Handball - Alfred Gislason im Interview: "Ich habe gelernt, die Leute nicht mehr sofort vor die Wand zu klopfen"

Felix Götz
17. Mai 201910:25
Alfred Gislason wechselte 2008 vom VfL Gummersbach zum THW Kiel.getty
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Alfred Gislason ist einer der größten Handball-Trainer aller Zeiten. Nun hat der 59-Jährige noch fünf Spiele vor der Brust, ehe seine elfjährige Ära beim THW Kiel zu Ende geht.

Vor dem EHF-Cup-Final-Four (Fr., ab 18 Uhr LIVE auf DAZN) haben SPOX und DAZN den Isländer in Kiel zum Interview getroffen. Gislason sprach dabei über die verbliebenen Chancen auf zwei weitere Titel, seinen Nachfolger Filip Jicha und seine Zukunftspläne.

Herr Gislason, täuscht der Eindruck oder werden Sie tatsächlich immer lockerer, je näher der Abschied vom THW kommt?

Alfred Gislason: Insgesamt bin ich deutlich lockerer geworden, das ist sicher so. Wenn aber die ganz wichtigen Momente anstehen, so wie jetzt das EHF-Cup-Final-Four, stelle ich fest, dass sich nichts geändert hat. Dann rutsche ich in diesen alten Tunnel und vergesse alles, was außen herum passiert.

Immerhin müssen Ihre Spieler aber längst keine "Beleidigungsstunden" mehr über sich ergehen lassen, oder?

Gislason: Meine Spieler haben früher - das hat schon auf Island angefangen und war auch in meinen ersten Jahren in Deutschland so - meine Sitzungen direkt nach Spielen als "Beleidigungsstunden" bezeichnet, weil ich mit meiner Kritik häufig viel zu weit gegangen bin. Ich habe mein Temperament erst mit der Zeit in den Griff bekommen und irgendwann gelernt, mir Spiele lieber erst nochmal auf Video anzuschauen, und nicht mehr die Leute sofort vor die Wand zu klopfen.

SPOX-Redakteur Felix Götz traf Alfred Gislason im THW-Kraftraum zum Interview.

Das Feuer in Ihnen ist aber nach wie vor in jeder Sekunde zu spüren. Wenn man Sie gerade in den jüngsten Partien an der Seitenlinie beobachtet hat, fällt es einem schwer zu glauben, dass Sie es lange ohne Handball aushalten könnten.

Gislason: Es laufen derzeit - auch hier intern beim THW - viele Wetten, dass ich es nicht einmal zwei Monate ohne Handball aushalte. (lacht) Mein Ziel ist aber, es zumindest bis 2020 zu schaffen. Dann kann ich mir sehr gut vorstellen, eine Nationalmannschaft zu übernehmen. Die Bundesliga kommt für mich allerdings nicht mehr in Frage, weil dieser Job unglaublich bindend ist.

Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass Sie nur noch für fünf Spiele Trainer des THW sind oder bleibt für solche Gedanken gar keine Zeit?

Gislason: Ich werde schon die ganze Saison über ständig darauf angesprochen, dass es zu Ende geht, zähle selbst die Spiele aber nicht herunter. Aber klar: Ich war 22 Jahre Bundesliga-Trainer, habe als Coach um die 1.200 Spiele auf dem Buckel. Jetzt daran zu denken, dass es tatsächlich nur noch fünf Spiele sind, fühlt sich schon komisch an. Richtig bewusst wird es mir wahrscheinlich aber erst, wenn es tatsächlich vorbei ist.

Es wurde im Laufe der Jahre viel über Ihre private Seite geschrieben. Sie seien Rosenzüchter oder begeisterter Angler. Was werden Sie in der anstehenden Pause denn nun wirklich machen?

Gislason: Ich war in meinem ganzen Leben nie ein Rosenzüchter. Das hat irgendwann mal jemand geschrieben und das wurde weitertransportiert. Richtig ist, dass ich einen riesigen Garten habe, in dem viele verschiedene Pflanzen wachsen. Und angeln war ich so gut wie nie, seit ich vor 22 Jahren Bundesliga-Trainer geworden bin. Ich lasse es mal auf mich zukommen, was ich machen kann. Sicher ist, dass ich mehr Zeit mit den Enkelkindern verbringen möchte.

Vor einigen Jahren haben Sie erzählt, dass Sie Sehnsucht nach Ihrer Heimat Island hätten. Nun bleiben Sie aber in Deutschland, in Ihrem Haus nahe Magdeburg. Warum soll doch nicht Island der Lebensmittelpunkt sein?

Gislason: Meine Frau und ich sind schon so lange hier, haben ein wunderschönes Haus, zwei meiner drei Kinder leben hier - wir sind in Deutschland einfach längst heimisch geworden. Logischerweise werden wir immer wieder für einen kurzen Besuch nach Island reisen, aber der Lebensmittelpunkt soll Deutschland bleiben.

Bevor es in den vorläufigen Ruhestand geht, könnten Sie mit Kiel in dieser Saison nach dem DHB-Pokalsieg noch EHF-Cup-Champion und sogar Meister werden. Kiel hat 16 Pflichtspiele in Folge gewonnen, zuletzt sogar gegen Spitzenreiter Flensburg. Was zeichnet Ihr Team derzeit aus?

