Nach einem verkorksten ersten Halbjahr ging bei Eintracht Frankfurt die Angst um. Sogar die so hoch gelobte Vereinsführung um Fredi Bobic geriet zumindest in Ansätzen in die Kritik. Doch nach dem besten Rückrundenstart seit 50 Jahren ist nun alles anders - einer Systemumstellung, Tor-Phänomen Timothy Chandler und der neuen Kaffemaschine von Filip Kostic sei Dank. Der eingekehrte Frieden ist jedoch noch ein trügerischer.
Nach einem Sprint über den gesamten Platz stand Kevin Trapp endlich vor ihm. Der Torhüter der Eintracht hatte sich im Heimspiel gegen den FC Augsburg am Freitagabend in der 89. Minute auf den Weg nach vorne gemacht. Nicht um kurz vor Schluss noch mit einem Verzweiflungsakt den Ausgleich für seine Mannschaft zu erzwingen, wie es schon einmal in der Bundesliga Jens Lehmann oder Marwin Hitz getan hatten.
Nein, darum ging es dem 29-Jährigen gar nicht. Er wollte nur zu Filip Kostic, der soeben das 4:0 gegen die Fuggerstädter erzielt hatte, und sich mit dem Torschützen auf einen imaginären Espresso an der gegnerischen Grundlinie treffen. Schließlich war es die Kraft der Kaffebohne gewesen, die nach Meinung von Trapp eine elementare Rolle beim Leistungsaufschwung des Serben und dementsprechend auch bei dem der SGE im Jahr 2020 gespielt hatte.
"Er hat sich eine neue Espressomaschine gekauft, die anscheinend Wunder bewirkt", sagte Trapp nach dem verdienten 3:1-Sieg im DFB-Pokal über den designierten Meisterschaftsanwärter RB Leipzig am Dienstag, bei dem Kostic mit zwei Toren einmal mehr der entscheidende Mann für die Frankfurter war.
Und als er am Freitag gegen Augsburg einfach da weitermachte, wo er gegen Leipzig aufgehört hatte, an vier der fünf Frankfurter Toren direkt beteiligt war und binnen 72 Sekunden den schnellsten Doppelpack in der Bundesliga seit Robert Lewandowskis legendärem Auftritt gegen Wolfsburg anno 2015 schnürte, fiel es noch leichter, den unermüdlichen 27-Jährigen zumindest zu einer Gesichtshälfte des Frankfurter Höhenflugs hochzustilisieren.
gettyEintrachts unverhoffter Torjäger Chandler: "Das ist irre"
Die andere Hälfte ist aber zweifellos Timothy Chandler, der als gelernter Rechtsverteidiger seine unverhofften Qualitäten als Torjäger "erst einmal verarbeiten" müsse, wie er nach dem freitäglichen Kantersieg (5:0) im Gespräch mit DAZN mitteilte. Gegen Augsburg schoss der 29-Jährige seine Rückrundentreffer drei und vier.
Zuvor hatte er zum Auftakt ins Jahr 2020 den Siegtreffer gegen Hoffenheim und den Last-Minute-Ausgleich gegen Fortuna Düsseldorf erzielt. "Das ist irre, das ist unglaublich", bemühte sich Chandler anschließend um Erklärungsversuche, ließ es dann aber doch bleiben. Schließlich mache er normalerweise in der Saison maximal zwei Tore "und dann war es das".
Nun aber ist Chandler "auf Haalands Spuren", wie einige Statistiker anmerkten. Und rein rechnerisch ist tatsächlich nur das BVB-Stürmerjuwel aus Norwegen in der Bundesliga-Rückrunde mit sieben Toren in vier Spielen treffsicherer als der gebürtige Frankfurter, der schon so viel in seiner Karriere hatte durchmachen müssen.
Ein Wendepunkt in dieser Laufbahn war der 10. Februar 2014. Im Derby gegen den FC Bayern München mussten sie den damaligen Nürnberger Chandler weinend und vor Schmerzen schreiend auf einer Trage vom Platz bringen. Die Diagnose war ein Schock: Meniskuseinriss, zehn Wochen Pause. Doch das war nur der Anfang.
imago imagesEintracht Frankfurt: Systemumstellung bringt das Glück zurück
Drei weitere schwere Knieverletzungen zwangen den 29-fachen US-Nationalspieler immer wieder zu langen Pausen. Noch zwei weitere Male riss ihm der Meniskus, dann folgte im Sommer 2018 ein Knorpelschaden, der eine OP am vorgeschädigten rechten Knie unumgänglich machte.
Ein einziges Spiel machte er in dieser so großartigen vergangenen Europapokalsaison der Frankfurter - und ausgerechnet da versagte die SGE im Kollektiv. Mit 1:6 ging Frankfurt bei Bayer Leverkusen unter, doch immerhin das "Jucken in den Füßen", das Chandler nach eigener Aussage so lange am Spielfeldrand begleitet hatte, wurde etwas gelindert.
