Am Tropf der Jugend

Stefan Rommel
08. September 201416:15
Hier werden Stars gemacht: Der legendäre Sportpark "De Toekomst" von Ajax Amsterdamimago
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Wenn Vereine in finanzielle Schieflage geraten, greift der übliche Reflex: Das Tafelsilber wird verkauft, um der Insolvenz zu entgehen. Beim TSV 1860 München, Ajax Amsterdam und dem FC Porto spielt der Transfer für die Ideologie des Klubs eine entscheidende Rolle - und wird doch ganz unterschiedlich interpretiert.

Wie das alles anfing? Beim TSV 1860 München kann man sich nicht mehr so recht daran erinnern. Oder man will es nicht. Und vielleicht kann man das mit Sicherheit auch gar nicht mehr bestimmen. Was nichts daran ändert, dass in München-Giesing die Verhältnisse längst aus dem Gleichgewicht geraten sind.

Verkaufen, um zu überleben

Qualität und Quantität ausgebildeter Spieler sind im deutschen Fußball in den letzten zehn Jahren längst zu einer aussagekräftigen Benchmark gewachsen. Die Zeiten, als die Jugendmannschaften ein Anhängsel der Profiabteilung waren, verbannt in eine Art Parallelwelt und strikt getrennt vom Profibetrieb, sind vorbei.

Das Umdenken vor einigen Jahren drosselte den Zustrom vor allen Dingen osteuropäischer Spieler in die deutschen Profiligen. Seitdem genießt die Ausbildung eigener Spieler eine andere Priorisierung. Im besten Fall nährt sich davon die erste Mannschaft, wird dem Profikader immer frisches Blut zugeführt, der letztlich den sportlichen Erfolg sicherstellen soll. Im schlechtesten Fall wird - unfreiwillig - produziert, um schlicht zu überleben. Wie beim TSV 1860.

SPOX

Umkehrschwung an der Grünwalder Straße

Die Löwen sind ein Vorzeigebeispiel deutscher Nachwuchsausbildung. 14 aktuelle Bundesligaspieler entspringen dem Internat an der Grünwalder Straße, darunter die A-Nationalspieler Lars und Sven Bender, Marcel Schäfer und Christian Träsch. Die Löwen sind aber auch ein Beispiel dafür, wie man das wertvollste Kapital Jahr für Jahr ins Schaufenster stellen muss - um die Fehler auf anderen Gebieten zu kaschieren. Wie man keine Wahl hat, sondern handeln muss. Oder man meldet Insolvenz an.

Nimmt man die letzten 20 Jahre, hatte 1860 da in der ersten Hälfte nur drei Spielzeiten, in denen ein Transferüberschuss erzielt wurde. Sieben Mal gaben die Löwen aber mehr Geld aus, als sie durch Spielertransfers eingenommen hatten. In dem Zeitraum betrug das negative Transfersaldo 5,3 Millionen Euro.

Danach folgte die zwangsweise Abkehr, der Transferüberschuss aus den letzten elf Jahren betrug 19,4 Millionen Euro, in neun von zehn Spielzeiten wurde ein Plus auf dem Transfermarkt erzielt. Das alles, um die Bilanzen aufzubessern oder den Exitus zu verhindern. In einer derart markanten Ausprägung, gemessen am jeweiligen Marktwert der Mannschaft, bewegte sich in Deutschland kein anderer Profiklub in diesem Zeitraum.

DFB führt Ausbildungsentschädigung ein

Das Prädikat Ausbildungsverein sollte eigentlich die besondere Güte eines Klubs auf diesem Gebiet beschreiben. Letztlich ist es aber ein Indiz dafür, dass in anderen Bereichen nicht so erfolgreich gearbeitet wird. Der Ausbildungsverein kann nicht das Ende der Nahrungskette bilden. Er bewegt sich mittendrin, manchmal auch etwas weiter unten.

Der Deutsche Fußball Bund hat vor einigen Jahren auf ein Problem in den kleineren Ligen reagiert und die Ausbildungsentschädigung bei Transfers von Nicht-Lizenzspielern unter 23 Jahren geregelt. 50.000 Euro werden im Bereich der Bundesliga pro Verein fällig, die Hälfte bei einem Transfer der 2. Liga. Brotkrumen im Vergleich zu den Transfererlösen in sieben- oder achtstelliger Höhe im Spitzenbereich - für einen Amateurklub aber immerhin eine willkommene Zusatzeinnahme.

Selbst im Amateurbereich wurden verbindliche Zahlen festgelegt, um die Vereinswechsel selbst in den untersten Ligen finanziell zu entlohnen. Die Grundbeträge etwa beim Badischen Fußballverband lauten: Regionalliga 3750 Euro, Oberliga 2500 Euro, Verbandsliga 1500 Euro, Landesliga 750 Euro, Kreisliga 500 Euro, ab A-Klasse 250 Euro.

