"Er ist in meinem Blut ausgerutscht" - Alex Zanardi über Lausitzring-Unfall, The Pass & F1

Alexander Maack
09. Februar 201810:30
Alex Zanardi kämpfte sich zurück, nachdem er beide Beine verlor, und gewann Paralympics-Goldgetty
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Alessandro Zanardi scheiterte in der Formel 1, wurde zum Champcar-Helden, kam bei Williams nicht zurecht und verlor nach seiner Rückkehr zu den Indycars beide Beine. Im Interview vergleicht der BMW-Markenbotschafter Ralf mit Michael Schumacher, erklärt seinen Lebensweg, die unbedingte Motivation und seinen unbezwingbaren Willen, der ihn ins Cockpit zurückkehren, wieder siegen und schließlich bei den Paralympics zum Goldmedaillen-Gewinner werden ließ.

SPOX: Herr Zanardi, Ihr Leben hat für viele Menschen Vorbildcharakter. Die Geschichte wäre einen Hollywood-Film wert - oder gleich einen Mehrteiler. Lassen Sie uns das Drehbuch durchgehen: Nach unbefriedigenden Engagements in der Formel 1 bei Minardi und Lotus wechselten Sie im Jahr 1996 in die Staaten. Chip Ganassi, das Topteam der Champcar Serie, gab Ihnen ein Auto. Sie schlugen sich gut, gewannen zwei Rennen. Dann ging es zum letzten Saisonrennen in Laguna Seca und Sie versetzten die gesamte Motorsportwelt in Staunen.

Zanardi: Darauf bin ich unendlich stolz! Wenn man bei Youtube "The Pass" eingibt, wird mein Überholmanöver gezeigt. Ich hätte mir nie erträumen können, dass mir sowas passieren könnte. Ich muss zugeben, dass ich ziemliches Glück hatte. Mein Plan war ein ganz anderer. Ich wollte das Rennen vom Start weg gewinnen. Ich habe nicht eine Sekunde daran gedacht, als Zweiter ins Ziel zu kommen. Ich wusste, dass ich den Speed für den Sieg hatte. Ich stand auf der Pole Position, bin in den ersten Runden weggefahren. Dann hatte ich ein Problem: Blasenbildung auf den Reifen. Deshalb hat mich Bryan ein- und überholt.

SPOX: Sie fuhren anschließend mehr als 20 Runden hinter Bryan Herta her und kamen nicht vorbei.

Zanardi: Nach dem Reifenwechsel ist das Auto wiederauferstanden, ich war schneller als er. Aber ich war nicht schnell genug, um ein Überholmanöver zu kreieren. Ich hatte in den letzten Runden einen einzigen Gedanken: Sobald wir die weiße Flagge sehen und in der letzten Runde sind, wird er sich denken, er hätte es geschafft. Er hatte immerhin fast die gesamte Distanz in Führung gelegen. Ich wusste: Dann muss ich zuschlagen.

SPOX: Wieso waren Sie sicher, dass das Erreichen der letzten Runde etwas ändert?

Zanardi: Man denkt daran, wie das Team einen feiern wird, dass man endlich den Ruhm erhält, den man so lange verfolgt hat. Es war das letzte Saisonrennen, der perfekte Zeitpunkt für seinen allerersten Sieg. Wenn man anfängt so zu denken, wird man unvermeidlich etwas langsamer. Man will das Resultat sichern, bremst früher, lenkt vorsichtiger ein. Man will in der letzten Runde einfach keinen Fehler machen, durch den der Hintermann überholen kann.

SPOX: Also hat seine Vorsicht Ihnen den Sieg ermöglicht.

Zanardi: Dadurch hat er mir die Tür geöffnet. Ich habe in der Linkskurve vor dem Corkscrew voll draufgehalten und gehofft, dass er das Gaspedal etwas zu stark lupft. So kam ich ein bisschen näher an ihn heran, als ich es in den ganzen Runden davor hinbekommen habe. Ich wollte noch näher dran sein, habe mir aber gedacht, dass es reichen müsste. Als wir beim Corkscrew ankamen, setzte ich darauf, dass er wie in den vorherigen Kurven ein bisschen früher bremst. Ich wollte mein Auto innen reinrollen lassen, um ihn zu überholen.

