Vom Trümmerhaufen zur goldenen Generation - Österreich liebt eben Extreme: Manch Journalist glänzte nach der 0:3-Pleite in Deutschland mit populistischen Blitzbefunden. Fünf Tage später ließ sie das mühevolle 1:0 über Irland von der WM 2014 träumen. Nun fiebert eine ganze Nation dem "Spiel des Jahres" in Schweden entgegen. Bei SPOX spricht Teamchef Marcel Koller (52) über Realitätsverlust und deutsche Schützenhilfe. Plus: Was fehlt David Alaba noch? Wie rettet Bad Boy Marko Arnautovic die Karriere?
SPOX: Herr Koller, unlängst offenbarten Sie, die rot-weiß-rote Mentalität durchschaut zu haben. Wie tickt der Österreicher gemeinhin?
Marcel Koller: Hierzulande, das habe ich in zwei Jahren erfahren, raunzt man sehr gerne. Meine Aufgabe war es, das aufzunehmen. Ich ließ das Jammern nicht zu, versuchte es, gezielt in die andere Richtung umzukehren. Die Spieler müssen das Positive sehen, mittlerweile klappt es, hat sich die Einstellung geändert. Mitunter hängt das an den Ergebnissen, insgesamt tritt jeder besser auf. Auffallend war ebenso, dass man immer wieder in der Vergangenheit schwelgt. Nur mit hätte, wenn und aber gewinnen wir nichts.
SPOX: Nach der 0:3-Pleite gegen Deutschland schrieb ein Boulevardblatt vom "Trümmerteam" - welche Gedanken schwirrten Ihnen durch den Kopf?
Koller: Ich bin näher an der Mannschaft als jeder Journalist, weiß daher genau, was intern abgeht. Enttäuschung ist verständlich. Wenn man vor dem Spiel jedoch sagt, man solle gar nicht anreisen, lieber die gelbgefährdeten Spieler schonen, fehlt mir das Verständnis. Wir haben verloren - gegen Deutschland. Jetzt ist alles ein Trümmerhaufen? Das kann ich nicht ernst nehmen.
SPOX: Durchstöbern Sie nach Jahrzehnten im Profisport überhaupt die Gazetten?
Koller: Ich bekomme immer einen Pressespiegel, lese mir den schon durch, damit ich informiert bin. Natürlich darf man nicht alles auf die Goldwaage legen. Dennoch ist es sehr wichtig, so gewisse unerwünschte Strömungen zu erkennen und möglicherweise entgegenzusteuern.
SPOX: Ihre Teamchef-Bestellung löste 2011 in der Alpenrepublik ein mittelschweres Erdbeben aus: Inwiefern verwunderte Sie das?
Koller: Viele waren schlecht informiert, die Einigung wurde überaus geheim gehalten. Bis wenige Stunden vor der offiziellen Stellungnahme, wusste keiner so recht, wer der zukünftige Trainer sein wird. Entsprechend fehlte das Hintergrundwissen zu meiner Person. Man hatte schließlich nicht die Zeit, lange nachzuforschen und andere Überlegungen anzustellen. Daraus resultieren eben solch emotionale Reaktionen von Medienvertretern und Experten.
SPOX: Zu den schmollenden 78er-Helden (Sackgasse Cordoba) um Herbert Prohaska (SPOX-Interview) wahren Sie seither eine gesunde Distanz. Erschweren Sie sich damit Ihren Job?
Koller: Nein, ich brauche eigene Ideen, die ich vermittle. Wenn ich verdiente Ex-Spieler und Experten treffe, unterhält man sich - auch über Fußball. Schmäh zu führen und etwaige Freundschaften zu knüpfen, reicht nicht, um sich jahrelang auf dem Trainerstuhl zu halten. Entscheidend ist, diese Mannschaft nach vorne zu bringen, Erfolg zu haben. Ich kenne das Geschäft. Manchmal bleibt dir nichts übrig, als den schweren Weg zu gehen.
SPOX: Gleichwohl wären Sie mit der WM-Teilnahme "aufgenommen"?
Koller: Ich muss nicht aufgenommen werden, das ist mir nicht wichtig. Außerdem haben wir nie herausposaunt, dass die WM oberste Priorität hat. Wir befinden uns noch immer auf dem Weg. Österreich lebt vor den abschließenden zwei Spielen den Traum. Wenn man Statistiken aus der Vergangenheit heranzieht, gab es das lange nicht. Ich weiß, wie hart die Jungs arbeiten und was sie dafür geben.
SPOX: David Alaba schürte mit dem Goldtor gegen Irland die Euphorie. Das Gastspiel in Solna hat demnach Do-or-Die-Charakter. Wie nehmen Sie Ihren Schützlingen diesen exorbitanten Druck?
