2012 ist der 1. FC Kaiserslautern, der einzige Verein, der als Aufsteiger deutscher Meister wurde, aus der Bundesliga abgestiegen. Seitdem stehen zwei vierte und ein dritter Platz in der 2. Liga zu Buche. Seit über sieben Jahren hautnah mit dabei: FCK-Vorstandschef Stefan Kuntz. Im Interview spricht der Europameister von 1996 über das "Schreckgespenst" Ausgliederung, das für viele Traditionsvereine ein Problem darstellt. Zudem erklärt Kuntz, weshalb sich das Publikum beim FCK nur schwer mit der Gegenwart identifizieren kann.
SPOX: Herr Kuntz, Sie haben Ihre Karriere bei Dorfvereinen in Ihrer Heimat beendet, kicken selbst noch hin und wieder und besuchen auch häufiger Spiele in Amateurligen. Sehnen Sie sich nach den Wurzeln des Fußballs, die im Profisport immer mehr verloren zu gehen scheinen?
Stefan Kuntz: Ich habe seit jeher eine Sehnsucht nach dem ursprünglichen Fußball, nicht nur deshalb, weil ich nicht alles toll am heutigen Profifußball finde. Ich kam früher von der Schule nach Hause, habe nach dem Mittagessen so schnell es ging die Hausaufgaben hingeschmiert und bin dann den ganzen Tag kicken gegangen. Der Bolzplatz war mein Leben. Kameradschaft, Gemeinschaftsgefühl, trotzdem Ehrgeiz und der Wille zum Sieg - das war Fußball an seinen Wurzeln.
SPOX: Der Sie heute noch wie eh und je packt?
Kuntz: Es ist Fußballspaß pur, vor 50 oder 100 Leuten zu kicken. Ich spiele einmal in der Woche mit meinen Bolzplatzkumpels in der Halle Fußball. Da gibt es Schreiner, die noch voller Holzspäne zum Training kommen oder welche, die erst in der Kabine die Krawatte abnehmen können - aber dann mit voller Leidenschaft zu Werke gehen. Das Gefühl, das ich dabei habe, hilft mir abzuschalten und neue Kraft zu tanken. Meine Frau sagt immer, ich sehe aus wie der glücklichste Mensch auf Erden, wenn ich danach nach Hause komme. Das Aufstehen aus dem Bett am Morgen danach kommentiert sie dann aus Rücksicht auf mein Alter nicht mehr. (lacht)
spoxSPOX: Klassischer Fall von Fußball-Romantiker, oder?
Kuntz: Ja, total. Ich würde lieber zusammen mit meinen Kumpels eine Partie in meinem Heimatdorf spielen, als ein Veteranenspiel gegen ein anderes Land. Mit meiner aktiven Karriere habe ich komplett abgeschlossen.
SPOX: Darf man heute denn noch Romantiker sein oder ist man dann einer der vermeintlich Ewiggestrigen, die alle neuartigen Entwicklungen kritisch sehen?
Kuntz: Ich finde eher, dass das ein Wert ist, den man gerade in der heutigen Zeit auch vertreten sollte. Das beinhaltet ja nicht, dass man einen Verein nicht mit der nötigen Professionalität in der Gegenwart führt.
SPOX: In der Gegenwart ist eine Ausgliederung der Lizenzspielerabteilung Thema beim FCK. Ist das nicht gerade an einem Fußball-Standort wie Kaiserslautern, der eine sehr große Geschichte hat und darauf auch stolz ist, schwer vermittelbar?
Kuntz: Ist es. Nehmen wir einmal dieses vermeintliche Schreckgespenst "Ausgliederung". Hier ist es unsere Aufgabe, den Mitgliedern die Angst vor dem Verlust des Mitspracherechts zu nehmen und aufzuzeigen, welche Vorteile eine Ausgliederung für den FCK bringen könnte. Und zwar aus dem simplen Grund, weil wir so etwas konkurrenzfähiger sein könnten. Es ist doch kein Zufall, dass mittlerweile 13 Traditionsvereine in der 2. Liga spielen. Beinahe wären noch Hamburg und Stuttgart dazugekommen. Dann hätten wir fast die Teams beisammen, die vor zehn Jahren noch in der Bundesliga zugegen waren.