SPOX: Genauso ist es gekommen.

Zanardi: Nur habe ich ein Problem gehabt: Ich konnte mein Auto nicht richtig auf dem Asphalt halten. Es fuhr einfach weiter geradeaus und ich rief: "Oh shit!" (lacht) Ich habe es geradeso geschafft, den Reifenstapel um ein paar Zentimeter zu verpassen. Das war glücklich. Ich muss gestehen: Dieses Manöver hat meine gesamte Karriere verändert. Den ganzen Winter über befassten sich alle Zeitschriften und Fernsehsendungen mit mir und meinem Überholmanöver. Ich war für die nächste Saison plötzlich der große Favorit auf den Titel. Von da an war für mich alles ganz einfach.

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SPOX: Sie haben sich in den Jahren 1997 und 1998 den Titel gleich zweimal gesichert. Danach wechselten Sie allerdings zurück nach Europa, zurück in die Formel 1. Warum? Sie waren bei Chip Ganassi der Starpilot schlechthin, Williams hatte Renault als Motorenhersteller gerade verloren und schien auf dem absteigenden Ast.

Zanardi: Das stimmt. Aber Williams führte schon Gespräche mit BMW. Der Vertrag war fast schon unterschrieben. Ich hatte deshalb die Gelegenheit, eine komfortable Saison zur Eingewöhnung in einer Art Übergangsjahr zu absolvieren. Im nächsten Jahr sollte BMW dazustoßen und Williams sehr viel stärker machen. Was später passiert ist, hat meine Annahme bestätigt: Juan Pablo Montoya hat die WM nicht gewonnen, aber er wurde Dritter und hat viele Rennen gewonnen. Das zeigt: Meine Wahl war sehr gut.

SPOX: Sie mussten allerdings nach dem Übergangsjahr 1999 ihren Platz für Jenson Button räumen.

Zanardi: Ich sage immer: Es ist meine Stärke, den richtigen Weg für mich zu wählen. Damals war es wohl noch nicht so. Ich habe von der Formel geträumt, seit ich ein kleiner Junge war. Als ich nach so vielen Jahren der Anstrengungen und des unglaublichen Erfolgs in den USA diese Möglichkeit bekam, konnte ich einfach nicht widerstehen. Ich war stärker von meinem Ehrgeiz getrieben statt von meiner Leidenschaft. Ich hatte den falschen Ansatz, um eine gute Beziehung mit Williams aufzubauen. Ich war zu schwach. Nicht, weil ich die Leute hätte schlechter behandeln müssen, sondern weil ich damals ein entschlosseneres Auftreten gebraucht hätte. Wenn man von etwas überzeugt ist, muss man auf den Tisch hauen und sagen, was man will.

SPOX: Frank Williams, Patrick Head und ihr Team schränkten Sie zu sehr ein?

Zanardi: Nein, nicht wirklich. Als ich ankam, war alles von Williams festgelegt. Aber sie hatten mich geholt, weil ich zweifacher Champion war. Sie wollten meinen Input, doch ich war zu bescheiden. Das Team um mich herum bestand aus großartigen Ingenieuren. Das war trotzdem nicht ideal, weil es nicht auf eine Person wie mich ohne wirkliche Formel-1-Erfahrung angepasst war. Von Anfang an ging es in die falsche Richtung, ich habe mich herunterziehen lassen. Statt zu reagieren, habe ich mir eingeredet, die Dinge würden von allein besser werden. Pustekuchen. Wenn man nichts tut, wird überhaupt nichts besser. Als ich das realisiert hatte und neu anfangen wollte, wurde ich nicht mehr als derselbe Alex Zanardi angesehen. Ich war nur noch die falsche Wahl, nicht gut genug für das Team. Von da an war es eine Qual bis zum Saisonende.

SPOX: Sie fuhren bei Williams im FW21, Ihr Teamkollege war Ralf Schumacher. Bis heute haftet ihm der Ruf an, "nur" der kleine Bruder von Rekordweltmeister Michael Schumacher zu sein, obwohl der das bessere Material hatte. Wie beurteilen Sie das Kräfteverhältnis der beiden Kerpener?

