Als die besten Athleten der Welt bei der Leichtathletik-WM 2019 in Doha um die Medaillen kämpften, wurde ein Name schmerzlich vermisst: Usain Bolt. Genau zehn Jahre ist es her, dass der Stern des schnellsten Mannes aller Zeiten so hell erstrahlte wie niemals zuvor. SPOX blickt zurück auf die WM 2009 in Berlin - und magische 9,58 Sekunden.
Sie konnten einem nur leidtun, die Fotografen, die sich an jenem 16. August 2009 im Inneren der blauen Berliner Tartanbahn versammelt hatten. Gute 30 Meter hinter der Ziellinie hofften sie darauf, im altehrwürdigen Olympiastadion Zeugen eines geschichtsträchtigen Rennens zu werden. Die besonders Cleveren hatten sich sogar noch weiter hinten positioniert, fast schon in der Mitte der Linkskurve.
Doch mit dieser unfassbaren, im wahrsten Sinne des Wortes "unvergleichlichen" Geschwindigkeit von Usain Bolt an diesem lauen Sommerabend hatten auch sie nicht gerechnet.
Und so hatte es etwas Drolliges, als Bolt über die Ziellinie schwebte und sich, vom eigenen Weltrekord berauscht und kaum langsamer werdend, vom Schwung der vorigen einhundert Meter bis auf die Gegengerade tragen ließ. Die Fotografen nämlich hasteten verzweifelt hinterher, mit im Vergleich zu Bolt fast schon winzigen Schrittchen, die teuren Kameras aus dem Lauf heraus auf den Jamaikaner abfeuernd.
Meisterwerke der Technik, die ein menschliches Meisterwerk festhalten und verewigen sollten.
Es dauerte eine Weile, bis ihn das gute Dutzend rot gekleideter Fotografen endlich gestellt hatte, doch irgendwann war auch Bolt ausgetrudelt, zeigte seine berühmte Jubelpose und badete im Jubel der begeisterten Berliner Zuschauer. Als er sich wieder in Bewegung setzte, mussten auch die Paparazzi los, um ein paar Meter zwischen sich und den Goldjungen zu bringen - und angesichts des einen oder anderen eher rundlichen Torsos mochte man sich des Eindruck nicht erwehren, dass nicht nur Bolt in den vergangenen Sekunden eine persönliche Bestzeit aufgestellt hatte. Ihr Glück: Für seine Ehrenrunde ließ sich der neue Weltmeister insgesamt 20 Minuten Zeit.
Merke: Wer einen Usain Bolt einfangen will, für den ist kein Vorsprung zu groß.
Usain Bolt nach dem Olympiasieg von Peking: Was ist sein Limit?
Einen Vorsprung auf den Olympiasieger von Peking hatte sich 2009 auch Tyson Gay ausgemalt, zumindest beim Überqueren der Ziellinie im finalen Lauf um 21.35 Uhr Ortszeit. Einen Vorsprung hatte er sogar nach Berlin mitgebracht, wenn man so will, schließlich war der US-Amerikaner mit der Weltjahresbestzeit angereist: 9,77 Sekunden bedeuteten persönliche Bestzeit. Genau 0,02 Sekunden schneller war er damit als Bolt, nur ein Bruchteil eines Wimpernschlages - aber vielleicht genug für die Titelverteidigung?
Schließlich hatte Bolt alles andere als eine perfekte Vorbereitung gehabt, mit regnerischen und windigen Meetings, und dann war da ja noch der Eingriff am linken Fuß im April, als Bolt seinen BMW M3 in Jamaika in einen Graben gesetzt hatte und beim Verlassen des Wracks in Dornen getreten war. Die Form von Peking, die schien er nicht zu haben.
Überhaupt, Peking. Im "Vogelnest" der chinesischen Hauptstadt war Bolt fast genau ein Jahr zuvor zu Gold gesprintet, mit einer fast schon unerhörten Lässigkeit - und offenen Schnürsenkeln. Auf 9,69 Sekunden hatte er den Weltrekord damals gestutzt, obwohl er viele Meter vor dem Ziel ausgetrudelt war. Die versammelte Weltelite hatte er zu zweitklassigen Statisten degradiert, ja fast schon lächerlich gemacht.