SPOX: Kaiserslautern ist nicht der einzige Klub, der sich um seine Wettbewerbsfähigkeit sorgt. Wäre es mit der Identität des FCK überhaupt vereinbar, eines Tages einen Investor mit ins Boot zu holen?
Kuntz: Wer einen konkurrenzfähigen und modernen Traditionsverein haben möchte - und wir möchten das -, der braucht überdurchschnittliche Vermarktungseinnahmen oder einen strategischen Partner, der am FCK und seiner Weiterentwicklung interessiert ist. Die Entscheidung darüber wäre bei uns auch ganz einfach: Wenn die Mehrheit der Mitglieder dagegen ist, dann wäre das Thema schnell vom Tisch.
SPOX: Viele Vereine knüpfen zahlreiche Bedingungen an einen möglichen Investor: Er soll aus der Region kommen, wenig Mitspracherecht einfordern und perfekt zur Identität des Klubs passen. Das könnte mit den strukturellen Gegebenheiten in der Pfalz schwierig werden.
Kuntz: Ja, aber nicht unmöglich. Wichtig ist in erster Linie, dass wir nahezu schuldenfrei sind und somit ein interessanter Partner wären. Wir brauchen kein Investorengeld zur Tilgung, sondern könnten es direkt in Projekte oder die Mannschaft stecken.
SPOX: Wie sähe in einer Wunschwelt das ideale Investment in den FCK für Sie aus?
Kuntz: Ein Investor, der Hauptsponsor wird und gleichzeitig in das Nachwuchsleistungszentrum sowie die Mannschaft investiert.
SPOX: Soll das Thema Ausgliederung bei der JHV auch gleich angesprochen werden?
Kuntz: Ja. Wir wollen die Vor- und Nachteile einer Ausgliederung darstellen, aber ohne Druck auf die Mitglieder auszuüben, sich sofort dafür oder dagegen entscheiden zu müssen. Es geht darum, eine Stimmung aufzunehmen, ob die Leute einen solchen Weg mitgehen würden oder nicht.
SPOX: Ohne Investor ist wirtschaftlich vieles auf Kante genäht. Mit jedem weiteren Jahr in der 2. Liga muss der Gürtel enger geschnallt werden, was man durch den Verkauf von Leistungsträgern abfedert. Inwiefern ist das eine Art Teufelskreis, der es dem Verein erschwert, auf natürliche Weise zu wachsen?
Kuntz: Gelingt uns der Aufstieg nicht, trifft das wie beschrieben zu. Ein Aufstieg würde helfen, andererseits könnte er nicht per se alle wirtschaftlichen Unterschiede ausgleichen. Wir könnten zwar angenehmere Gehälter bieten, die Konkurrenz würde aber dennoch das Zwei- oder Dreifache zahlen. Es würde sich also nur minimal verschieben. Aber: Wir hätten einen Spieler wie Dominique Heintz halten können, da es sein großer Traum war, mit dem FCK in der Bundesliga zu spielen.
SPOX: Sie haben selbst schon einige Vorschläge gemacht, wie man den Erhalt von Traditionsklubs im heutigen Fußball gewährleisten könnte. Warum ist es aber kaum realistisch, dass darüber eine ernsthafte Diskussion geführt wird?
Kuntz: Weil jeder am Ende nur an sich denkt. Fußball ist auch Egoismus, Solidarität bleibt in einigen Bereichen Wunschdenken.
SPOX: Dennoch hatten Sie wie auch bereits BVB-Boss Hans-Joachim Watzke beispielsweise bei der Verteilung der Fernsehgelder angeregt, die Faktoren Tradition und Fanpotenzial einfließen zu lassen. Wird diese Nachhaltigkeit von Traditionsvereinen bei Zuschauerzahlen oder im Merchandising gar nicht als ausschlaggebend betrachtet, damit die Bundesliga boomt?