Zanardi: Ralf war nie ein vollkommener Fahrer so wie sein Bruder. Michael war immun gegenüber sämtlichen Einflüssen. Er hat immer das Beste geliefert, zu dem er fähig war. Und das war nichts anderes als das Beste. Ralf war allerdings nicht langsamer als sein Bruder. Ich habe von ihm verblüffende Dinge gesehen mit dem Williams. Er war vielleicht nicht so schwach wie ich in dem Jahr, aber er war auch nicht so stark wie sein Bruder. Um ihn herum musste alles stimmen, damit er sein Bestes abrufen konnte. Sobald das so war, war Ralf unbezwingbar. Sogar Juan Pablo Montoya hatte Probleme mit ihm und der ist ein richtiger Motherfucker. Sorry, für den Ausdruck.

SPOX: Das hört sich eher nach einem Lob für den Kolumbianer an.

Zanardi: Was ich damit meine: Selbst wenn man ihm die Hinterreifen an die Vorderachse montieren würde und die Vorderreifen an die Hinterachse, wäre er immer noch genauso schnell. Er ist ein höchst talentierter Kerl. Er steigt ein, passt sich an alles an und sorgt dafür, dass das Auto schnell ist. Das hat man die letzten beiden Jahre in der Indycar-Serie gesehen: Nach seinem Comeback in der Saison 2014 siegte er beim Indy 500, in der Saison 2015 und wurde Vizemeister. Und dabei ist er nicht mehr der Juan Pablo Montoya, der er früher war. Auch wenn er immer noch eine richtig schnell Rennmaschine ist.

SPOX: Sie selbst sind ebenfalls nach Ihrer Zeit in der Formel 1 wieder in die USA zurückgekehrt. Mo Nunn Racing gab Ihnen für die Saison 2001 ein Auto, Sie hatten ein schwieriges Jahr, fuhren nur bei drei von 14 Rennen in die Top 10. Dann kam der 11. September, die CART-Serie nannte die vier Tage später stattfindende Premiere auf dem Eurospeedway Lausitz kurzerhand in American Memorial 500 um und Sie fuhren plötzlich ganz vorne mit. Zwölf Runden vor dem Ende kamen Sie als Führender zum letzten Boxenstopp. Dann der GAU: Bei der Ausfahrt verloren Sie die Kontrolle über das Auto, drehten sich auf der Strecke vor Turn 1 und wurden seitlich von Alex Tagliani getroffen. Sie wurden schwer verletzt, wurden per Helikopter in die Berliner Charite geflogen, drei Stunden lang notoperiert, die Ärzte amputierten beide Beine. Welche Erinnerungen haben Sie noch an den Tag?

Zanardi: Leider nicht viele. Bei so einem Trauma ist es normal, dass man nicht nur die Ereignisse des Tages vergisst, sondern auch die der Tage davor. Deshalb erinnere ich mich an kaum etwas. Ich habe vage Bilder von unserem Hotel im Kopf. Was ich festhalten muss: Der Unfall war kein dunkler Moment meiner Karriere. Es war einer der leuchtendsten Augenblicke.

SPOX: Weil Sie überlebt haben?

Zanardi: Ich habe etwas überstanden, das nicht nur entgegen jeder Wahrscheinlichkeit ist. Laut Wissenschaft hatte ich nicht den Hauch einer Chance. Alle Wissenschaftler haben ausschließlich meinen Tod vorhergesagt. In den Büchern stand, dass niemand solche Verletzungen überleben kann. Dass ich es geschafft habe und noch dazu nicht nur zurück-, sondern dahingekommen bin, wo ich heute stehe - man kann das nicht selbstverständlich voraussetzen. Es ist fantastisch.

SPOX: Fantastisch in allen Facetten der Wortbedeutung: bizarr, phänomenal, unvorstellbar.

