Die spanische Nationalmannschaft spielte trotz eines Ballbesitzanteils von 85 Prozent und einer historischen ersten Halbzeit (419 erfolgreiche Pässe) gegen Schweden nur 0:0. Während die Spanier vieles vermissen ließen, ging die Portugal-Taktik der Schweden ausgerechnet aufgrund des Fehlens eines selbsternanntes Fußball-Gotts auf. Die Thesen zum Spiel.
Ohne Torjäger ist für Spanien wieder früh Schluss
Wirft man ein Blick auf die Statistiken, könnte man annehmen, der EM-Auftakt sei den Spaniern an diesem Abend in Sevilla durchaus geglückt. Die Zahlen zeugen von einer Rückkehr zu Tugenden, die sie einst zur besten Nationalmannschaft der Welt gemacht hatten.
419 erfolgreiche Pässe in der ersten Halbzeit und 85,1 Prozent Ballbesitz insgesamt: Beides sind EM-Bestwerte seit Beginn der Datenerfassung 1980. Doch einmal mehr zeigte diese Partie, dass nur Ballbesitz und dominante Spielweise keine Spiele entscheiden. Die Tore, sie fehlten der Furia Roja.
Chancen hatten die Spanier mehr als genug. Nach einer Viertelstunde war es Leipzigs Dani Olmo, danach der zweifache Koke und der freistehende Alvaro Morata, die den Ball nicht über die Torlinie bekamen. Vor allem der 28-jährige Morata agierte erneut unglücklich.
Bereits in den vergangenen Wochen wurde er von den spanischen Fans aufgrund seiner ausbaufähigen Chancenverwertung kritisiert und sogar als personifizierter Sündenbock ausgepfiffen. Der Atletico-Angreifer, der auf Leihbasis bei Juventus Turin spielt, hatte in der vergangenen Saison in 44 Spielen immerhin 20-mal getroffen. Mit 19 Länderspieltoren ist er außerdem der erfolgreichste Spanier im Kader vor Verteidiger Jordi Alba (8).
gettyNationaltrainer Luis Enrique nahm ihn nach 66 Minuten vom Feld und probierte es acht Minuten lang ohne eine echte Spitze. Da in dieser Zeit keine Chance entstand, reagierte er erneut und wechselte Villarreals Gerard Moreno ein. Der 29-Jährige machte im schwedischen Sechzehner eine Menge Alarm, dennoch verpasste auch er die Chance auf das Siegtor. Er hat sich aber wohl vorerst in der Rangordnung vor Morata gespielt und könnte im zweiten Gruppenspiel starten.
Rückendeckung erhielt Morata derweil von Innenverteidiger Aymeric Laporte: "Du darfst einen solchen Stürmer wie Alvaro nicht anzweifeln. Er hat es schon allen gezeigt. Er wird nächstes Mal drei Tore schießen und alle Kritiker verstummen lassen." Morata befindet sich dennoch vor dem zweiten Gruppenspiel gegen Polen an einem Scheideweg.
Seine Flaute fällt aktuell auch deshalb so ins Gewicht, weil in der Hochzeit des Tiki-Taka noch offensive Mittelfeldspieler wie Cesc Fabregas, Andres Iniesta und David Silva die fehlenden Stürmertore im Falle einer Flaute von David Villa oder Fernando Torres wettmachten. Doch diese offensiven Zentrumsspieler mit eingebauten Torjägerqualitäten gibt es nicht mehr in Hülle und Fülle im spanischen Kader.
Das Remis gegen die Schweden zeigte: Ohne Torjäger ist für Spanien wie schon so oft in den vergangenen neun Jahren früh Schluss. Nach dem EM-Sieg 2012 wäre es die Fortsetzung einer sportlicher Talfahrt (Gruppenaus bei der WM 2014, Achtelfinal-Aus bei EM 2016 gegen Italien und Achtelfinal-Aus bei der WM 2018 gegen Gastgeber Russland).
Spanien - Schweden: Die Statistiken
Spanien | Statistik | Spanien |
17 | Schüsse insgesamt | 4 |
5 | Schüsse aufs Tor | 1 |
6 | Ecken | 1 |
7 | Fouls | 11 |
47 | Gewonnen Zweikämpfe | 30 |
61.0% | Zweikampfquote | 39.0% |
917 | Pässe insgesamt | 161 |
90.5% | Passgenauigkeit | 55.3% |
85.1% | Ballbesitz | 14.9% |
Spanien bei der EM: Tiki-Schlaffi statt Tiki-Taka
Es ist aber nicht nur das Tor, das im spanischen Spiel fehlte. "Der letzte Abschluss, der letzte Pass - der fehlt. Es ist enttäuschend. Von Spanien erwartet man natürlich viel mehr", sagte im ehemaligen Weltklasse-Stürmer Fernando Morientes einer, der es wissen muss.
