oder Oberligen haben das adaptiert. Dort hat man zahlreiche Sponsoren, Halbzeitshows oder Unternehmen, die die Zuschauerzahl präsentieren - weil dafür auch schon sehr viel Geld bezahlt wird. Deshalb gibt es Spieler in der 7. oder 8. Liga, die wegen 50 Euro mehr im Monat den Verein wechseln oder Trainer, die für zwei Trainingseinheiten und ein Spiel pro Woche 400 bis 800 Euro kassieren. Das finde ich etwas verrückt. Ich sehe es aber nicht so, dass ganz unten alles super und ganz oben alles schlecht ist. Was jedoch stimmt, ist, dass sich unten weniger verändert hat als im Profibereich.
SPOX: Wird das Ehrenamt in Ihren Augen ausreichend unterstützt?
Bell: Man könnte es den Ehrenamtlern in den Vereinen schon etwas leichter machen, gerade beim Thema Bürokratie. Ansonsten denke ich, dass das Ansehen nicht gelitten hat und vielen auch bewusst ist, wie wichtig das Ehrenamt ist. Für problematisch halte ich, dass sich in zu vielen Bereichen, zum Beispiel bei Verbänden oder dem Staat, darauf verlassen wird, dass es die Ehrenamtler schon richten werden.
SPOX: Inwiefern?
Bell: Nehmen wir zum Beispiel eine Einrichtung wie die Tafel. Die gibt es ja eigentlich nur, weil es der Staat nicht schafft, dass sich alle von ihrem Einkommen in irgendeiner Form ernähren können. Das ist im Grunde nichts anderes als eine Notlösung. Es benötigt allein dort so viele Ehrenamtler, die sich quasi engagieren müssen, damit das überhaupt irgendwie funktioniert. Ist doch klar, dass damit dann irgendwann die Ehrenamtler vertrieben werden.
SPOX: Das spielt in das Thema Vereinssterben auf dem Land mit hinein. Heutzutage gibt es sehr viel mehr Spielgemeinschaften als früher, damit der Spielbetrieb aufrechterhalten werden kann.
Bell: Ich finde, der Fußball hat vor Jahren eine Phase erlebt, in der er auf den Dörfern fast alleine war. Jeder ging in einen Fußballverein, weil es kaum eine Alternative und auch extrem viele Vereine gab - vielleicht mehr, als es im Normalfall geben sollte. Der Fußball hat für mich insofern kein strukturelles Problem. All dies hat sich nun jedoch stark verändert, die Angebote anderer Sportarten sind deutlich größer geworden und noch dazu gibt es weniger Kinder als noch zu Nachkriegszeiten. Es ist vielleicht mit einer Branche zu vergleichen, die sich konsolidiert.
Bell über Fan-Proteste, Druck auf die DFL und die Fußball-Übersättigung
SPOX: Viele Fußballfans berichten aufgrund diverser Entwicklungen mittlerweile von einem gesunkenen Interesse an ihrem Lieblingssport - auch, weil es offensichtlich ein Wunschtraum bleiben wird, gewisse Teile dieser Entwicklungen zu stoppen. Wie stehen Sie als Profi dazu?
Bell: Ich finde es grundsätzlich gut, dass es Punkte gibt, an denen die breite Masse der Fans sagt: Es reicht jetzt. Daher bin ich gespannt, wie die DFL beim nächsten Mal die Fernsehrechte ausschreibt. Denn daran wird man ja erkennen können, ob sie einen solchen Protest ernst nehmen oder ob es komplett ignoriert und es dann zehn Montagsspiele geben wird. Ich denke und hoffe ehrlich gesagt auch, dass man den Druck dort spürt.
SPOX: Was halten Sie in dieser Hinsicht von dem gerne angewandten Argument, auf andere Ligen zu verweisen, in denen sich bestimmte Modelle bereits etabliert haben?
Bell: Ich höre häufig als Argument: Wenn wir wettbewerbsfähig bleiben wollen, dann müssen wir den Weg der anderen zwingend mitgehen. Die große Frage ist doch aber: Wollen wir eine Liga sein, die für die deutschen Fans attraktiv bleibt oder wollen wir alles in Kauf nehmen, um international wie finanziell mithalten zu können? Was letztlich nachhaltiger ist, weiß man jedoch nicht.
SPOX: Eine der angesprochenen Entwicklungen ist die Übersättigung und Reizüberflutung durch den Fußball. Ist die bei Ihnen bereits eingetreten?
Bell: Ich merke schon, gerade auch in meinem privaten Umfeld, dass eine Sättigung erreicht ist. Ich persönlich finde, dass man sich die Champions-League-Gruppenphase eigentlich nicht mehr anschauen muss. Auch bei der WM spürte man, dass es mittlerweile einfach zu viel und zu beliebig geworden ist. Die sonst übliche Vorfreude auf das Turnier gab es nicht. Jetzt kommt auch noch die Nations League und in vier Jahren gibt es eine WM in Katar, die extrem kritisch zu sehen ist. Ein paar Jahre später kicken dann 48 Mannschaften mit. Das ist ein Viertel der Welt, in Bezug auf die Qualität der Mehrzahl der Spiele kann man sich das dann sicher auch schenken.
SPOX: Glauben Sie, dass die vielzitierte Blase eines Tages platzen wird?
Bell: Nein, denn eine Blase platzt ja spontan, sehr stark und endgültig. Das wird nicht passieren. Ich glaube wie gesagt, dass es zu einer Art Konsolidierung kommt. Es gibt ja heute schon immer mal wieder freie Plätze in vielen Bundesligastadien, was sicher ein Stück weit auch mit den unterschiedlichen Anstoßzeiten zu tun hat. Und trotzdem ist ja das Verrückte, dass beispielsweise mehr Leute ein WM-Spiel zwischen Australien und Peru anschauen als beinahe jedes andere TV-Programm - und es somit dann doch wieder eine Berechtigung hat, das auch zu übertragen.