Koller: Finalspiele sind da, um gewonnen zu werden. Wir haben es in der eigenen Hand, meine Spieler kommen mit einem guten Gefühl zum Nationalteam. Ich versuche, wenn wir zusammen sind, früh zu spüren, was es braucht. Aber sie wissen selbst, dass sie etwas ganz Großes erreichen können, werden Vollgas geben. Demnach bremse ich eher, möchte sie positiv unterstützen.
SPOX: Metaphorisch meinten Sie, ein "Liebkose-Duell" sei keineswegs zu erwarten - wird es eine Abwehrschlacht?
Koller: Die Schweden werden mit dem Bewusstsein antreten, dass sie zu Hause spielen und gegen uns Platz zwei klarmachen können. Mit 50.000 Zuschauern im Rücken werden sie uns das Leben schwer machen. Sie sind taktisch bestens geschult. Wir müssen in die Räume kommen. Natürlich möchte man immer gewinnen. Bislang konnten wir Auswärts nichts zerreißen. Schaut am Ende ein Unentschieden heraus, ist das zu akzeptieren. Zwar wird es schwierig, sie zu knacken, aber es ist uns beim 2:1 im Hinspiel schon geglückt. Die beiden Spiele in Schweden und auf den Färöer wären der nächste Schritt.
SPOX: Sie denken in Entwicklungsstufen: Unter Ihrer Regie erkennt man wieder die lange vermisste Handschrift. Welche Vorstellungen versuchen Sie, zu implementieren?
Koller: Ich liebe gepflegten Fußball, die Truppe soll offensiv auftreten, agieren und nicht abwarten. Natürlich ist das abhängig vom Spielermaterial, welches einem zur Verfügung steht. Dennoch wollen wir Initiative ergreifen. Die Sicherheit am Ball und im Kombinationsspiel gilt es weiter zu entwickeln, so etwas gelingt nicht von heute auf morgen.
SPOX: Vielerorts wird in Österreich von einer goldenen Generation gesprochen - zurecht?
Koller: Wissen Sie, das wurde schon vor mir gesagt. In Österreich fängt man schnell an, zu träumen, aber dahinter steckt harte Arbeit. Man braucht Kontinuität, die Spieler brauchen Führung. Die EM 2016 in Frankreich sollte das Ziel sein. Dafür ist es wichtig, konsequent dranzubleiben.
Seite 2: Koller über Alabas fehlende Erfahrung und Arnautovic' Karriere
SPOX: Sie leben Konsequenz vor, greifen zumeist auf den gleichen Legionärsstamm zurück. Selbst wenn jene Akteure ein Leistungstal durchschreiten. Wie viel Loyalität kann sich ein Trainer eigentlich leisten?
Koller: Bislang wurden wir nicht enttäuscht. Nachdem wir eine ganz konkrete Spielphilosophie transportieren, können wir nicht bei jedem Lehrgang drei, vier Neue hochziehen. Da startet man wieder bei Null. Jene, die immer wieder eingeladen werden, sind gut gescoutet. Sie sind unserer Überzeugung nach die besten Österreicher. Wenn irgendwo ein Stern aufgeht, der es verdient, Änderungen zu beschließen, reagieren wir. So wie es jetzt aussieht, darf sich der Stamm weiter beweisen.
SPOX: Längst unverzichtbar ist Alaba: Die Fans vergöttern ihn - mal provokant gefragt: Kann er das ÖFB-Team alleine zur Endrunde führen?
Koller: Nein, kann er nicht.
SPOX: Trotzdem steht und fällt vieles mit ihm?
Koller: Ja, aber schauen sie nach Schweden: Wer ist dort die bestimmende Figur? Richtig, Zlatan Ibrahimovic. Er ist die Schlüsselstelle, er ist Schweden. Im Heimspiel wird er dominant auftreten. David verfügt eben über diese individuelle Klasse, wichtige Treffer zu erzielen, darüber sind wir heilfroh. Er weiß, dass er Österreich nicht alleine nach Brasilien schießen kann. Er braucht die Unterstützung seiner Mitspieler.
SPOX: 21 Jahre alt, Leistungsträger beim FC Bayern München, Triple-Sieger - Sie sagten, Alaba könne ein Weltstar werden. Ist er das seit der Vorsaison nicht?
