Italiens Nationalmannschaft wird am Tag nach dem sensationellen WM-Aus in der Heimat mit Häme und Kritik überschüttet. Marcello Lippi tritt stilvoll ab, sein Nachfolger Cesare Prandelli muss einen Neuanfang starten und sich mit grundsätzlichen Problemen auseinandersetzen.
Die Szene erinnerte stark an die EM 2004. Fabio Quagliarella brach nach dem 2:3 gegen die Slowakei und dem damit besiegelten WM-Aus Italiens in Tränen aus und wollte nicht mehr aufhören zu weinen. Auch die Umarmung von Kapitän Fabio Cannavaro konnte die Tränen des Napoli-Stürmers nicht stoppen. Selbst Minuten später beim Interview mit dem italienischen Staatsfernsehen ließ Quagliarella seinen Tränen immer noch freien Lauf.
2004 war es Antonio Cassano, der nach dem 2:1-Sieg gegen Bulgarien im letzten Vorrundenspiel hemmungslos geweint hatte. Parallel hatten sich Schweden und Dänemark 2:2 getrennt, Italien war damit ausgeschieden. So wie Cassano damals wird Quagliarella diesmal zum Symbol des italienischen Scheiterns.
"Lippi, das ist deine Schuld"
Cassano ist ein Name, den Italiens Coach Marcello Lippi in den kommenden Tagen noch öfter hören wird. Der Sampdoria-Spielmacher steht stellvertretend für jene Spieler, die aus Sicht der italienischen Öffentlichkeit mit nach Südafrika hätten genommen werden müssen. Cassano führt die Reihe der Balotellis, Tottis, Rossis und Miccolis an - keiner von ihnen stand im WM-Kader.
Stattdessen baute Lippi auf einen Block von sechs Juve-Spielern und auf viele der WM-Helden von 2006 - und bekommt jetzt die Rechnung dafür. "Lippi, das ist deine Schuld" titelte "Tuttosport" nach dem Schlusspfiff. Am Tag danach schlug die Presse noch gnadenloser zu.
"Alles schwarz! Das schlechteste italienische Team aller Zeiten ist draußen" verkündete die "Gazzetta dello Sport" in Versalien auf ihrer Titelseite. Beinahe 87 Prozent der "Gazzetta"-User teilen diese Meinung, noch nie sei Italien so schlecht gewesen.
Lippi: "Ich nehme die Verantwortung auf mich"
Das Projekt "Lippi 2" ist kläglich gescheitert, Lippi selbst nannte die Gründe dafür: "Wenn sich eine Mannschaft in einem so wichtigen Spiel wie terrorisiert präsentiert, heißt das, dass der Trainer die Partie psychologisch, technisch und taktisch nicht gut vorbereitet hat."
Terrorisiert - Lippi hätte kein besseres Wort finden können. Die Angst war den Azzurri in allen drei Partien anzumerken, mit Ausnahme von Quagliarella erreichte kein Spieler während der drei Spiele seine Normalform. "Ich nehme die gesamte Verantwortung auf mich. Vor vier Jahren habe ich die richtige Mischung gefunden, diesmal ist es mir nicht gelungen", so Lippi.
"Wenn man in drei Spielen, zwei davon gegen Neuseeland und die Slowakei, nicht einmal gewinnt, ist es richtig, dass man nach Hause fährt", konstatierte Gianluigi Buffon - und fügte an: "Das ist kein besonders toller Moment für unseren Fußball, das hat sich abgezeichnet. Seit zwei Jahren heißt es, viele Spieler seien ausgelaugt, aber ich sehe keine großen Alternativen."
Die Alternativen gibt es, sie hören auf die Namen Mario Balotelli, Leonardo Bonucci, Davide Santon oder Giampaolo Pazzini. Der Großteil von ihnen scheiterte im vergangenen Jahr mit dem U-21-Team im EM-Halbfinale an Deutschland, war aber spielerisch mit Özil, Marin und Co. mindestens ebenbürtig.
Neuanfang mit Cesare Prandelli
Auf diese Spieler wird Cesare Prandelli bauen. Der Ex-Fiorentina-Coach wird die Azzurri von Lippi übernehmen und bereits am 11. August das "neue Italien" beim ersten Testspiel präsentieren. Klar ist, dass es eine Revolution geben wird. Ein Neuanfang im großen Stil.
Viele Spieler der 2006-Generation wie Cannavaro und Gennaro Gattuso treten ab, andere wie Gianluca Zambrotta und Mauro Camoranesi werden wohl auch ohne freiwilligen Rücktritt keine Zukunft mehr haben.
Prandelli wird auf die Jugend setzen. In Florenz hat er bewiesen, dass er mit jungen Spielern arbeiten und sie formen kann. "Wir haben uns für Prandelli aufgrund seiner Qualitäten in der Arbeit mit jungen Spielern entschieden", sagte Verbandspräsident Giancarlo Abete am Tag nach dem Ausscheiden und kündigte an, dass Prandelli am 1. Juni offiziell präsentiert wird.
Die Chance für Balotelli, Santon und Co.
Für Abete ist klar, dass sich vor allen Dingen strukturell etwas im italienischen Fußball ändern muss: "Die Probleme der Nationalmannschaft betreffen auch die Klubs. Auch dort gibt es Probleme, den Generationswechsel zu vollziehen. Wir haben ein Problem mit der Anzahl und der Qualität der auswählbaren Spieler."
Die jungen Spieler brauchen Spielpraxis und das Vertrauen der Vereine. Prandelli allein wird diese Probleme nicht lösen können, er ist auf die Unterstützung der Klubs angewiesen.
"Das Scheitern der Nationalmannschaft ist auch ein Scheitern der Klubs. Es muss in die jungen Spieler investiert werden. Wir müssen wieder so eine Generation, wie wir sie 2006 hatten, heranziehen und einen Neuanfang starten. Mit Buffon, dem Kapitän und Giorgio Chiellini, dem ältesten der Jungen", so der scheidende Kapitän Cannavaro.