Gislason: Unsere Stabilität. Die Jungs halten ihr hohes Niveau jetzt schon sehr lange. Und natürlich hilft es uns sehr, dass fast alle Mann gesund sind. So kann ich die Last auf viele Schultern verteilen.

Die Situation ist nach wie vor so, dass der THW alle seine Spiele in der Bundesliga gewinnen und auf einen Patzer der Flensburger hoffen muss. Die restlichen Gegner der SG sind Stuttgart, Berlin und der Bergische HC. Welchem Klub trauen Sie am ehesten zu, den Tabellenführer stolpern zu lassen?

Gislason: Das weiß man im Vorfeld nie. Aber ich glaube grundsätzlich, dass jeder dieser Gegner für Flensburg gefährlich werden kann. Was uns in die Karten spielen könnte, ist, dass zwei dieser Mannschaften noch um Europapokalplätze kämpfen und dringend Punkte benötigen.

Wie sieht es mit dem psychologischen Vorteil aus? Flensburg hat mittlerweile etwas zu verlieren, Kiel eigentlich nur etwas zu gewinnen.

Gislason: Ganz genau. Und wir haben aktuell das bessere Torverhältnis auf unserer Seite. Dennoch dürfen wir nicht vergessen, zunächst einmal unsere Spiele zu gewinnen. Ich schließe mich den Flensburgern an. Die haben neulich gesagt, dass sie zu 80 Prozent Meister sind. So sehe ich das auch: Wir haben eine Möglichkeit von 20 Prozent, noch Meister zu werden.

Wesentlich realistischer ist der Titel im EHF-Cup, oder?

Gislason: Auf jeden Fall. Aber auch da müssen wir erstmal liefern.

Bleibt dem THW irgendetwas anderes übrig, als die Favoritenrolle beim Final Four anzunehmen?

Gislason: Ich habe überhaupt kein Problem damit, die Favoritenrolle anzunehmen. Diese Rolle haben wir doch in den meisten Fällen schon eine halbe Ewigkeit. Wir genießen es, dieses Final Four in der eigenen Halle auszutragen, sind aber gleichzeitig gut beraten, vorsichtig zu sein. Ich erinnere nur an die letzte Saison, als Magdeburg beim Aus im Halbfinale gegen St. Raphael der Heimvorteil gar nichts genutzt hat.

Also gilt es, Holstebro am Freitag ernst zu nehmen. Wie ist der dänische Vertreter einzuschätzen?

Gislason: Das ist eine typisch dänische, technisch starke Mannschaft, die mit ihren überragenden Außenspielern sehr gute Tempogegenstöße läuft. Holstebro spielt insgesamt sehr schnellen Handball. Wenn wir nicht zu 100 Prozent konzentriert oder etwas zu lahm auf den Beinen sind, werden wir riesige Probleme bekommen.

Handball-Deutschland hofft natürlich auf ein Finale zwischen Kiel und Berlin. Die Füchse haben eine verkorkste Saison hinter sich und könnten mit dem EHF-Cup-Triumph einige Dinge geraderücken. Macht sie das besonders gefährlich?

Gislason: Fakt ist: Die Füchse müssen den EHF-Cup gewinnen, um in der kommenden Saison sicher im internationalen Geschäft dabei zu sein. Das macht die Füchse in der Tat sehr gefährlich. Sie hatten eine schwierige Saison - auch durch viele Verletzungen. Momentan sind sie aber nahezu komplett und damit eine sehr starke Mannschaft. Allerdings muss ich sagen, dass Porto alles andere als ein leichter Gegner für die Füchse ist. Der portugiesische Handball ist extrem auf dem Weg nach oben. Ich sehe in diesem Duell die Chancen bei 50 zu 50.

Sieben Mal deutscher Meister, sechs Mal deutscher Pokalsieger, drei Mal Champions-League-Sieger und einmal EHF-Cup-Champion: Sie haben als Trainer alles gewonnen. Welcher Stellenwert hätte dieser Titel zum Abschied?

Gislason: Es wäre für mich eine ganz besondere Sache, sich vor heimischer Kulisse mit diesem Titel verabschieden zu können. Vor 18 Jahren habe ich den EHF-Cup mit Magdeburg gewonnen, nun das noch einmal zum Abschluss zu schaffen, das hätte was.

Mit Filip Jicha steht Ihr Nachfolger in Kiel bereits fest. Was hat er unter Ihnen als Co-Trainer in den vergangenen Monaten noch dazugelernt?

Gislason: Ich weiß nicht, was er dazugelernt hat. Aber er ist insgesamt sehr weit in seiner Entwicklung als Trainer. Er ist schon jetzt ein sehr, sehr guter Trainer. Ich freue mich schon darauf, ihn in der kommenden Saison an vorderster Front zu erleben und mache mir überhaupt keine Sorgen um die Zukunft des THW.

Wird er denn viele Dinge anders machen als Sie?

Gislason: Ganz sicher wird das so sein - und das ist auch gut so. Filip hat viele verschiedene Einflüsse im Laufe seiner Karriere gehabt. Er hat sich von diesen unterschiedlichen Einflüssen manche Dinge abgeschaut, wird daraus seine Lehren gezogen haben und seinen eigenen Weg gehen.

Alfred Gislasons Stationen als Trainer

JahreVerein
1991 - 1997KA Akureyri
1997 - 1999SG VfL/BHW Hameln
1999 - 2006SC Magdeburg
2006 - 2008Island
2006 - 2008VfL Gummersbach
2008 - 2019THW Kiel