Koller: Für mich ist ein Weltstar jemand, der nicht nur rein fußballerisch hervorragende Leistungen zeigt. Es kommt darauf an, was in der Kabine passiert, in der Öffentlichkeit. Da verfügt er mit 21 Jahren nicht über die Erfahrung. Es benötigt gewisse Zeit, um eine Mannschaft auf dem Rasen zu führen, den Rhythmus zu bestimmen. Mache ich jetzt Tempo, oder beruhige ich das Spiel, trete auf den Ball und lasse wichtige Sekunden verstreichen. All das sind wesentliche Attribute. David lernt beim FC Bayern von den Besten, das bringt ihn stetig voran.
SPOX: Nicht zuletzt Alaba ist es geschuldet, dass in Österreich über den idealen Ausbildungsweg fabuliert wird: Früh ins Ausland aufbrechen, oder als gestandener Bundesliga-Profi?
Koller: Für die Liga wäre es besser, wenn Talente nicht mit 15 Jahren die Heimat verlassen - das schadet den Vereinen. Wenn man sie hält, könnten sie im Kreise der Familie aufwachsen und eine gute Ausbildung genießen. Es gibt viele Beispiele, die erst mit 22 Jahren wechselten und demnach gefestigter sind als manch Jugendlicher.
SPOX: Lässt sich das verallgemeinern?
Koller: Nein, das haben David und viele andere bewiesen. Wenn du eine Nachwuchshoffnung bist, musst du dich in der Fremde durchsetzen. In Österreich hat man es oftmals zu leicht. Problematisch wird es, wenn man das Talent einfach Talent sein lässt, es nicht fördert und fordert. Hier brauchen Ausbilder, Trainer, Verantwortliche ein gutes Händchen, um den jungen Spieler voranzubringen. Nicht hätscheln und pflegen, sondern vorleben und zeigen, was es braucht, um nach oben zu kommen.
SPOX: Marko Arnautovic fand den richtigen Pfad bei Werder Bremen erneut nicht. Sie bestärkten Ihn bei seinem Transfer nach England zu Stoke City - warum?
Koller: Er spielt wieder regelmäßig, ist somit inzwischen weiter als er bei seiner letzten Station in Deutschland. Marko muss lernen, sein Potenzial, welches er zweifelsohne hat, regelmäßig auf hohem Level zu hundert Prozent abzurufen
SPOX: Am aufreizenden Spielstil des 24-Jährigen scheiden sich die Geister - ist er mehr Fluch als Segen?
Koller: So möchte ich das nicht beurteilen. Es gibt sicher die ein oder andere Situation, in der es manch Außenstehender als Fluch betrachten kann. Wenn ein Fußballer das Tor nicht trifft, wird er kritisiert. Wenn ein Spielmacher keine Tore vorbereitet, ebenfalls. Er muss sich durchbeißen, alles andere ausblenden und nicht mehr auf die Presse hören, sondern in sich selbst hineinhören.
SPOX: Wenn er in Schweden trifft, wäre er in aller Munde: Ein Punkt reicht bereits, um das direkte Duell für sich zu entschieden. Ganz Österreich würde danach im abschließenden Gruppenspiel auf deutsche Schützenhilfe hoffen - das gibt's nur unter einem Schweizer...
Koller: (lacht) Die Rivalität wird eher von österreichischer Seite gelebt, während ja die Deutschen für gewöhnlich den kleinen Nachbarn mögen. Letztendlich können wir es nicht beeinflussen. Wir müssen darauf hoffen, dass Irland etwas Spezielles gelingt und es für das DFB-Team in Schweden um Platz eins geht. Dann würden sie sich voll reinhängen und nicht auf Sparflamme agieren.
SPOX: Mit der geglückten WM-Qualifikation wäre Ihre Vertragsverlängerung lediglich Formsache, obwohl im Sommer eine Rückkehr zum 1. FC Köln im Raum stand. Wo sehen Sie ihre Zukunft?
Koller: Im Vorfeld des Duells mit Schweden wurde das zum Thema. Es ist wichtig, klaren Kopf zu bewahren, um solche Erfolge einfahren zu können. Deshalb hakte ich es schnell ab. Ich denke, es wäre richtig, den eingeschlagenen Weg weiterhin zu beschreiten. Es gibt eine Tendenz, noch wurde nichts unterschrieben. Es gefällt mir hier, es passt - nur das ist nicht alles. Zu gegebener Zeit wird der ÖFB eine Entscheidung verkünden.
SPOX: Was Paul Scharner dazu sagen würde? Er kompromittierte Sie nach seiner Eliminierung aus dem Team dazumal als "weichgeklopftes Schnitzel", mit dem man nie zur WM fahren würde...
Koller: Zu diesen Aussagen habe ich mich nie geäußert und werde das auch weiterhin nicht tun. Ich bin meinen Weg gegangen.