Zanardi: Als ich einige Tage nach dem Unfall im Berliner Krankenhaus aufgewacht bin, wusste ich nicht, was ich durchgemacht hatte. Irgendwie habe ich es trotzdem gefühlt. Ich hatte Schmerzen, aber ich war vom ersten Moment an glücklich, am Leben zu sein. Das ganze Wochenende war im Nachhinein betrachtet ein großartiges. Zusätzlich war es meine Rache an dem Jahr. Ich habe geführt, ich bin großartig gefahren - und ich hätte mit größter Wahrscheinlichkeit gewonnen. Ich habe mir damit selbst bewiesen, dass ich noch immer ein guter Fahrer war, mit dem Lenkrad umgehen und das Beste aus dem Auto herausholen konnte. Und es hat mich verändert.

SPOX: Wie?

Zanardi: Es klingt absurd, aber ich schwöre, dass es wahr ist. Ich habe Bier nie gemocht. Ich stamme aus Bologna. Wer da volljährig wird, macht einmal im Leben im späten September ein Auto voll, fährt nach München und vergnügt sich auf dem Oktoberfest. Meine Freunde haben mich immer eingeladen, aber ich bin nie mitgefahren. Ich mochte ja kein Bier. Nach meinem Unfall habe ich so viel deutsches Blut bekommen, dass ich plötzlich Bier liebe. (lacht) Ich bin mir sicher: Das liegt an meinem deutschen Blut. Ich liebe Bier!

SPOX: Sie betonen immer wieder, wie dankbar Sie den Ärzten für deren Arbeit sind. Sie besuchen bis heute die Charite, wenn Sie in Berlin sind. Die Erstretter dürften Sie erstmals getroffen haben, als Sie beim Rennen in Toronto 2003 die Zielflagge geschwenkt haben. Wie lief das Wiedersehen ab?

Zanardi: Ich musste das ganze Gespräch allein führen. (lacht) Terry Trammell ist am Lausitzring als Erster am Unfallort gewesen, er ist vom Safety-Truck gesprungen und ausgerutscht. Er dachte, es wäre Öl. Es war mein Blut. Als ich ihn ein Jahr später getroffen habe, war er sprachlos. Er hat kaum ein Wort herausgebracht. Ich habe ihm gesagt: "Terry, alles ist in Ordnung. Schau mich an! Mir geht es gut. Ich verdanke dir mein Leben. Alles ist cool. Willst du dir meine Wunden ansehen?" Er wollte. Also habe ich mich hingesetzt, meine Prothesen abgenommen und er ist wortwörtlich kollabiert.

SPOX: Wie genau?

Zanardi: Er ist auf einen Stuhl gefallen und hat angefangen zu weinen. Ich fragte ihn, warum. Er antwortete: "Alex, heute Nacht werde ich erstmals seit einem Jahr gut schlafen." Erst in dieser Sekunde habe ich realisiert, was er selbst nach dem Unfall durchstehen musste. Es war nicht einfach sein Job. Er hat versucht, einem Freund das Leben zu retten und er wusste, dass es aussichtslos ist. Er wusste, sein Freund würde sterben. Sein im Studium erworbenes Wissen und seine Erfahrung als Arzt hatten ihm beigebracht, dass es keine Möglichkeit gab, mich zu retten. Er hat es trotzdem versucht. Hartnäckig. Und er hat einen Mordsjob gemacht. Für ihn war es wahrscheinlich das größte Geschenk seines Lebens, als er in Toronto realisiert hat, was er mir mit seiner Arbeit gegeben hatte.

SPOX: Sie erzählen so nonchalant von diesem Schicksalsschlag. Ich glaube, dass dadurch eine Haupteigenschaft Ihres Charakters deutlich wird: Sie kümmern sich nicht um Hindernisse, Sie kämpfen darum, das Maximum aus dem zu machen, was Ihnen gegeben ist. Nach der Amputation kehrten Sie in den Rennsport zurück. Sie absolvierten die letzten Runden am Lausitzring in einem zeremoniellen Akt im Jahr 2003, Sie fuhren bei BMW ab der Saison 2004 Tourenwagen, gewannen am 24. August 2005 das WM-Rennen in Oschersleben, drei weitere WTCC-Siege folgten. Zusätzlich fuhren Sie nochmals einen Formel-1-Wagen, den BMW-Sauber im November 2006. Nebenbei begannen Sie mit dem Handcycling, was bei den Paralympischen Spielen 2012 in London in einem Triumph endete: Sie holten gleich zwei Goldmedaillen. Das Bild, wie Sie auf der Zielgeraden von Brands Hatch sitzen und Ihr Bike in die Luft halten, ging um die Welt. Sie wurden zu einem Vorbild für Millionen.

