Nach der Pleite gegen Norwegen hat die deutsche Nationalmannschaft bei der EM nur noch minimale Chancen auf den Einzug ins Halbfinale. Bundestrainer Alfred Gislason denkt bereits an die Zukunft. Aber: Ausgerechnet das Herzstück wackelt. Die Erkenntnisse zum DHB-Team.
1. Ausgangslage: DHB-Team braucht ein Wunder
"Über das Halbfinale haben wir nie gesprochen, wir wollten von vornherein von Spiel zu Spiel schauen", stellte Bundestrainer Alfred Gislason nach der zweiten Niederlage im zweiten Hauptrundenspiel auf die verbliebenen Chancen angesprochen klar. In der Tat zählte das DHB-Team vor der EM nicht zum Kreis der Kandidaten für den Einzug in die Runde der letzten Vier.
Drei Siege in der Vorrunde und zwei mitgenommene Punkte hatten aber trotz der verheerenden Corona-Lage zumindest bei den Fans Träume von der großen Überraschung entstehen lassen. Diese Träume sind noch nicht endgültig, aber so gut wie geplatzt. Zwei halbwegs realistische Szenarien bleiben noch.
Erstens: Deutschland gewinnt seine Partien gegen Schweden (Sonntag, 18 Uhr im LIVETICKER) und Russland (Dienstag, 18 Uhr im LIVETICKER), Norwegen holt derweil gegen Spanien (Sonntag, 20.30 Uhr) und Schweden (Dienstag, 20.30 Uhr) maximal noch einen Punkt. Spanien wäre damit Gruppensieger, das DHB-Team stünde bei 6:4 Punkten, Norwegen bei 4:6 oder 5:5 Zählern und Schweden bei 5:5 oder 6:4 Punkten. Deutschland wäre aufgrund des direkten Vergleichs in diesem Fall auf jeden Fall vor Schweden und damit im Halbfinale.
Zweitens: Deutschland gewinnt gegen Schweden und holt einen Zähler gegen Russland, während Norwegen gegen Spanien verliert und gegen Schweden unentschieden spielt. Spanien wäre Gruppensieger, Deutschland, Schweden und Norwegen hätten jeweils 5:5 Punkte auf dem Konto. Es würde zum Dreiervergleich kommen, ein hoher Sieg der DHB-Auswahl gegen Schweden wäre also nötig.
Handball-EM: Tabelle der deutschen Hauptrundengruppe
Pl. | Land | Spiele | S | U | N | Tore | Diff. | Punkte |
1. | Spanien | 3 | 3 | 0 | 0 | 87:76 | +11 | 6 |
2. | Norwegen | 3 | 2 | 0 | 1 | 92:77 | +15 | 4 |
3. | Schweden | 3 | 2 | 0 | 1 | 85:73 | +12 | 4 |
4. | Deutschland | 3 | 1 | 0 | 2 | 76:80 | -4 | 2 |
5. | Russland | 3 | 1 | 0 | 2 | 71:77 | -6 | 2 |
6. | Polen | 3 | 0 | 0 | 3 | 72:100 | -28 | 0 |
Rein theoretisch wäre sogar noch die Konstellation möglich, dass Spanien, Deutschland, Schweden und Norwegen am Ende jeweils mit 6:6 Punkten dastehen und es zum Vierervergleich kommen würde. Da aber nicht zuletzt eine Niederlage von Spanien gegen Polen extrem unrealistisch ist, vergessen wir das besser schnell wieder.
"Wir beschäftigen uns nicht mit Rechenspielen und gucken bloß von Spiel zu Spiel", sagte Spielmacher Philipp Weber: "Wenn wir die beiden Spiele gewinnen, ist sicher noch was möglich, aber darauf schauen wir jetzt noch nicht."
Sollte das DHB-Team seine Hauptrundengruppe übrigens auf Rang drei abschließen, stünde noch das Spiel um Platz fünf auf dem Programm.