Und überall auf der Welt Gedankenspiele angeregt: Wie schnell hätte er wohl laufen können, dieser 21-Jährige, der mit 1,96 Metern Körpergröße und 86 Kilogramm Körpergewicht daherkam, so ganz anders als die übrigen kompakten, ja teilweise fast schon bullig-gedrungenen Sprinter der vergangenen Jahre und Jahrzehnte. Hätten die 9,60 fallen können? Vielleicht sogar die 9,50?
gettyUsain Bolt in Berlin 2009: Ein Moment für die Ewigkeit
In Berlin sollte Bolt die Antwort geben. Betont locker präsentierte er sich bei der Vorstellung vor dem Start, machte seine üblichen Faxen und sprach noch ein "Let's go!" in die Kameras. Dabei hatte er im Halbfinale noch einen Fehlstart produziert. Typisch für die Frohnatur von der kleinen Karibikinsel, die sich vor dem Rennen noch ihre Leibspeise gegönnt hatte: Chicken McNuggets. McDonald's verleiht Flügel, man kennt das ja aus persönlicher Erfahrung zur Genüge.
"Ready." Ein letztes Ausschütteln der Muskulatur, dann das Zusammenkauern auf den Startblöcken. Den Kopf geneigt wie beim Gebet, vor den Augen nur noch der blaue Untergrund, so sie denn überhaupt geöffnet sind.
"Set." Kein Mucks plötzlich aus zehntausenden Kehlen. Acht zur Perfektion gedrillte Körper - und ein paar Nuggets - zum Zerreißen gespannt. Bereit, vom nächsten Geräusch "befreit" zu werden aus der eigenen Starre, sich nach vorn zu stürzen, der Ziellinie entgegen.
Ein Pistolenschuss. Ein kollektiver Aufschrei.
9,58 Sekunden später ist es vorbei. Und gleichzeitig ist es für immer.
Warum ist Usain Bolt so schnell?
Was macht Usain Bolt so schnell? Jahrelang zerbrechen sich Wissenschaftler die Köpfe darüber, warum dieser Mann eine "unmögliche" Zeit laufen kann - eine "natürliche" Entwicklung des Weltrekords hätte derartige Zeiten erst Jahrzehnte später überhaupt in Betracht gezogen. Um 0,11 Sekunden verbessert Bolt den Weltrekord in Berlin, einen derartigen Sprung hat es seit Beginn der elektronischen Zeitmessung noch nie gegeben.
Sind es die langen Hebel? Die großen Füße, die langen Zehen, die enorm langen Unterschenkel? Hat er einfach perfekte Voraussetzungen, so wie etwa ein Michael Phelps im Pool? Oder ist es sein Laufstil, der es ihm möglich macht, seine Kraft perfekt auf den Untergrund zu übertragen? Läuft er nicht nur schnell, sondern auch noch effizient?
Die Frage nach unerlaubten Hilfsmitteln muss gestellt werden. "Da brodelt das Adrenalin in den Adern - und wer weiß, was sonst noch alles", unkte Wolf-Dieter Poschmann nur Sekunden vor der neuen Weltbestzeit im ZDF. Jamaikas Kontrollen sind bekanntermaßen lax, sein Staffelgold von Peking verliert Bolt Jahre später, weil ein Teamkollege positiv getestet wird. Andererseits sind seine Tests im Vergleich zu vielen Konkurrenten, darunter auch Tyson Gay, zeit seiner Karriere immer clean.
Auch Folklore bietet eine Antwortmöglichkeit: In seiner Jugend muss Bolt Eimer mit Wasser nach Hause tragen, kilometerweit. "Das waren meine Gewichte", sagt er. "In meiner Heimat gibt es immer etwas: sich durch die Büsche schlagen, Fahrrad fahren, laufen. So trainiert man schon in jungen Jahren die Muskeln."
Oder sind es doch die Nuggets?
Usain Bolts Weltrekord 2009: Nichts ist unmöglich
Fest steht: Ist Usain Bolt erst einmal aus den Blöcken und in der Lage, seine PS auf die Bahn zu bringen, ist kein Kraut mehr gegen ihn gewachsen. Die zweiten 50 Meter sind es, in denen er seine Konkurrenz zermürbt - wo sie langsamer werden, scheint er an Geschwindigkeit zuzulegen. 41 Schritte sind es in Berlin genau, 2,43 Meter lang, mit jedem Schritt nimmt er seinen Gegnern so Zentimeter ab. 20 Meter vor dem Ziel erreicht er eine irrwitzige Höchstgeschwindigkeit von 44,72 km/h.
Wenn Bolt eine Schwäche hat, dann ist es sein Start, so heißt es - doch halt, auch das stimmt nicht. Für seine Verhältnisse ist Bolt nämlich ein ausgesprochen guter Starter: Ein Sprinter seiner Statur sollte gar nicht so schnell aus den Blöcken kommen.