Wie ein ewiger Kreislauf

Der Transfer als lebenserhaltende Maßnahme ist kein Phänomen der Neuzeit. Vom Mannheimer Waldhof aus eroberten zahlreiche Spieler in den 80er Jahren die Bundesliga, später war der Karlsruher SC ein gern besuchter Einkaufsladen für die besser betuchten Klubs, ebenso wie die Stuttgarter Kickers, die zahllose Spieler zum großen VfB abgeben mussten.

Waldhof-Kickers-KSC von damals sind heute Hertha-Stuttgart-SCF. In Berlin und Stuttgart noch in einem anderen Maße und auf anderem Niveau als in Freiburg. Dort schickte Trainer Christian Streich in der abgelaufenen Bundesliga-Saison zehn Spieler ins Rennen, die in der eigenen Fußballschule ausgebildet wurden. Kein anderer Bundesligist hatte eine annähernd hohe Quote. Und kein anderer in der Sommerpause einen so immensen Aderlass zu verkraften.

Es ist der ewige Kreislauf aus Ausbildung, Verkauf und Refinanzierung, der Klubs wie Freiburg im Zirkel der Großen mitspielen lässt. Bricht eine Säule längerfristig ein, gerät das Konstrukt ins Wanken.

Bei Ajax Amsterdam kennt man das Szenario nur zu gut. Bryan Roy steht hinter der Arena in Amsterdam-Zuidoost und schaut auf die Geburtsstätte etlicher Stars, den Sportpark "De Toekomst".

"Wir haben viermal die Champions League gewonnen, sind Rekordmeister und -pokalsieger in Holland und trotzdem eine Art Ausbildungsverein. Normalerweise würde man dieses Phänomen der 'Mittel- und Unterschicht' der Klubs zuweisen, aber selbst auf unserem Niveau und trotz permanenter Teilnahme an der Champions League sind wir streng genommen nichts anderes."

Seite 2: Ajax und Porto als Vorbilder

Ajax Amsterdam ist ein Gigant in der heimischen Liga, im internationalen Vergleich aber mittlerweile ein kleiner Fisch. Der erfolgreichste Klub der Niederlande steckt zwischen zwei Welten fest: Der zu klein geratenen Eredivisie und der überdimensionalen Champions League.

"Am Ende bleibt einem Verein wie Ajax gar nichts anderes übrig, als seine besten Spieler in jungen Jahren regelmäßig ziehen zu lassen", sagt Roy, Mitglied der Ajax-Academy und Trainer bei der zweiten Mannschaft Jong Ajax. Er war einst selbst Schüler bei Ajax.

"In den Niederlanden sind keine hohen Einnahmen aus TV-Verträgen zu verdienen, Sponsoring und Marketing sind verglichen mit den Top-Ligen in Europa eine Randerscheinung. Also hat sich Ajax wieder auf das verlassen, was es schon immer konnte: Schlauer und schneller sein als andere. Und besser ausbilden."

Die andere Rückkaufoption

Die Chance, in der Königsklasse jemals wieder eine wichtige Rolle spielen zu können, tendieren wohl gegen Null. "Wir beginnen jede Saison wieder von Neuem. Deshalb ist es wichtig, dass die entscheidenden Posten im Klub langfristig besetzt sind." Trainer Frank de Boer hat vor ein paar Wochen bis 2017 verlängert, ihm assistieren in verschiedenen Funktionen mit seinem Bruder Ronald, Dennis Bergkamp und Jaap Stam andere ehemalige Ajax-Ikonen. Marc Overmars ist Technischer Direktor. Und über allen schwebt Johan Cruyff, als Berater und Kritiker.

"Das ist der Weg: Wir holen Qualität und Vereinstreue ins Boot, um Qualität und Vereinstreue zu produzieren", sagt Roy. Jeder Ajax-Spieler, der den Verein verlässt, soll die Chance haben, jederzeit auch wieder zurückzukehren. Eine etwas andere Rückkaufoption, ganz ohne Geldfluss.

Rund 100 Millionen Euro Transferüberschuss hat Ajax in den letzten zehn Jahren erzielt und ist damit einer der ganz wenigen Klubs in Europa, die auf diesem Niveau schwarze Zahlen schreiben konnten. Von den Top-Klubs Europas war lediglich der FC Valencia knapp an der schwarzen Null - der Rest prasste und prasst munter weiter.

Chelsea versus Porto

Spitzenreiter ist der FC Chelsea mit einem Minus von rund 800 Millionen Euro, gefolgt von Real Madrid (etwa 770 Mio.) und Manchester City (etwa 600 Mio.). Und auf der anderen Seite stehen Udinese Calcio und der FC Porto, mit gänzlich unterschiedlichen Leitlinien.

Udine mit rund 170 Millionen Euro Überschuss, Porto hat allein in dieser Transferperiode bisher 45 Millionen Euro mehr eingenommen als die Portugiesen ausgegeben haben. Und das, nachdem in den Jahren davor schon Spieler wie Hulk oder Radamel Falcao den Klub verlassen hatten. Das Transfersaldo des FC Porto kratzt für die letzte Dekade an der 300-Millionen-Marke. Mehr als 30 Prozent steuert Porto zum Gesamtumsatz des Klubs aus dem Topf der Spielerverkäufe bei.