2. Gislason denkt schon an die Zukunft
Die Erwartungshaltung war wie angesprochen schon vor Turnierbeginn gering, durch den Corona-Ausbruch waren Wunderdinge endgültig nicht mehr zu erwarten. Selten war es also einfacher, jungen Spielern das Vertrauen zu schenken.
Gislason macht genau das - freilich auch, aber nicht nur aus Mangel an Alternativen. Das beste Beispiel ist der mit 21 Jahren jüngste DHB-Akteur Julian Köster, der in der 2. Liga für den VfL Gummersbach spielt, bei der EM von Beginn an im Kader stand und als eines der größten Rückraumtalente im deutschen Handball gilt.
Der linke Rückraumspieler glänzte gegen Polen mit sechs Toren, traf gegen Spanien dreimal und hatte auch gegen Norwegen mit drei Buden und mehreren starken Pässen gute Momente. Der gebürtige Bielefelder stand insgesamt 40 Minuten auf der Platte, lediglich Patrick Zieker (56), Johannes Golla (47) und Jogi Bitter (41) durften noch länger ran. Obwohl Gislason mit Paul Drux (15 Minuten) auf Kösters Position eine Alternative mit weitaus mehr Erfahrung gehabt hätte.
"Eigentlich bin ich nicht überrascht. Das macht er tagtäglich", hatte Gislason bereits nach dem Polen-Spiel über Kösters Leistungen gesagt: "Ich habe, glaube ich, alle seine Spiele in Gummersbach in den letzten anderthalb Jahren gesehen."
Auch der nachnominierte Lukas Stutzke durfte im Rückraum 12 Minuten ran. Der 24-Jährige vom Bergischen HC begann zwar nervös und versenkte letztlich nur einen seiner drei Würfe, wurde aber dennoch nicht sofort wieder ausgewechselt.
Das fällt in den vergangenen Tagen grundsätzlich auf: Gislason schenkt insbesondere den jüngeren Spielern sein Vertrauen und lässt sie auch Fehler machen. Der Isländer denkt bei dieser EM bereits an die Zukunft.
3. Spielmacher Weber genügt nicht höchsten Ansprüchen
Es hat sich bei den vergangenen Turnieren gezeigt und jetzt auch wieder beim ganz schwachen Auftritt gegen Spanien und bei der mäßigen Leistung gegen Norwegen: Deutschlands Spielmacher Philipp Weber hat zwar unter Gislason einen Schritt nach vorne gemacht, allerhöchsten Ansprüchen genügt er allerdings nicht. Ausgerechnet das Herzstück der Mannschaft!
Der 29-Jährige, der gegen die echten Brocken auch immer wieder seine körperlichen Grenzen aufgezeigt bekommt, schafft es einfach zu häufig nicht, der deutschen Mannschaft gerade in schlechten Phasen Stabilität zu verleihen.
Es hat durchaus eine Aussagekraft, wenn der erste Spielmacher der deutschen Nationalmannschaft bei seinem Verein SC Magdeburg kaum zum Einsatz kommt. Auch wenn es sich dabei um den aktuellen Tabellenführer handelt.
Der fehlende Spielmacher von internationalem Topformat ist ein Problem, das sich unabhängig von Weber schon seit Jahren im deutschen Handball zeigt. Zur Erinnerung: Bei der Heim-WM 2019 leitete mit Martin Strobel ein damaliger Zweitligaspieler die Geschicke auf Rückraum Mitte.
imago imagesWird Gislason also auch auf dieser Position in Zukunft eher einen jungen Spieler aufbauen? Mit dem 22-jährigen Luca Witzke vom SC DHfK Leipzig steht schon bei dieser EM ein interessanter Spieler im Kader, der allerdings von Corona ausgebremst wurde.
Und dann wäre da ja noch Juri Knorr, der bei den Rhein-Neckar Löwen zwar keine gute Saison gespielt hat, aber eigentlich als das Versprechen für die Zukunft gilt. Das Turnier in Ungarn und der Slowakei ließ er sausen, weil er sich nicht impfen lassen möchte.