Zanardi: Ich kann es nicht verhindern, dass mich Menschen als Vorbild sehen. Ich bin stolz darauf, wenn jemand sagt, dass ihn meine Geschichte zu seinen Leistungen inspiriert hat. Ich habe aber kein Recht, irgendwem zu sagen, er solle sich mein Leben angucken und daraus Lehren ziehen. Es ist auch nicht meine Pflicht. Ich schreibe meine Geschichte einfach weiter, täglich. Wenn dann jemand zu mir kommt und sich für die Inspiration bedankt, kann ich nur "Dankeschön" sagen und zusehen, dass ich diesen Weg weitergehe.

SPOX: Es klingt, als seien Sie mit der öffentlichen Sichtweise nicht ganz einverstanden.

Zanardi: Ich habe damit kein Problem. Ich kann nachvollziehen, warum es so ist. Ich habe es selbst während meiner Rehabilitation erlebt. Ich hatte glücklicherweise keine psychischen Probleme. Warum? Ich habe während der schwierigsten Phasen mit Menschen geredet, die auch zwei Beine verloren hatten. Dass die Doktoren mir sagten, alles würde gut werden, war in Ordnung. Aber mit Menschen zu reden, die diesen Weg bereits gegangen waren und auf ihren Prothesen vor mir standen - das war inspirierend für mich.

SPOX: Wieso?

Zanardi: Ich habe die Parallelen zwischen uns gesehen und mir gesagt: "Wenn sie es geschafft haben, dann kann ich es auch. Ich bin ein Mensch im besten Alter, ich habe genug Geld auf der Bank, um mir nicht jeden Tag Sorgen machen zu müssen, wie ich meine Familie ernähre. Es gibt keinen Grund, warum ich es nicht schaffen sollte." Diese positive Einstellung hat mir ermöglicht, mein heutiges Leben aufzubauen, mit dem ich sehr, sehr zufrieden bin. Ich kann allen nur raten: Guckt euch nicht nur Alex Zanardi an! Nutzt die Flexibilität eurer Nackenmuskulatur und schaut euch um! Es gibt so viele Vorbilder im Alltag: eine Mutter, die aufwacht, sich schlecht fühlt, ihren Kindern trotzdem Frühstück macht und dann zur Arbeit geht. Sie ist ein viel größeres Vorbild als ich. Man muss es nur erkennen.

SPOX: Sie probieren sich in den letzten Jahren an vielem aus, suchen immer wieder neue Herausforderungen. In der Saison 2014 starteten Sie für BMW in der Blancpain Endurance Series in einem GT3, bei den 24 Stunden von Spa 2015 gingen Sie zusammen mit Timo Glock und Bruno Spengler in einem Z4 an den Start. "Nebenbei" haben Sie 2016 Ihren zweiten Ironman absolviert. Für sämtliche Athleten ist dieser Wettbewerb eine Tortur, 200 km in weniger als zehn Stunden - kam Ihnen dabei jemals der Gedanke: 'Was mache ich hier überhaupt?'

Zanardi: Diesen Punkt erreicht man immer. Wenn man süchtig nach Sport ist, vergisst man dieses schlechte Gefühl aber direkt wieder. Am nächsten Tag macht man weiter. Das ist wie bei einer Frau, die ein Kind gebärt: Sie haben höllische Schmerzen, aber die Natur lässt sie das vergessen. Sonst würde keine Frau ein zweites Baby bekommen. Natürlich ist der Ironman die Extremsituation schlechthin. Aus technischer Sicht habe ich es aber leichter als jeder Athlet ohne Einschränkung. Das Schwimmen und das Fahren mit dem Handbike durchzustehen, ist für einen Menschen mit meinem Grad der Behinderung schwerer. Aber danach wechsle ich auf den olympischen Rollstuhl und das Rennen wird einfacher.