Mittlerweile dürfte es gänzlich verschwunden sein. Chandler ist seit Mitte Dezember wieder gesetzt, machte seit dem 15. Spieltag jede Partie von Beginn an, auch weil Trainer Adi Hütter fast schon verzweifelt eine Erfolgsformel suchte. Ein Heilmittel gegen die spielerische Einfallslosigkeit und die defensive Anfälligkeit, die die SGE durch weite Teile der Hinrunde begleitete.
Er fand sie erst "nach der Analyse im Herbst", als er zu dem Schluss kam, "dass wir einfach zu viele Gegentore bekommen". 2,0 waren es im Schnitt pro Spiel, dem standen jedoch nur 0,86 eigene Tore entgegen. "Das musste wieder in die Balance gebracht werden", erklärte Hütter.
Er traf schon beim desaströsen 1:2 gegen den SC Paderborn zum Abschluss der Hinrunde eine wegweisende Entscheidung. Statt mit einer Dreierkette ließ er irgendwann im 4-4-2 spielen - und blieb trotz der niederschmetternden Erfahrung in Ostwestfalen dabei.
Eintracht blüht im 4-4-2 auf: In den Zaubertrank gefallen
Zum Glück für beispielsweise Kostic, der in jenem System mehr Freiheiten auf dem Flügel bekommt und seinen Fokus auf Sprints in der Offensive legen kann, während die Defensive mit David Abraham und Martin Hinteregger im Zentrum und einem klaren Sechser davor wesentlich stabiler wirkt.
Auch zum Glück für Chandler, der so gesehen als Außenspieler neben dem formschwachen und mittlerweile von Almany Toure in der Viererkette verdrängten Danny da Costa die einzige Alternative auf dem rechten Flügel ist.
"Bei ihm gehen einem die Superlative aus. Da muss man sich fragen, welchen Zaubertrank der getrunken hat. Den hätte ich auch gerne", scherzte Sebastian Rode nach dem ersten Doppelpack Chandlers in seiner Bundesligakarriere.
In den Zaubertrank gefallen. Die bekannte Redensarts aus den ebenso bekannten Asterix-Comics von Rene Goscinny und Albert Uderzon passt zu dem, was sich in Frankfurt seit dem Jahresbeginn abspielt, wenn auch zumindest vor dem Kantersieg gegen Augsburg dem dauerhaften Erfolgsbraten der SGE niemand so recht trauen wollte.
Eintracht Frankfurts verkorkste Hinrunde: Sehnsucht nach Ante
Schließlich war der gegen Leipzig im Pokal und gegen den FCA am Freitag so heiße Kaffee, den Kostic und Co. in dessen neuer Espressomaschine brauten, in der Hinrunde noch dauerhaft kalt, zu dünn und zuweilen ungenießbar. Zu anfällig war die Defensive in großen Teilen der ersten 17 Spiele. Zu einfallslos die Offensive, die erfolglose Flanke an erfolglose Flanke reihte.
Und zu viel Glück war trotz der Systemumstellung bei den Erfolgserlebnissen in der Rückrunde im Spiel. In der ersten Halbzeit gegen Leipzig in der Bundesliga beispielsweise oder beim spielerisch erschreckenden Auftritt in Düsseldorf, als die SGE sich über eine Niederlage beim spielwitzlosen Abstiegskandidaten nicht hätte beschweren dürfen.
Gerade gegen die Fortuna war die Sehnsucht nach der berüchtigten Büffelherde aus der vergangenen Saison wieder greifbar. Nach Luka Jovic, der 27 Pflichtspieltreffer erzielt hatte und zu Real Madrid ging. Nach Sebastien Haller, dem Dreh- und Angelpunkt in der Frankfurter Offensive, der in die Premier League zu West Ham United gewechselt war.
Und nach Ante Rebic, der spätestens seit seinem Doppelpack im Pokalfinale 2018 gegen den FC Bayern ohnehin von den SGE-Fans nahezu und trotz seines Wechsels zum AC Milan bedingungslos geliebt wird.
Anstelle der drei Büffel war gegen Düsseldorf wie schon über weite Teile der Hinrunde der Stürmer Nummer vier aus der vergangenen Saison, Goncalo Paciencia, plötzlich Stürmer Nummer eins, während der erste Frankfurter Königstransfer Andre Silva (AC Milan) meistens ohne Bindung zum Spiel und unfokussiert wirkte und der zweite Königstransfer Bas Dost (Sporting Lissabon) mit Fitness- und Verletzungsproblemen zu kämpfen hatte.
Eintracht Frankfurts Wintertransfers: Die Akte Ilsanker
Es waren nicht nur diese zwei Personalien, wegen derer sich der sonst für seine Transferpolitik so hochgelobte Sportvorstand Fredi Bobic plötzlich Kritik stellen musste. Es schien so, als hätte er sein magisches Händchen bei der Kaderplanung verloren, sieht man von den erfolgreichen Festverpflichtungen der ehemaligen Leihspieler Rode, Trapp und Hinteregger einmal ab.