In Berlin erwischt Bolt, wie er später sagt, den "perfekten Start". Bereits nach 20 Metern hat er Gay und Landsmann Asafa Powell, den früheren Weltrekordhalter, um ein paar Hundertstel hinter sich gelassen. Nach 40 Metern sind es sechs Hundertstel auf Gay, nach 60 Metern acht, dann zehn, im Ziel schließlich 13 Hundertstel.
So unglaublich ist seine Zeit an diesem Abend, dass ihm selbst die geschlagene Konkurrenz nicht böse sein kann. "Als ich die Zeit sah, wusste ich, dass ich zu ihm aufschließen muss", sagt Powell, "doch selbst nach dem Ziel konnte ich das nicht." Gay, der mit 9,71 Sekunden die drittschnellste Zeit der Geschichte läuft, sieht seinen Sport bestätigt: "Ich bin froh, dass er eine 9,5 laufen und zeigen konnte, dass es dem Menschen möglich ist. Leider war nicht ich es."
9,58 Sekunden. Unglaublich. Unmöglich.
Hätte Usain Bolt noch schneller laufen können?
Wie schnell diese Zeit wirklich war, lässt sich wohl am besten damit beschreiben: Selbst ein Usain Bolt kann diese Zeit nie wieder angreifen. 2012 läuft er im Finale von London 9,63 Sekunden, danach ist diese Dimension auch für ihn außer Reichweite. "Ich hatte das Gefühl, dass ich diese Zeiten sogar noch verbessern könnte. Das haben Verletzungen leider verhindert", sagt er.
Hätte er tatsächlich noch schneller laufen können? Fünf Tage vor seinem 23. Geburtstag traf Bolt in Berlin sehr gute, aber nicht perfekte Bedingungen an. 0,9 Meter Rückenwind/Sekunde trieben ihn an, erlaubt sind für offizielle Rekorde bis zu zwei Meter/Sekunde. Auch seine Reaktionszeit am Start war mit 0,146 Sekunden ausbaufähig. Powell brachte es auf 0,134 Sekunden, der fünftplatzierte Richard Thompson kam sogar nach 0,119 Sekunden aus den Blöcken.
Eine Zeit in Richtung 9,50 Sekunden wäre also nicht unmöglich. Und dann war da noch das Finish in Berlin: Im Vergleich zu Peking zog Bolt zwar durch, doch angesichts der abfallenden Konkurrenz schaute er schon vor der Ziellinie nach links zur Uhr - zu einhundert Prozent durchziehen musste er nicht. Wobei: Das musste ein Bolt in Topform eigentlich nie. Man vergleiche den Lauf in Berlin nur mit dem Olympia-Finale 2016 in Rio, als Bolt sich auf der "Zielgeraden" seiner Karriere befand, und über die ersten 80 Meter kämpfen musste wie nie zuvor.
Zu einem noch schnelleren Usain Bolt hat womöglich also nur eine Sache gefehlt: ein zweiter Usain Bolt.
Bei der Leichtathletik-WM in Doha wären die Veranstalter auch mit einem einzigen Bolt zufrieden. Zwar werden mit den Amerikanern Christian Coleman und Noah Lyles vielversprechende Talente in den Startblöcken stehen, doch noch fehlt ihnen die Überlebensgröße eines Usain Bolt - in Sachen Schnelligkeit und in Sachen Charisma. "Eines Tages wird da jemand sein, der meine Zeiten unterbieten sein", ist sich Bolt zwar sicher, aber wann das sein wird, das steht in den Sternen.
Jener Abend in Berlin, er dürfte für eine sehr lange Zeit einzigartig bleiben.
Man muss schließlich auch an die Fotografen denken.
Die 100-Meter-Weltmeister der letzten Jahre
WM | Sieger | Zeit (Sekunden) |
2001 | Maurice Greene (USA) | 9,82 |
2003 | Kim Collins (St. Kitts and Nevis) | 10,07 |
2005 | Justin Gatlin (USA) | 9,88 |
2007 | Tyson Gay (USA) | 9,85 |
2009 | Usain Bolt (Jamaika) | 9,58 |
2011 | Yohan Blake (Jamaika) | 9,92 |
2013 | Usain Bolt (Jamaika) | 9,77 |
2015 | Usain Bolt (Jamaika) | 9,79 |
2017 | Justin Gatlin (USA) | 9,92 |