Mit Rodri, Koke und Pedri bot Enrique drei zentrale Mittelfeldspieler auf - so weit so gut. Mit Marcos Llorente, ebenfalls ein gelernter Mittelfeldspieler, und Ferran Torres zogen allerdings noch zwei weitere Akteure in die Mitte. Verwaiste Flügel und ein überladenes Zentrum? Mehr in die Karten Spielen konnte Spanien dem schwedischen Bollwerk kaum.
Anstatt schnell über die Außen zu kombinieren, wurde sich der Ball in der Mitte hin und her geschoben, ohne einen Raumgewinn zu erzielen. Phasenweise glich es einem Tiki-Schlaffi anstatt dem typischen Tiki-Taka. Es fehlte einfach der Mut zum Risiko!
In der Folge agierte Jordi Alba als Linksaußen, die rechte Seite wurde aber oft vernachlässigt. Das lag auch daran, dass Schwedens Rechtsverteidiger Lustig mit Olmo und Alba ein ums andere Mal sichtlich überfordert war. In der zweiten Hälfte aber stellten die Schweden die Seite weitgehend zu und machten somit die Offensivbemühungen zunichte.
Erst mit der Einwechslung von Pablo Sarabia kam Schwung ins spanische Spiel. Sarabia blieb auf den Außen, brachte eine Flanke nach der nächsten in den Strafraum und empfahl sich nachhaltig als Option für die Startelf im zweiten Gruppenspiel. Sowohl die Polen (19.6.) als auch die Slowaken (23.6.) werden sich in ihrer Spielanlage gegen die Spanier nicht groß von den Schweden unterscheiden.
Nur ohne Zlatan möglich: Schwedens Portugal-Taktik ging auf
"Es ist im Prinzip das Spiel Pauke gegen Violine, beides sind Instrumente, beide machen am Ende Musik und natürlich ist beides am Ende auch legitim", beschrieb Katrin Müller-Hohenstein im ZDF den Unterscheid beider Taktiken.
Während die Spanier sich spielerisch die Zähne ausbissen, parkten die Schweden vor dem eigenen Sechzehner den Bus. Eine zwar biedere, aber am Ende erfolgreiche Taktik. Zwei kompakte Viererketten versuchten, die Räume zuzustellen, dazu mussten die Stürmer Alexander Isak und Marcus Berg ein enormes Laufpensum abspulen.
Doch die Herangehensweise, hinten kompakt zu verteidigen und vorne auf den "einen genialen Moment" (Emil Forsberg) zu warten, wäre fast vom ultimativen Erfolg gekrönt gewesen. Sowohl Isak als auch Berg ließen diesen einen Moment, die Großchance auf die 1:0-Führung, verstreichen.
Die schwedische Taktik, sie wäre mit Stürmer-Star Zlatan Ibrahimovic, der verletzungsbedingt das Turnier verpasst, tendenziell wohl nicht möglich gewesen wäre. Einerseits ist der mittlerweile 39-Jährige im hohen fußballerischen Alter nicht mehr der Laufstärkste, andererseits darf bezweifelt werden, dass sich der selbsternannte Gott so in den Dienst des Teams gestellt hätte. Im Gegensatz dazu hätte Ibrahimovic die Chancen von Isak und Berg aber wohl eiskalt genutzt.
gettyBereits 2018 kämpften sich die Schweden bei der WM in Russland auf Basis einer sattelfesten Defensive bis ins Viertelfinale. Damals wurden sie erst von England (0:2) gestoppt. Die Spielweise erinnert stark an die EM 2016, in deren Verlauf sogar der spätere Europameister Portugal es ohne Sieg in die K.o.-Phase schaffte. Ein Erfolgsmodell, das Schweden nun offenbar nachahmen will.
EM 2021: Die Tabelle der Gruppe E
Pl. | Team | Sp | S | U | N | T | G | Diff | P |
1 | Slowakei | 1 | 1 | 0 | 0 | 2 | 1 | +1 | 3 |
2 | Spanien | 1 | 0 | 1 | 0 | 0 | 0 | +0 | 1 |
3 | Schweden | 1 | 0 | 1 | 0 | 0 | 0 | +0 | 1 |
4 | Polen | 1 | 0 | 0 | 1 | 1 | 2 | -1 | 0 |