Kuntz: Genau das ist entscheidend: Ist diese Form der Nachhaltigkeit wichtig für den deutschen Fußball oder nicht? Wenn sich die Mehrheit der Vereine dagegen ausspricht und den Fokus eher auf das Thema Werbebotschaften und Auslandsvermarktung legt, um mit den besten Ligen in Europa zu konkurrieren, dann wird es dahingehend keine Besserung geben - und noch mehr Traditionsvereine werden hinten runterfallen.
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SPOX: Es erscheint, als ob es dem deutschen Fußball nicht wichtig genug ist.
Kuntz: Ja. Schönes Stadion, viele Fans, tolle Atmosphäre - als Traditionsverein ist man weiterhin sympathisch. Doch das reicht nicht, um Maßnahmen auszulösen, die die Wettbewerbsfähigkeit solcher Klubs verbessern würden. Denn die Bundesliga wird angenommen und boomt in allen Bereichen, ganz egal ob Paderborn und Ingolstadt oder Düsseldorf und Nürnberg in der Liga spielen. Doch in zehn, 15 Jahren wird man dann seinen Enkeln erklären müssen, wie es früher war, als 50 Gäste-Fanbusse am Stadion ankamen und während des Spiels für eine großartige Unterstützung des Gastvereins gesorgt haben. Wir schauen zu Recht mit Neid auf die TV-Einnahmen der Engländer, aber sollten auch einen Blick darauf haben, weshalb die Engländer mit Neid zu uns schauen: Stehplätze, erschwingliche Eintrittspreise und eine supertolle Stimmung in den Stadien.
SPOX: Ist der Gedanke an das glorreiche Früher, als noch echte Kerle als Identifikationsfiguren jahrelang für denselben Klub spielten, ein Problem im gegenwärtigen Kaiserslautern?
Kuntz: Ja.
SPOX: Weil sich die Leute nicht damit abfinden können, dass diese Zeiten endgültig vorbei sind?
Kuntz: So ist es. Natürlich war das Spiel in den 1980er und 1990er Jahren anders, da hat man am Betzenberg den Gegner auch mal Richtung Trainerbank getreten. Diesen Fußball gibt es aber nicht mehr. Und es war damals, als der FCK in der Bundesliga war, für einen Spieler auch sicherlich einfacher zu sagen, ich bleibe jetzt ein paar Jahre hier. Wohin hätte einer, der mit dem FCK um die Meisterschaft mitspielt, auch wechseln sollen?
SPOX: Warum ist die Vergangenheit noch derart in den Köpfen des FCK-Publikums verankert?
Kuntz: Ganz viele Leute jedweden Alters identifizieren sich so stark mit unserem Klub und seinem Schicksal, dass sie all das, was ihm widerfährt, selbst spüren. Bei Misserfolg fühlt es sich für sie an, als ob sie vom FCK im Stich gelassen wurden.
SPOX: Sind das für Sie dann auch Fußball-Romantiker?
Kuntz: Natürlich, zu einhundert Prozent. Viele Leute kommen alle 14 Tage zum Heimspiel und vermissen einen Hans-Peter Briegel, Hannes Bongartz, Pavel Kuka, Axel Roos, Miro Klose oder Harry Koch - weil sie für die Werte standen, mit denen sie sich identifiziert haben. Die Identifikation mit der Gegenwart ist dagegen bis zu einem gewissen Maß abhandengekommen. Das liegt auch daran, dass der Fußball nun von einer anderen Generation gespielt wird und sich dieser Sport einfach extrem verändert hat. Das sollte man jedoch sehen und akzeptieren können. Ich glaube, die emotionale Bindung zum FCK ist so stark, dass sie die aktuellen Sachlagen überlagert.
SPOX: Die Briegels und Kukas werden niemals wieder kommen.
Kuntz: Das ist Teil des Problems. Wenn man als Verein erst in den letzten zehn Jahren eine tragende Rolle im Profifußball gespielt hat, gibt es diese Erinnerung an das Früher beim eigenen Publikum auch nicht. Wir haben Zuschauer, die noch Fritz Walter spielen sahen und genau wissen, welche deutschlandhistorische Bedeutung die Weltmeister von 1954 hatten. Die Helden von damals hatten eine völlig andere Einstellung zu ihrem Beruf als die heutigen Spieler, doch die werden viel mehr gehypt.