Porto hat es wie kein anderer Klub auf der Welt verstanden, seinen Standortnachteil in einen Vorteil zu verkehren. Auch die portugiesische Liga gehört nicht zu den stärksten, im westlichsten Land Europas hat Porto aber die Schleusen besonders für den südamerikanischen Markt geöffnet und ist mittlerweile die erste Anlaufstelle für Talente aus Südamerika.

Sachte Kundenakquise

Die Verbindungen zur Agentur Gestifute des Spielervermittlers Jorge Mendes erwies sich als Volltreffer, Präsident Jorge Nuno Pinto da Costa ist seit über 30 Jahren im Amt und die große Konstante. Er hat das Scoutingsystem ins Leben gerufen, das so fein verzweigt ist, dass es bis in die oberpfälzische Provinz reicht.

Philipp Hercher und Rico Preißinger durften vor vier Jahren beim FC Porto vorspielen. In einem Trainingscamp der Deutsch-Tschechischen Fußballschule waren beide den Scouts der Portugiesen aufgefallen. Für eine Woche wurden die damals 13-Jährigen nach Porto eingeladen, durften in der Akademie reinschnuppern.

Was besonders hängengeblieben ist? "Die Toleranz und Disziplin, mit der beim FC Porto schon im Jugendinternat miteinander umgegangen wird", sagt Hercher. In Deutschland bekommen die Jugendlichen zumeist Einzelzimmer, in der Porto-Akademie teilen sich vier bis sechs Spieler einen Raum. Die Trainingsanlagen sind für Außenstehende tabu, selbst die Eltern haben keinen Zutritt.

Für die beiden Deutschen war der Ausflug nach Porto eine Art Belohnung für die Arbeit an der Fußballschule, für den FC Porto aber eine erste zaghafte Kundenakquise. Ausgaben wie diese laufen im wahrsten Sinne des Wortes unter Werbungskosten, belegen aber auch, wie angestrengt und detailversessen Porto sein Portfolio auch auf Länder ausweitet, deren Ligen finanzstärker sind und deutlich mehr Strahlkraft ausüben.

Nicht umsonst findet das Modell der Portugiesen jetzt auch Nachahmer. Zwei der begehrten Porto-Scouts unterschrieben zuletzt Verträge bei Schachtjor Donezk.

Suchen, kooperieren, vernetzen

Porto hat auch nie vor den vermehrt auf den Markt drängenden Agenturen Halt gemacht. Im Gegenteil. Partner-Klubs suchen, Kooperationen eingehen, gemeinsames Scouting intensivieren, Synergien schaffen, besser vernetzt sein - das alles schaffte und schafft der FC Porto mit den Sportmarketingagenturen.

"Traffic Sports Marketing" ist eine der größten weltweit, in Deutschland ist diese Form der Transferrechte-Fonds noch kaum am Markt. Der Hamburger SV hat sich mit dem von Gönner und Investor Klaus-Michael Kühne ins Leben gerufenen "Anstoß³" vor einigen Jahren mal versucht, musste die Idee aber schnell wieder begraben.

Beim 1. FC Köln hielt die Steuerberatungsgesellschaft "ETL Group" des Unternehmers Franz-Josef Wernze Teile der Transferrechte der Spieler Lukas Podolski, Pedro Geromel und Slawomir Peszko.

Die UEFA will regulieren - wohl vergeblich

Der Trend geht zu einem dritten Verhandlungspartner am Tisch. Neben dem abgebenden und aufnehmenden Klub sitzen immer öfter auch Unterhändler verschiedener Agenturen mit in den Verhandlungsrunden, die Teile der Transferrechte der Spieler halten. SPOX

"Traffic Sports" geht so weit, dass die Firma Klubs in Brasilien, den USA und Portugal unterhält, um so Spieler aus der eigenen Akademie leichter auf den jeweiligen Markt zu bringen. Manchester United ging vor fünf Jahren eine Kooperation mit den Brasilianern ein.

Im Dezember letzten Jahres hat die UEFA ein Gesuch an die FIFA gestellt, die "Dritteigentümerschaften an Spieler-Transferrechten grundsätzlich zu verbieten". Der Weltverband solle weltweit gültige Regeln erlassen, um den Wettbewerb wieder übersichtlicher zu gestalten. Offenbar ein recht schwieriges Unterfangen, bisher hat sich die FIFA zu keiner Regelung durchringen können.

Das weite Feld der Spielertransfers wird im Profibereich unübersichtlich bleiben, dafür sind zu viele Parteien beteiligt und zu viel Geld im Umlauf. Vereine, Spieler, Agenturen, Vermittler, Anwälte und Berater sind darauf angewiesen, zu kaufen oder zu verkaufen. Ihre Klientel wird dabei immer jünger und die finanziellen Dimensionen enormer. Die Spirale dreht sich einfach weiter.

Die aktuellen Bundesliga-Transfers