SPOX: Das müssen Sie erklären.

Zanardi: Ich bin nach dem zweiten Abschnitt mit dem Handbike erschöpfter als am Ende des gesamten Ironman. Bei einem Menschen ohne Behinderung ist das genau andersherum. Einen Marathon zu laufen widerspricht an sich schon der Natur. Das aber am Ende des Ironman zu machen, ist einfach verrückt. Klar gibt es leichtere Dinge als einen Marathon mit dem olympischen Rollstuhl - zu Hause Pizza für meine Freunde zu backen, ist einfacher. Aber mit dem Rollstuhl ist das Ende einfacher zu absolvieren wie für einen Läufer. Also ist es für mich verglichen mit einem Menschen ohne Einschränkung leichter, die gesamte Distanz zu absolvieren.

SPOX: Beim Berlin-Marathon 2015 gingen Sie im Vorfeld erstmals mit speziellem Handbike an den Start, das für diese Veranstaltung vorgeschrieben ist. Ist das eine Art Sucht nach Neuem?

Zanardi: Als ich mich beim Berlin-Marathon angemeldet habe, war in meinem Hinterkopf der Gedanke, dass die dort verwendete Art des Handbikes besser für den Ironman sein könnte. Man überträgt zwar weniger Kraft, ist durch die liegende Position aber viel aerodynamischer. Ich wollte ausprobieren, ob es wirklich besser ist. Ich wusste, dass ich den Marathon kaum gewinnen kann, weil ich in der Disziplin ein Anfänger war. Trotzdem wollte ich wissen, wo ich mit ein bisschen Training im Vergleich zu den Besten stehe.

SPOX: Sie haben das Fahrrad aber nicht in Hawaii eingesetzt.

Zanardi: Schon nach den ersten Trainingseinheiten wusste ich, dass dieses Rad für 180 Kilometer in Hawaii nicht geeignet ist. Ich habe gedacht: 'Einmal in meinem Leben kann ich etwas aus Spaß machen.' Mein Rennen war gut. Ich bin in der Spitzengruppe gefahren, bis die Kette absprang und ich sie wieder drauffummeln musste. Das hat mich mit Stolz erfüllt. Ich hätte dieses Rennen aber unter Garantie nicht gewonnen. Für einen Sprint war ich nicht trainiert. Neun Kilometer vor dem Ziel ist die Kette komplett gerissen, wahrscheinlich weil ich vorher zu stark daran gezogen habe. Dann habe ich halt mit den Händen geschoben. Viele Leute haben darin eine heroische Leistung gesehen, das war es aber überhaupt nicht. Es war Sonntagnachmittag und ich wollte es einfach unbedingt ins Ziel schaffen - irgendwie.

SPOX: Was treibt Sie dazu, sich dauerhaft diesen Herausforderungen zu stellen, Neues auszuprobieren, sich mit 49 Jahren täglich beim Training zu quälen? Aktuell befinden Sie sich mitten in den Vorbereitungen für die Paralympics in Rio.

Zanardi: Ich würde sagen: Ich bin von Leidenschaft getrieben. Die Leute projizieren verschiedene Qualitäten auf mich, von denen ich sicher bin, dass ich sie nicht habe. Aber eine, die ich wirklich habe, ist Entscheidungen zu treffen, in welche Richtung ich gehen will. Ich bin sehr neugierig. Diese Neugier öffnet einem die Augen und zeigt viele verschiedene Möglichkeiten. Wenn man genau weiß, in welche Richtung man gehen will, ist es sehr einfach, jeden Tag als neue Möglichkeit zu begreifen, um mit dem Projekt voranzukommen. Es ist einfach, weil ich es leidenschaftlich mache und daran Spaß habe. Für mich sind die Paralympischen Spiele 2016 eine sehr gute Entschuldigung, um etwas täglich zu tun, das ich liebe: das Training mit meinem Handbike. Ich trainiere nicht, um nach Rio zu fahren. Ich fahre nach Rio, weil ich trainieren will.