Denn wirklich überzeugen konnten die dazugeholten Dominik Kohr, Erik Durm, Djibril Sow, Dejan Joveljic, Dost und auch Silva nicht - sofern sie im Falle von Durm oder Joveljic überhaupt spielen durften.
Der 100-Millionen-Euro-Sommer der Eintracht war gekommen und wieder gegangen und mit ihm die Chance, sich mit der Reinvestition der Transfererlöse von Jovic und Haller auf Dauer im oberen Drittel der Bundesliga und im Kampf um das internationale Geschäft festzusetzen. So zumindest kritische Stimmen.
Und als Bobic nach dem desaströsen Bundesliga-Herbst mit nur einem Punkt aus den letzten sieben Hinrundenspielen zwar auf dem Wintertransfermarkt tätig wurde, nicht aber den so sehnlichst vermissten Rebic zurück-, sondern stattdessen in Stefan Ilsanker von RB Leipzig nur einen gelernten Sechser und dazu noch einen Spieler holte, der die Fans der Eintracht einst als Vollidioten verunglimpft hatte, war das für den ein oder anderen Anhänger der SGE an Fragwürdigkeit kaum noch zu übertreffen.
Doch im neuen System "ergibt das alles einen Sinn plötzlich", wie Hessenschau-Redakteur Mark Weidenfeller im Videpodcast Fussball 2000 nach dem 5:0 gegen Augsburg bemerkte. Sogar der Transfer von Ilsanker. Der stellte im Spielverlauf seine Variabilität unter Beweis und wechselte nach 30 Minuten von der Sechserposition in die Innenverteidigung für den verletzten Abraham und gewann dort fast 90 Prozent seiner Zweikämpfe.
Bobic kontert Kritiker: "Panik im Umfeld ist lächerlich gewesen"
Und Bobic? Der packte die Gelegenheit nach dem Kantersieg am Freitag und dem damit besten Rückrundenstart seit 50 Jahren, bei dem auch der vielkritisierte Silva erneut ein gutes Spiel und ein Tor machte, beim Schopfe und stellte ein paar Sachen klar, die ihm in dem ganzen Gerede über das verkorkste erste Halbjahr sauer aufgestoßen waren.
"Diese Panik, die wir im Umfeld gehabt haben, ist lächerlich gewesen", sagte er und begründete den Leistungsaufschwung im neuen Jahr auch berechtigterweise, aber besonders damit, dass die Spieler nach 59 Pflichtspielen im Jahr 2019 "endlich mal Pause gehabt" hätten.
"Jeder, der der das nicht begreifen möchte, der muss das auch mal selbst erlebt haben - und wenn er es nicht selbst erlebt hat, kann er auch nicht davon reden", ergänzte er vielsagend in Richtung der Kritiker, die angesichts der Rückrundentabelle nach aktuellem Stand deutlich leiser geworden sein dürften.
Nur der FC Bayern holte neben der Eintracht im neuen Spieljahr zehn Punkte aus den ersten vier Spielen. Doch nun beginnen für die SGE wieder die harten Wochen der Doppelbelastung mit Europa League und Bundesliga. Zunächst reisen die Frankfurter am kommenden Freitag nach Dortmund, anschließend ist RB Salzburg in der EL-Zwischenrunde zu Gast.
Zwei schwere Spiele, die die Stimmung in Frankfurt auch schlagartig wieder ändern können. Denn der in der Mainmetropole eingekehrte Frieden ist noch ein trügerischer. Die Erinnerungen an die Hinrunde, in der die SGE erst gegen Bayer Leverkusen gewann, dann die Bayern mit 5:1 abschoss, schon wieder feuchte Europapokalträume die Runde machten und anschließend nur noch ein einziger Zähler raussprang, sind dafür noch zu präsent.
An der Skepsis ändern auch Chandlers Zaubertrank, Kostics Espresso und Hütters Systemumstellung nichts.
Bundesliga-Rückrundentabelle: Nur Bayern besser als die SGE
Platz | Mannschaft | Sp. | S. | U. | N. | Tore | Dif. | Pk. | |
1 | Bayern München | 4 | 3 | 1 | 0 | 12:1 | 11 | 10 | |
2 | Eintracht Frankfurt | 4 | 3 | 1 | 0 | 10:2 | 8 | 10 | |
3 | Borussia Dortmund | 4 | 3 | 0 | 1 | 18:8 | 10 | 9 | |
4 | Bayer Leverkusen | 4 | 3 | 0 | 1 | 12:6 | 6 | 9 | |
5 | 1. FC Köln | 3 | 2 | 0 | 1 | 8:6 | 2 | 6 | |
6 | 1899 Hoffenheim | 4 | 2 | 0 | 2 | 6:4 | 2 | 6 |