SPOX: Heißt: Einige Zuschauer gehen seit Jahren mit immer gleichen Erwartungen auf den Betzenberg, ohne dabei die aktuelle sportliche Entwicklung zu berücksichtigen?
Kuntz: Es gibt bei uns viele Zuschauer, die alle Erfolge der letzten 30 Jahre hautnah miterlebt haben. Erklären Sie aber einmal 17 Jahre später, dass nie mehr ein Aufsteiger Deutscher Meister wird. Dann heißt es: Wieso das denn, wir haben es doch auch geschafft, was sind schon 17 Jahre? Man kommt alle 14 Tage auf den Betzenberg und möchte seinen alten FCK sehen, wie man ihn kennt und liebt - am besten garniert mit einem Sieg. Ein Verein, der vor 20 oder 30 Jahren noch keine Rolle spielte, hat dahingehend einen Vorteil, dass der Fokus der Leute wenn überhaupt nur auf die jüngste Vergangenheit gerichtet ist.
SPOX: Was also wünschen Sie sich von diesen Zuschauern?
Kuntz: Darin liegt die ganz schwere Aufgabe eines Traditionsvereins: den Leuten verständlich zu machen, sich gedanklich anzupassen. Dass wir uns in der Gegenwart in einer neuen Zeitrechnung befinden, in der die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen kaum noch mit Klubs konkurrenzfähig sind, die Mäzene oder große Sponsoren hinter sich wissen.
SPOX: Wie steht denn in Ihren Augen die Identifikation mit dem FCK im Widerspruch mit dem natürlichen Egoismus, der heutzutage auf Spielerseite bisweilen vorherrscht?
Kuntz: Auch das hat sich geändert: Früher gab es hier teilweise aus der Region stammende Spieler, die über mehrere Jahre hinweg im Verein waren und zum Stadtleben gehörten. Heutzutage wechselt mit Willi Orban ein Kind des Vereins zu einem von den Anhängern nicht akzeptierten Liga-Rivalen. Es gibt kaum einen stärken Dolchstoß in den Stolz eines FCK-Fans. Man muss es ihnen dann nachsehen, wenn als Reaktion kommt: Das hätte ein Briegel nie gemacht! Damit haben sie auch recht, nichtsdestotrotz müssen wir das akzeptieren - ob wir wollen oder nicht.
SPOX: Weil die Spieler bei den heutigen wirtschaftlichen Möglichkeiten häufiger als früher versuchen, das Maximale herauszuholen?
Kuntz: Was soll denn auch ein Verein, der sich mit allen verfügbaren Mitteln bis an die finanzielle Decke streckt, einem Spieler sagen, der woanders das Vierfache verdienen kann? Bleib' doch bitte beim FCK, weil... - da hat man einfach sehr wenige Argumente. Und das ärgert die Fans. Kurzum: Ich bin Fußball-Romantiker und habe genau deshalb ganz viel Verständnis und Gefühl für die Fans, aber auch das Problem, diese Haltung bei den Leuten kompatibel mit der Realität zu machen. Derjenige, der sich zu sehr an der Vergangenheit festkrallt, verliert.
SPOX: Addiert man Ihre Zeit als Spieler und Vorstandsvorsitzender, kommt man auf 13 Jahre beim FCK. Gab es gerade in Ihrer aktuellen Funktion seit dem Dienstantritt im April 2008 auch einmal eine Phase, in der Sie dachten: Wofür mache ich das eigentlich alles?
Kuntz: Ja, denn man ist ja auch nur bis zu einem gewissen Grad strapazierfähig. Mit dem Großteil der vielen Entscheidungen, die man treffen muss, macht man es nie allen recht. Die Interessen innerhalb eines Traditionsvereins können so konträr sein, dass es unheimlich schwer ist, alle zu 100 Prozent zu erreichen. Früher als Spieler hat man einfach das entscheidende Tor geschossen - und bis auf die Gästefans haben alle gejubelt. (lacht)
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